Occupy:World – der Protest gegen das Finanzsystem nimmt Fahrt auf

Jens Berger
Ein Artikel von:

Am 15. Oktober sollen in 719 Städten in 71 Ländern Kundgebungen gegen die Auswüchse des Finanzkapitalismus stattfinden. Es scheint so, als wachten die Menschen endlich auf, um der Politik zu „demonstrieren“, dass es nicht nur um die Bedienung der Interessen der Finanzwirtschaft und darum geht der Herde der Spekulanten an den „Märkten nachzulaufen, sondern dass diejenigen, die letztlich für alles haften und bezahlen sollen, auch noch da sind. Was am 15. Mai in Madrid begann und sich in den letzten Wochen in den USA wie ein Lauffeuer ausbreitete, könnte sich weltweit zu einem heißen Herbst entwickeln. Auch in Deutschland gibt es ein gewaltiges Protestpotential. Von Jens Berger

Seit dem Beginn der Finanzkrise beteuern die Regierungen von Berlin bis Washington, das Finanzsystem stärker regulieren, das Kasino an den Finanzmärkten schließen und die Profiteure der zügellosen Spekulationen auch finanziell für den angerichteten Schaden zur Rechenschaft ziehen zu wollen. Gut gebrüllt, Löwe – doch den Worten folgten keine Taten. Zu eng sind die Verflechtungen zwischen der Politik und der Finanzindustrie. Mit Sonntagsreden und Absichtserklärungen lassen sich die „Monster“ (Horst Köhler) nicht bändigen. Mit jedem Tag, an dem das Casino nicht geschlossen wird, müssen wir noch hilfloser zuschauen, wie die Finanz-„Märkte“ die Politik vor sich her treiben. Das Vertrauen in die Demokratie geht so mehr und mehr verloren.

Wir schauen tatenlos zu, wie das Finanzsystem sich der Politik bedient und z.B. die „Troika“ von EU, EZB und IWF ganzen Ländern eine zerstörerische Sparpolitik diktiert, die Generationen von Menschen ihrer Lebensgrundlage und Perspektiven beraubt. Mehr und mehr erleben wir, dass diese Austeritätspolitik sich nicht auf Griechenland oder Portugal beschränken wird. Schon seit Jahren treiben die Spekulanten und die Banken die Politik nach Lust und Laune vor sich her. Sie machen nicht an irgendwelchen Landesgrenzen halt.

Darüber empören und wehren sich immer mehr Menschen. Es ist nicht verwunderlich, dass nun weltweit Bürgerinnen und Bürger zu ihrem letzten Mittel in der Demokratie greifen und auf die Straße gehen, es ist eher verwunderlich, dass dies erst jetzt passiert.

Wenn der Druck der Öffentlichkeit es schafft, eine schwarz-gelbe Koalition zum Atomausstieg zu treiben, sollte es prinzipiell auch möglich sein, die etablierten Parteien zu wirklichen Reformen der Finanzmärkte zu drängen. So „einfach“, wie dieser Vergleich es nahelegt, ist dies jedoch leider nicht.

In der Finanzpolitik ist „Fukushima“ der Dauerzustand. Die Tatsache, dass Spekulanten über die „Märkte“ die gesamte europäische Währungsunion auf den Spieltisch setzen und ganze Länder in den Bankrott treiben können, ist nichts anderes als ein politischer Super-GAU.

Doch die öffentliche Wahrnehmung ist erstaunlicherweise eine komplett andere. Als in Japan die Atommeiler havarierten, waren in Deutschland Iod-Tabletten ausverkauft, die Medien überschlugen sich geradezu mit Katastrophen-Berichterstattung. Mit den Grünen gab es eine Partei, die maßgeblich von der Kernschmelze einer falschen Energiepolitik profitierte und so die anderen Parteien um ihre Macht fürchten ließ. Einigermaßen fundierte Kritik am Finanzsystem kommt in Deutschland nahezu ausschließlich von der Linkspartei, die jedoch von den Medien wahlweise ignoriert oder dämonisiert wird. Wie schon bei der Finanzkrise vor drei Jahren erleben wir nun auch bei den Nachbeben diese Krise, Finanzkrise der Staaten ein weitgehendes Versagen der Medien. Sie übernehmen kritiklos die Umdeutung der Finanzkrise in eine „Staatsschulden-Krise“ durch die Politik – angeleitet von den Bankern, die mit Griechenland und anderen Ländern mit Finanzproblemen endlich einen Sündenbock gefunden haben und schon wieder die Steuerzahler zum Bürgen für ihre Fehlspekulationen einsetzen wollen. Und die Politik lässt sich erneut auf dieses Spiel ein.

Immer mehr Menschen erkennen, dass nur sie selbst dieses Spiel verderben können, dass nur durch den Druck von unten die Teufelsspirale gestoppt werden kann.

Nun wird vielfach wird kritisiert, dass die „Occupy-Bewegung“ keine konkreten Ziele nennen könne. Diese Kritik ist jedoch vorschnell. Hatte denn etwa die 68er-Bewegung ein fertiges Alternativ-Programm? Wusste die damalige außerparlamentarische Opposition von damals nicht auch viel eher wogegen sie ist, als dass sie ihre Ziele hätte auf einen Nenner bringen können. Und dennoch hat diese Bewegung viel in Bewegung gebracht. Auch heute vernimmt man im Umfeld der „Occupy-Bewegung“ zum Teil sehr unvergorene Statements. Das ist aber gar nicht zu vermeiden, wenn sich eine politisch und weltanschaulich äußerst heterogene Bewegung ohne hierarchische Entscheidungsstrukturen und ohne eine zentral organisierte Planung in dieser Größenordnung spontan formiert. Anstatt diese – oft als Naivität wahrgenommene – Vielfalt zu kritisieren, sollte man diese Bewegung lieber konstruktiv begleiten. In den USA haben sich bereits die Gewerkschaften und kritische Intellektuelle wie Paul Krugman, Joseph E. Stiglitz, Michael Moore, Noam Chomsky oder Naomi Klein der „Occupy-Bewegung“ angeschlossen und versuchen ihre alternativen Ideen einzubringen. In Deutschland sind es vor allem attac und einige Politiker der Linken, die sich bisher mit der „Occupy-Bewegung“ solidarisiert haben. Wo bleibt eigentlich die kritische Intelligenz? Wo bleiben kritische Wissenschaftler und Künstler?

Wichtig ist zunächst der kleinste gemeinsame Nenner dieser Bewegung. Und dieser Nenner ist die Forderung nach einer wirkungsvollen Regulierung der Finanzmärkte, nach der Beschneidung der Macht der Banken und schließlich die Anmahnung einer Politik, die nicht die Interessen einer finanzstarken Minderheit, sondern die der großen Mehrheit vertritt die für all diese kriminellen Machenschaften den Kopf hinhalten soll und deren Interessen nach sozialer Sicherheit und allgemeinem Wohlstand in den letzten Jahrzehnten mit Füßen getreten wurden. Sich auf diesem gemeinsamen Nenner zu solidarisieren, sollte nicht schwerfallen. Es kann nicht Aufgabe einer heterogenen Protestbewegung sein, bis ins Detail ausgefeilte Reformpläne auszuarbeiten – der Protest gibt lediglich die Richtung vor, den genauen Weg müssten diejenigen vorschlagen und in die Diskussion einbringen, die das nötige kritische Wissen haben.

Dies ist ein Diskussionsprozess, der nicht von heute auf morgen abgeschlossen sein wird. Das hat auch die Geschichte der Anti-Atomkraft-Bewegung oder jüngst der Widerstand gegen Stuttgart 21 gezeigt. Aber dieser Entwicklungsprozess könnte jedoch die Krux der „Occupy-Bewegung“ sein. Sie könnte von den Entwicklungen auf den Finanz-„Märkten“ und der Politik schlicht überrollt und in die Resignation getrieben werden. Das Schicksal solcher „offenen“ Bewegungen lässt sich ein Stückweit bei den Befreiungsbewegungen in Nordafrika studieren.
Die Lage ist ernst und die Zeit drängt. Dies ist aber kein Argument gegen die Proteste. Im Gegenteil – dies ist eher ein Argument dafür, die Proteste auf konkretere Ziele auszurichten und auf eine noch breitere (Massen-)Basis zu stellen. Und vor allem sie solidarisch zu unterstützen Die NachDenkSeiten begrüßen diese neue Protestbewegung, weil wir sie sie als einen Ansatz für eine demokratische Gegenöffentlichkeit bewerten. Wir wollen den uns möglichen Beitrag leisten, diese Bewegung zu stärken und uns in ihren Diskussionsprozess konstruktiv einbringen.

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