Bundesverfassungsgericht hilft Bundesregierung bei der Griechenlandhilfe aus der Patsche und erhebt die Maastricht-Regeln auf Verfassungsrang

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Durch eine eigenmächtige Umdeutung des Wortlauts des Euro-Stabilitätsgesetzes retten die Karlsruher Richter die Bundesregierung vor dem politischen Desaster, bei der Griechenlandhilfe gegenüber den europäischen Partnern einen Rückzieher machen zu müssen. Andererseits erhebt das höchste Gericht die dem Maastricht-Vertrag zugrundeliegende ökonomische Lehre des Monetarismus geradezu auf Verfassungsrang und verbaut damit einer makroökonomischen Zusammenarbeit auf dem Feld der Finanz- oder Wirtschaftspolitik in einer Währungsunion unter Berufung auf das Grundgesetz den Weg. Von Wolfgang Lieb

Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerden der fünf Euro-Gegner Wilhelm Hankel, Wilhelm Nölling, Karl Albrecht Schachtschneider, Dieter Spethmann und Joachim Starbatty und Peter Gauweiler zurückgewiesen.

Die fünf Beschwerde führenden Professoren und der CSU-Politiker sehen u.a. durch das Währungs-Finanzstabilitätsgesetz, mit dem finanzielle Hilfen für Griechenland und andere Mitglieder der Europäischen Währungsunion gewährt werden sollen, durch den Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) und die Einrichtung einer Zweckgesellschaft zur Abwicklung der Rettungsmaßnahme das Grundgesetz für verletzt an und sie beklagten darüber hinaus die Praxis der Europäischen Zentralbank Staatsanleihen der in Refinanzierungsprobleme geraten EWU-Staaten aufzukaufen.

Im Zentrum der Beschwerde stand der Vorwurf, dass mit dem Gesetz zur Stabilisierung des Euro der deutsche Gesetzgeber seine Haushaltshoheit (Budgetrecht) (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) weitgehend aufgegeben habe und durch die Finanzhilfen eine Transferunion geschaffen würde, durch die das Geldvermögen der Deutschen wegen der dadurch entstehenden Inflationsgefahren geschädigt werde (Art. 14 GG). Außerdem verstoße der Euro-Stabilisierungsmechanismus gegen das europäische Vertragswerk selbst.

Die Richter sehen durch die Ermächtigung zur Übernahme von Gewährleistungen (Kreditgarantien) keine so massiven Auswirkungen auf die Geldwertstabilität, dass eine justiziable Verletzung der Eigentumsgarantie nach Art. 14 GG in Betracht käme (Rdnr. 112). Auch die Klage gegen eine außervertragliche Änderung der Rechtsordnung der Europäischen Gemeinschaft hält das Gericht schon deshalb für unzulässig, weil die Beschwerdeführer nicht hinreichend substantiiert dargelegt hätten, inwieweit die Rechte des Gesetzgebers nicht gewahrt worden seien.

Im Übrigen seien die Mitwirkungshandlungen der Bundesregierung an den Beschlüssen des Rates der Europäischen Union keine von den Klägern mit einer Verfassungsbeschwerde angreifbaren Akte öffentlicher Gewalt. Auch gegen den Aufkauf von Staatsanleihen Griechenlands durch die EZB hätten sie keine Klagebefugnis.

Soweit die Verfassungsbeschwerden zulässig seien, seien sie unbegründet: „Gegen das Währungsunion-Finanzstabilitätsgesetz und das Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus bestehen keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken“, stellte das Bundesverfassungsgericht lapidar fest.

Um so mehr wird das Haushaltsrechts des Parlaments in den Verfassungshimmel gehoben:
Das Budgetrecht des Parlaments stelle ein zentrales Element demokratischer Willensbildung dar. Die Hoheit über den Haushalt sei der Ort konzeptioneller politischer Entscheidungen über den Zusammenhang von wirtschaftlicher Belastung und staatlich gewährter Vergünstigungen. Dieses Kontrollrecht bestünde auch in einem System intergouvernementalen Regierens, also auch gegenüber internationalen und europäischen Verbindlichkeiten. Diese Budgetverantwortung dürfe der Bundestag auch nicht durch „unbestimmte haushaltspolitische Ermächtigungen“ auf andere übertragen. Das Demokratieprinzip sei verletzt, wenn die Festlegung über Art und Höhe der den Bürger betreffenden Abgaben der Dispositionsbefugnis des Bundestages entzogen würde:

„Aus der demokratischen Verankerung der Haushaltsautonomie folgt jedoch, dass der Bundestag einem intergouvernemental oder supranational vereinbarten, nicht an strikte Vorgaben gebundenen und in seinen Auswirkungen nicht begrenzten Bürgschafts- oder Leistungsautomatismus nicht zustimmen darf, der – einmal in Gang gesetzt – seiner Kontrolle und Einwirkung entzogen ist. Würde der Bundestag in erheblichem Umfang zu Gewährleistungsübernahmen pauschal ermächtigen, könnten fiskalische Dispositionen anderer Mitgliedstaaten zu irreversiblen, unter Umständen massiven Einschränkungen der nationalen politischen Gestaltungsräume führen…Jede ausgabenwirksame solidarische Hilfsmaßnahme des Bundes größeren Umfangs im internationalen oder unionalen Bereich muss vom Bundestag im Einzelnen bewilligt werden. Soweit überstaatliche Vereinbarungen getroffen werden, die aufgrund ihrer Größenordnungen für das Budgetrecht von struktureller Bedeutung sein können, etwa durch Übernahme von Bürgschaften, deren Einlösung die Haushaltsautonomie gefährden kann, oder durch Beteiligung an entsprechenden Finanzsicherungssystemen, bedarf nicht nur jede einzelne Disposition der Zustimmung des Bundestages; es muss darüber hinaus gesichert sein, dass weiterhin hinreichender parlamentarischer Einfluss auf die Art und Weise des Umgangs mit den zur Verfügung gestellten Mitteln besteht.“

Ohne weitere Begründung und Darlegung behaupten dann die Karlsruher Richter, dass die Bestimmungen der europäischen Verträge der nationalen Haushaltsautonomie nicht entgegen stünden, sondern diese nicht entäußerbare Kompetenz umgekehrt voraussetzten. Die vertragliche Konzeption der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft sei Grundlage und Gegenstand des deutschen Zustimmungsgesetzes. Die europäischen Verträge liefen nicht nur hinsichtlich der Währungsstabilität parallel zum Grundgesetz.

Da werden dann so ganz nebenbei die Unabhängigkeit der EZB und das Ziel der Preisstabilität zur dauerhaft geltenden deutschen Verfassungsanforderung erhoben. Andere Anforderungen, die man durchaus auch an eine Zentralbank richten könnte, wie etwa Beschäftigung, Wirtschaftswachstum oder außenwirtschaftliches Gleichgewicht werden gar nicht erst erwähnt und haben offenbar keinerlei rechtliches Gewicht. Damit hat sich das Gericht voll und ganz dem monetaristischen Dogma schon der früheren Bundesregierung unter Helmut Kohl bei der Durchsetzung des Maastricht- Vertrages angeschlossen. Die Juristen haben offenbar nicht das geringste Problembewusstsein darüber, dass die „Staatsschuldenkrise“ (auch dieser politische Begriff wird einfach übernommen), eine Folge der Auseinanderentwicklung der Zahlungsbilanzen aufgrund der unausgeglichenen Leistungsbilanzen sind und damit letztlich ein Ausdruck des Scheiterns der dem Maastricht-Vertrag zugrunde liegenden ökonomischen Lehre des Monetarismus sind, der jede makroökonomische Zusammenarbeit auf dem Feld der Finanz- oder Wirtschaftspolitik in einer Währungsunion vernachlässigt, ja sogar ablehnt [PDF – 260 KB]. Die Richter stellen rein ökonomische Fragen, wie das Verbot des unmittelbaren Erwerbs von Schuldtiteln von Staaten durch die EZB, das Verbot der Haftungsübernahme und natürlich auch die „Stabilitätskriterien“ des Maastricht-Vertrages (3-Prozent-Klausel) unter die grundgesetzlichen Anforderungen des „Demokratiegebots“. Die Juristen bedienen sich bei ihren rechtlichen Ausführungen sogar das propagandistischen Vokabulars von einer Verhinderung der „Vergemeinschaftung von Staatsschulden“.

Während das Bundesverfassungsgericht das ökonomische Dogma der deutschen Bundesregierungen geradezu auf Verfassungsrang erhöht, gibt es der Politik beim Umfang der Gewährleistungsübernahme und im Hinblick auf das Eintrittsrisiko von Gewährleistungen einen nahezu unbegrenzten „Einschätzungsspielraum“. (Rdnr. 131) Nur bei einer „evidenten Überschreitung äußerster Grenzen“ kämen den Richtern rechtliche Bedenken. Die Bereitstellung von Krediten in Höhe von 147,6 Milliarden Euro mit einem Kreditanteil Deutschlands in Höhe von 22,4 Milliarden Euro als Finanzhilfe an Griechenland sind nach der Meinung der Richter unproblematisch. Und eine Einschätzung des Eintrittsrisikos der Bürgschaft sowie eine Abschätzung der künftigen Tragfähigkeit des Bundeshaushalts überlässt das Gericht gleich ganz der Politik:

Eine unmittelbar aus dem Demokratieprinzip folgende Obergrenze für die Übernahme von Gewährleistungen könnte nur überschritten sein, wenn sich im Eintrittsfall die Gewährleistungen so auswirkten, dass die Haushaltsautonomie jedenfalls für einen nennenswerten Zeitraum nicht nur eingeschränkt würde, sondern praktisch vollständig leerliefe. Das kann vorliegend nicht festgestellt werden. (Rdnr. 135)

Und dann folgt ein wahrlich kühne Prognose der Richter:

„…selbst im Fall der vollständigen Realisierung des Gewährleistungsrisikos wären die Verluste von rund 170 Milliarden Euro über Einnahmesteigerungen, Ausgabenkürzungen und über längerfristige Staatsanleihen, wenngleich möglicherweise unter Verlust von Wachstumsmöglichkeiten und Bonität mit entsprechenden Einnahmeverlusten und Risikoaufschlägen, noch refinanzierbar. Es kommt insoweit insbesondere nicht darauf an, ob die Gewährleistungssumme gegebenenfalls weit größer ist als der größte Haushaltstitel des Bundes und die Hälfte des Bundeshaushalts erheblich überschreitet, weil dies allein nicht der Maßstab einer verfassungsrechtlichen Begrenzung des Handlungsspielraums des Gesetzgebers sein kann.“

Obwohl nahezu alle Länder der Europäischen Währungsunion derzeit gegen die Maastricht-Regeln einer maximalen Neuverschuldung von 3 % des Bruttoinlandsproduktes und eines Schuldenstands von maximal 60% des BIP verstoßen, sehen die Richter die „vertragliche Konzeption der Währungsunion“ nicht als verletzt an und deshalb unterstellen sie, „dass sich die Bundesrepublik Deutschland keinem unüberschaubaren, in seinem Selbstlauf nicht mehr steuerbaren Automatismus einer Haftungsgemeinschaft unterwirft.“

Weil das Währungsunion-Finanzstabilitätsgesetz die Gewährleistungsermächtigung der Höhe nach beschränke, und den Zweck der Gewährleistung bezeichne und in gewissem Umfang die Auszahlungsmodalitäten sowie bestimmte Vereinbarungen mit Griechenland zur Grundlage der Gewährleistungsübernahme mache, begnügt sich das Bundesverfassungsgericht damit, dass der Deutsche Bundestag (also das gesamte Parlament) am weiteren Gesetzesvollzug lediglich in Gestalt von Unterrichtungen des Haushaltsausschusses beteiligt wird.

Einzig an der Formulierung des § 1 Abs. 4 des Euro-Stabisierungsmechanismus-Gesetzes mäkeln die Karlsruher Richter herum. Dieser Paragraf verpflichte die Bundesregierung lediglich dazu, sich vor der Übernahme von Gewährleistungen „zu bemühen, Einvernehmen mit dem Haushaltsausschuss“ herzustellen.

Wortlaut § 1 Abs. 4:

Vor Übernahme von Gewährleistungen nach Absatz 1 bemüht sich die Bundesregierung, Einvernehmen mit dem Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages herzustellen. Der Haushaltsausschuss hat das Recht zur Stellungnahme. Sofern aus zwingenden Gründen eine Gewährleistung bereits vor Herstellung eines Einvernehmens übernommen werden muss, ist der Haushaltsausschuss unverzüglich nachträglich zu unterrichten; die Unabweisbarkeit der Übernahme der Gewährleistung vor Herstellung des Einvernehmens ist eingehend zu begründen. Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages ist darüber hinaus vierteljährlich über die übernommenen Gewährleistungen und die ordnungsgemäße Verwendung zu unterrichten.

Dazu das Gericht:

Mit diesen Regelungen allein wäre der fortdauernde Einfluss des Bundestages auf die Gewährleistungsentscheidungen durch verfahrensrechtliche Vorkehrungen – über die allgemeine politische Kontrolle der Bundesregierung hinaus – nicht sichergestellt. Denn diese Vorkehrungen würden – auch zusammen mit der Zwecksetzung, der Höhe des Gewährleistungsrahmens und der Befristung des Euro-Stabilisierungsmechanismus-Gesetzes – nicht verhindern, dass die parlamentarische Haushaltsautonomie in einer das Wahlrecht beeinträchtigenden Weise berührt wird. Daher bedarf es zur Vermeidung der Verfassungswidrigkeit einer Auslegung des § 1 Abs. 4 Satz 1 des Euro-Stabilisierungsmechanismus-Gesetzes dahingehend, dass die Bundesregierung vorbehaltlich der in Satz 3 genannten Fälle verpflichtet ist, die vorherige Zustimmung des Haushaltsausschusses einzuholen.

Als Jurist reibt man sich bei diesem Schlussabsatz die Augen. Da weist das Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde zurück, obwohl es zum Ergebnis kommt, dass der Wortlaut eines der beklagten Gesetze die im Urteil ansonsten geradezu zum verfassungsrechtlichen „Kronjuwel“ erhobene parlamentarische Haushaltsautonomie in beeinträchtigender Weise berührt – also verfassungswidrig ist.

Die parlamentarische Befassung bei der Übernahme von Gewährleistungen, wie sie der Wortlaut des Gesetzes vorsieht, dürfte also eigentlich keinen verfassungsrechtlichen Bestand haben. Das Gericht verwirft aber dennoch diese gesetzliche Bestimmung nicht, sondern heilt sie durch Auslegung gegen den ausdrücklichen Wortlaut. Die Richter schwingen sich also zum Ersatzgesetzgeber auf und schreiben einfach den Gesetzestext um.

Wenigstens eine Begründung für diesen juristischen Kunstgriff hätte man erwarten müssen. So hat das Urteil aber einen ziemlich unangenehmen Beigeschmack: Die Richter hinterlassen den Eindruck als wollten sie der Bundesregierung und vor allem Kanzlerin Merkel das politische Desaster ersparen, bei der Griechenlandhilfe gegenüber den europäischen Partnern einen Rückzieher machen zu müssen.

“Das Bundesverfassungsgericht hat uns heute morgen absolut bestätigt”, sagte Merkel gestern im Deutschen Bundestag in Berlin. Diese Protzerei ist eine glatte Lüge.

„Die Richter leisten Nothilfe in europäischer Not“, schreibt Heribert Prantl zu Recht. Sie haben aber darüber hinaus und ohne Not mit der verfassungsrechtlichen Festschreibung der Maastricht-Regeln Weg in den Abgrund der Europäischen Währungsunion zum Verfassungsgebot erhoben und jeden makroökonomisch sinnvollen Weg aus der Euro-Krise unter Berufung auf das Grundgesetz verbaut. Die zwischen Merkel und Sarkozy vereinbarte europäisch Wirtschaftsregierung und eine Finanzkoordination auf Ebene der EWU-Länder zum Beispiel gäbe also das Grundgesetzt nicht her.

Artikel 38:

(1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.