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Europäische Verträge

EU-Verfassung jetzt eben ohne Volksabstimmungen

Was war der Kern des Problems auf dem EU-Gipfel? Nach dem Scheitern der europäischen Verfassung durch die ablehnenden Referenden der Franzosen und der Niederländer musste ein Weg gefunden werden, die Krise und den Stillstand mit einem neuen Verfahren zu überwinden. Die Ziele des Verfassungsvertrages sollen jetzt unter einer neuen Überschrift „Reformvertrag“ und unter Umgehung von Volksabstimmungen weiter verfolgt werden. Hinter den öffentlich hochgespielten Konflikten und den dabei gefundenen Kompromissen ist die Tatsache verdeckt geblieben, dass die 27 EU-Staaten in Brüssel ein Mandat für eine Regierungskonferenz erteilt haben, die den dann nicht mehr Verfassung genannten (etwas ausgedünnten) Vertrag unter portugiesischem Vorsitz nun im Eiltempo aushandeln soll, so dass er auf dem Oktobergipfel beschlossen werden kann – und zwar nur von den Regierungschefs und ohne weitere Volksabstimmungen. Das eigentliche Ergebnis des Gipfels lautet: „Die EU-Verfassung ist tot. Lang lebe die EU-Verfassung!“ Wolfgang Lieb.

Angela Merkel möchte den Verfassungsprozess bis 2009 abgeschlossen haben. Das globalisierungskritische Netzwerk Attac hat 10 Prinzipien für einen demokratischen EU-Vertrag aufgestellt.

Das globalisierungskritische Netzwerk Attac sieht in der jetzigen Form der Europäischen Union eine ernsthafte Bedrohung für demokratische Errungenschaften, Grundrechte, soziale Sicherheit, Geschlechtergleichstellung und ökologische Nachhaltigkeit. Zudem leide die Union an einem Mangel an Demokratie, Legitimität und Transparenz und beruhe auf einer Reihe von Verträgen, die den Mitgliedsstaaten und der ganzen Welt eine neoliberale Politik aufdrängen. Der vorgeschlagene Verfassungsvertrag stelle keine Verfassung im strengen Sinn dar, sondern es handele sich um eine Zusammenfügung und Weiterentwicklung früherer Verträge und Rechtsnormen. Das Netzwerk hat in länderübergreifender Zusammenarbeit 10 Prinzipien für einen demokratischen EU-Vertrag erarbeitet und das Ergebnis [PDF – 84 KB] am 11. März veröffentlicht. Christine Wicht referiert.

Die Verlierer des wirtschaftsliberalen Kurses rächen sich an Europa

Sowohl in Frankreich als auch in den Niederlanden wird das Nein der Bevölkerung zum europäischen Verfassungsvertrag überwiegend als Abstrafung der jeweiligen Regierungen interpretiert. Wenn man dieser Logik folgt, müsste man sogar noch weiter gehen und sagen, die Ablehnung ist Ausdruck der Unzufriedenheit mit allen größeren Parteien sei es von links oder eher von rechts. In Frankreich warben schließlich die konservativen Regierungsparteien genauso für ein „Oui“, wie der größere Teil der Sozialisten. In den Niederlanden waren alle, bis auf einige populistischen Gruppierungen für ein „Ja“. Könnte es vielleicht mit der Verdrossenheit der Verlierer einer wirtschaftsliberalen Politik, die ja in beiden Ländern von allen größeren Parteien mit graduellen Unterschieden propagiert wird, zusammenhängen, dass nun die Mehrheit an Europa Rache genommen hat?

Die ´´volonté générale´´ für ein liberales Europa steht für die politische Klasse über dem Volkswillen der Franzosen

Die Interpretation des Volkswillens ist ein schwieriges Geschäft. Das weiß man schon seit Rousseaus Unterscheidung zwischen der „volonté générale“ als dem über die individuellen Interessen hinausgehenden Gemeinwillen und der „volonté de tous“ als der unmaßgeblichen Summe bloßer Einzelinteressen. Folgt man den Äußerungen der europäischen politischen Klasse, so war die Volksabstimmung in Frankreich über den Vertrag der EU-Verfassung nur eine momentane Addition von ganz unterschiedlichen und daher im rousseauschen Sinne unmaßgeblichen Willensbekundungen.

Der Entwurf für eine “EU-Verfassung”

Wenn man bedenkt, wie intensiv in der Öffentlichkeit etwa über die europäische Dienstleistungsrichtlinie diskutiert wird, wundert man sich schon, wie nahezu ohne öffentliche Debatte die künftige europäische Grundordnung verabschiedet werden soll, die in weiten Teilen unser Grundgesetz ändert, modifiziert und in seiner künftigen Rechtsauslegung bestimmen wird.
Im Gegensatz zum wirtschaftspolitisch neutralen Grundgesetz schreibt die EU-Verfassung auf vielen Feldern wirtschaftsliberale Grundsätze fest, sie weicht seinen Sozialstaatsgedanken auf, leistet u.a. einer weiteren Chancenungleichheit in der Bildung Vorschub oder kehrt seinen defensiven Verteidigungsauftrag um, indem sie militärische Kampfeinsätze (auch der Bundeswehr) zum integralen Bestandteil der künftiger europäischer Außenpolitik macht.

Ein Beitrag von Christine Wicht und Carsten Lenz.

Die Bolkestein-Direktive wird unverändert umgesetzt

Zusammenfassender Bericht eines Kommentars von Antoine Rémond, Professor an der Pariser Universität Paris-XIII und Mitglied des ökonomischen Wissenschaftszentrums Paris-Nord, in Le Monde vom Samstag, dem 9.4.2005, von Gerhard Kilper.