Die Primitivität der öffentlichen Debatte ist offenbar noch steigerungsfähig

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Herausragender Beleg für diese Entwicklung ist die Weihnachtansprache des Bundespräsidenten. Am Weihnachtsfeiertag kam uns auch ein Beitrag von Gert G. Wagner zu Familie, Elterngeld und Erziehung auf den Tisch. Wer sich dafür interessiert, auf welchem dürftigen Niveau sich die öffentliche Debatte zu wichtigen Themen vollzieht, sollte sowohl die Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten als auch diesen Beitrag lesen. Auszüge:

Es geht hier nicht um die Person von Gerd G. Wagner. Es geht um den Einfluss dieses Denkens. Wagner ist Forschungsdirektor am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung und Professor an der TU Berlin, er ist immerhin Vorsitzender der Sozialkammer der Evangelischen Kirche, Vertrauensdozent der Friedrich-Ebert-Stiftung und tätig in vielen Gremien und Kommissionen mit Einfluss auf die Familienpolitik.

Ich zitiere einige Passagen und kommentiere kurz in kursiv:

“Familienpolitik sollte künftig noch mehr als in den letzten Jahrzehnten gestaltend in Lebensentwürfe und Lebensläufe eingreifen. Das Leitbild von der freien Gesellschaft, in der jeder am besten weiß, was für ihn und seine Kinder richtig ist, ist passé.“

AM: So falsch ist die Beobachtung, dass Gesellschaft und Staat sich um die Entwicklung von Kindern kümmern sollten, nicht. Auch die ergänzende Äußerung von Wagner, die Politik habe viele Kinder und Jugendliche mit ihren Problemen alleine gelassen, ist richtig. Wie der Autor aber auf die Idee kommt, das hinter diesem Nichtstun steckende Leitbild sei passé, verstehe ich nicht. Immerhin hatte Bundeskanzlerin Merkel gerade als Motto verkündet: „Freiheit wagen“. Und die damit verbundene Ideologie bestimmt unsere gesellschaftspolitische Diskussion.

„Mit dem geplanten und umstrittenen Elterngeld will die Bundesregierung in die Lebensläufe der Eltern aktiv eingreifen. Der Transfer wird – scheinbar unsozial – für Gutverdienende höher sein als für Eltern mit niedrigem Einkommen, damit sich wieder mehr gut ausgebildete junge Leute für Kinder entscheiden. Vom so langfristig ausgelösten Wirtschaftswachstum werden dann auch weniger gut Verdienende profitieren.“

AM: Dass das Elterngeld für gut Verdienende höher sein soll als für Eltern mit niedrigem Einkommen wird als „scheinbar unsozial“ gekennzeichnet. Scheinbar. Beachtlich! Noch beachtlicher ist die Behauptung, wenn gutausgebildete junge Leute mehr Kinder bekämen, dann würde das langfristig ein besonderes Wirtschaftswachstum auslösen. Wie denn das? Steckt dahinter die Theorie, dass die Kinder von Besserverdienenden intelligenter und wachstumsträchtiger seien? Und davon würden dann auch die weniger gut Verdienenden profitieren? Insgesamt abenteuerlich!!

„Die Abwesenheit der Väter in der Erziehung ist übrigens ein neues Phänomen der Industriegesellschaft. Jahrtausendelang lebten und arbeiteten Familien eng zusammen, die Väter kümmerten sich auch um die Kinder. In der Bibel wird das oft an Vater-Sohn-Konflikten deutlich.“

AM: Dass der Autor bis zum Jahr 2005 gebraucht hat, um zu merken, dass Väter in der Industriegesellschaft häufig als Betreuer der Kinder ausfallen, kann man nur als bemerkenswert bezeichnen. Ich nehme an, dass man dies auch schon 1905 wusste.

Nicht durch Gesetze, aber durch Handeln vor Ort muss sich der Staat mehr um Kinder kümmern, deren Eltern ihnen nicht die beste Erziehung zukommen lassen. Ich prognostiziere, dass Kinderärzte stärker mit den Kommunen zusammenarbeiten werden, und dass durch ein flächendeckendes Vorschulangebot viel früher als bislang Bildungsdefizite ausgeglichen werden. Schuld an den Defiziten sind im Übrigen nicht nur die Eltern selbst, sondern die modernen Familienstrukturen mit weniger Geschwistern und Verwandten als früher. Überspitzt gesagt: Betreuerinnen und Lehrer werden mehr und mehr Rollen einnehmen, die früher Großmütter und Onkel spielten.

AM: Hier ist manches wieder richtig beobachtet. Allerdings heute erst festzustellen, dass Schuld an den Defiziten die modernen Familienstrukturen mit weniger Geschwistern und Verwandten seien, ist wiederum erstaunlich. Dazu ist zum einen anzumerken, dass die Kleinfamilien nun wirklich nicht ganz neu sind. Außerdem dürfte es andere und viel gewichtigere Ursachen für die Bildungsdefizite geben als das Fehlen der Geschwister, Onkel und Großmütter. Vom Fernsehen und Multimedia spricht der Autor sonderbarer Weise nicht. Wenn man schon Schuldige festmachen will, muss man sich auf jeden Fall mit dem Medienkonsum der Kinder und Jugendlichen beschäftigen.