Das Elfchen „Markt“ und der Herr Professor Sinn

Ein Artikel von:

Brigitta Huhnke hat uns wieder einmal einen furiosen Essay geschrieben. Lassen Sie sich einfach mitreißen und lesen Sie selbst.

Das Elfchen und der Herr Professor

Von Brigitta Huhnke

In den Niederungen der Lebenswelt des Neoliberalismus angekommen, hat sich auch die Fetischkultur verändert. Bis Anfang der achtziger Jahre war das mit dem libidinösen Ersatz so einigermaßen klar. Das Auto war einfach Vatis liebstes Kind. Zuvor waren den Opis die phallischen Symbole der Leitkultur von 1933 bis 1945, wie Pistolen, Panzer und die blank gewichsten Lederstiefel zur schmucken Uniform rabiat weggenommen worden. Also, spätestens ab den sechziger Jahren wienerte Vati jetzt samstags Kotflügel und Felgen, als sichtbarstes Symbol seines persönlichen kleinen Wirtschaftswunders. Und von heute aus besehen, waren ja einige Modelle wirklich richtig scharf: die alten Porsche, der Nittribit Mercedes, der rote Karman Ghia der Tante, sogar Familienkutschen wie der alte Opel Kapitän „hatten was“. Später in den siebziger Jahren kamen zu den Citroens und Enten junge, laszive und langhaarige Männer dazu und auch wir fanden durchaus Genuss an den sehr eigenen Geräuschen von C4 und am Hochziehen der Gänge im Käfer.

Seit aber sogar den Saab Modellen keinerlei Distinktion mehr anhaftet, ist einfach die totale ästhetische Öde in die Autolandschaft geraten, nur noch PS und Preis zählen. Nun, früher schmeckte auch die Currywurst an jeder Bude anders, jetzt geht McDonalds weltweit gleich auf die Sinne und Geschmacksnerven. Aber so ähnlich hat sich das auch mit den libidinösen Besetzungen entwickelt. In den neunziger Jahren änderte sich ziemlich plötzlich und radikal das Outfit der spätgeborenen Männer: Haare ab, bis zum künstlichen Glatzenkult, Anzug, Börsenteil, absolute Uniformierung, moderne Spießer eben. Die Partys zu stampfenden Takten der Neuen Deutschen Welle wurden auch immer langweiliger, dann kam Techno. Mehr und mehr schwirrte nun allerlei geistiger Unrat durch die Diskurse. Plastikwörter, wie „Deregulierung“, „Information“, „Prozess“, „Flexibilisierung“, „Dynamik“, „Mobilität“, „Selbstverantwortung“, „Innovation“„, riefen die öffentlichen Auguren jetzt an und auch immer häufiger den „Wettbewerb“ und den „Markt “. Traktiert wurden hingegen die „öffentliche Subvention“ und die „öffentliche Daseinsvorsorge“.

Margret Thatcher, die erste weibliche Ikone des Neoliberalismus, schließlich stiftete dann 1987 kaum noch Verwirrung bzw. wurde auch von links nicht ernst genommen, mit ihrem Ausspruch: „And, you know, there is no such thing as society. There are individual men and women, and there are families. And no government can do anything except through people, and people must look to themselves first.” (Margret Thatcher 1987). Ihre Landsfrau, allerdings auch Fachfrau, die Volkswirtschaftlerin Susan Strange hatte Jahre zuvor den neuen Männertypus, der uns in so unangenehmer Anzahl mittlerweile auch in Universitäten und Redaktionen über den Weg lief, immer farblos aber immer geschäftig, irgendwie hundsblöd, doch äußerst machtbewusst, treffend als neuen Typus des „Casinokapitalismus“ beschrieben, der in der Finanzwelt sein „mad money“ wie ein Getriebener über die Datenautobahnen jagt: „Das westliche Finanzsystem ist rapide dabei, sich nichts anderem als einem großen Casino anzunähern. Jeden Tag finden Spiele in diesem Casino statt, in die unvorstellbare Geldsummen involviert sind. In der Nacht gehen die Spiele auf der anderen Seite der Welt weiter. In den Blöcken der Bürohochhäuser, die alle großen Städte prägen, sind die Räume voll mit jungen männlichen Kettenrauchern, die alle diese Spiele treiben. Ihre Augen sind auf Computerschirme fixiert, auf denen sich ständig verändernde Preise flackern. Sie spielen mit Hilfe von interkontinentalen Telefonverbindungen oder indem sie in elektronischen Maschinen tippen. Sie sind genau wie die Spieler im Kasino, verfolgen das klickende Drehen des Silberballs auf dem Roulett Brett und legen ihre Chips auf rot oder schwarz, ungerade oder gerade Zahlen.“ (STRANGE, Susan: Casino Capitalism. New York 1986, Sp. 1).

Na, wir machten erst einmal wieder auf deutschen Sonderweg, das was wir bisher immer gut konnten, ließen uns von dem ganzen Popanz „Deutschland einig Vaterland“ kräftig zusätzlich die Hirne vernebeln. Doch diese neuen Finanz-Junkies waren längst auch bei uns unterwegs, besonders im neuen deutschen Osten hefteten sie sich an die Hacken der politischen Eroberer und gaben die Glücksritter und Cowboys der „New-Economy“ und der lukrativen Totalsanierung. Unnötig fast, zu erwähnen, wie günstig dieses Klima war, nun endlich auch die langersehnten Feldzüge gegen den Feminismus, nach ersten Anfangsschwierigkeiten in den achtziger Jahren, jetzt so richtig zu führen. Nicht nur Medienmänner in Schlips und Kragen, bei Bild und Der Spiegel bewunderten den „Backlash“ gegen die Frauen in den USA, feierten die Wonnen der Pornographie und Frauenkauf als ultimativen Fortschritt, der Sabber des sexuellen McDonald und der Verachtung schwappte sogar ins feine Papier von Die Zeit.

Millionen Glaubensbrüder trieben die Demagogen jetzt mit allerlei Lustversprechen in die Fänge der Börsen, wo sie sich dem „Markt“ unterwarfen. Immer schriller schwollen bald im ganzen Land die Bocksgesänge auf die „Märkte“ an. Im neuen Evangelium wurde ab etwa 1997 auch das Paradies benannt: die „Globalisierung“. Für den Standortwettbewerb sollte nun „ein Ruck durch Deutschland gehen“. Alle, die sich dem entgegenstellen werden bis heute verhöhnt, im Gestus des Tabubruchs als „Gutmenschen“, „Traditionalisten“, „Retrosozialisten“ oder „ewig Gestrige“. „Gesellschaft“ ist auch in diesem Land längst zum Unwort abgesunken. Dennoch werden die Heilsgesänge immer lauter. Fürsorge hat im Neoliberalismus ein anderes Objekt, richtet sich auf ein scheinbar völlig unschuldiges Wesen der dritten Art: Nicht auf Menschen oder Natur sondern eben nur noch auf den „Markt“, alles was sich ihm entgegenstellt, ist aus dem Weg zu räumen. Das Phänomen ist bekannt: Wo Vernichtungsphantasien blühen, herrscht immer auch unstillbares Verlangen nach Unterwerfung und wenn es ganz schräge kommt, d.h. wenn die Angst sich unbezähmbar zur Verachtung gesellt, dann muss der Fetisch her. Die einzige Projektion des Westens seit dem Sieg über den „realen Sozialismus“ ist der Fetisch „Markt“. Diese scheue aber leicht zu verärgernde Elfe, darf bloß nicht gestört, also etwa demokratisch oder politisch reguliert, sondern nur noch vergöttert werden. Dieses sinnverwirrende Wesen wollen unsere Destruktiven als Chiffre als einzigen neoliberalen (Alp-)Traum weltweit implementieren. Dem dämonischen Wesen „Markt“, bar jeder Sozialität oder gar Geschichtlichkeit, steht als Störfaktor einzig noch das „Humankapital“ gegenüber, besonders das Erwerbslose und neuerdings auch noch gebärunwillige Frauen. Seit Jahren überbieten sich die Huldiger des Fetischs „Markt“ in ihrem moralischen Zynismus. Medien und Wissenschaften sind fast vollständig von kritischem (humanem) Geist gesäubert.

Dem „Markt“, diesem dämonischen Abgesandten der „Globalisierung“, fehlt mittlerweile jeglicher verstörende Eros des Sozialen, das patriarchale Identitäten schon immer verunsichert hat. Das Elfchen „Markt“ ist purer Fetisch, an dem sich die abgehobenen Eliten ergötzen. Der Fetisch ist Ersatz für Gesellschaft, Ersatz für eine nur noch verachtete Vielfalt möglichen sozialen, kulturellen, sinnlichen Lebens. Das Elfchen macht unseren selbsternannten Eliten keine Angst. In seiner herbeigebeteten Unschuld bietet es sich dem starken patriarchalen Arm an. Dem zarten Wesen lesen die Herren des Kapitals und ihren Handlangern jeden Wunsch vom Angesicht. Richtige Glücksgefühle überkommen seine Beschützer dabei. Jede Stimmungslage des Elfchen halten sie fest. Ist die Außerirdische zufrieden, dann heißt es im Radio, mit leicht bebender Erregung vorgetragen, die Stimmung der Unternehmen sei „entspannt“ oder die „Börse ist im Aufwind“ oder das „Börsenbarometer“ schlage günstig aus. Lange wird es nicht mehr dauern, bis im Reklamefernsehen Blondinen oder andere „Rasseweiber“ barbusig die „Performance“ der Börsenkurven hauchen.

Einmal im Monat liest der Oberschamane vom Ifo-Tempel Hans-Werner Sinn dem Elfchen aus der Hand, misst seinen Puls. Lässt es den Herrn Professor ins Gemach hinein, lächelt es ihm zu, dann ist der „Geschäftsklimaindex“ günstig und nur wenige Stunden später „klettern die Börsen“. Doch das Elfchen, ein BDI-Chef nannte es auch schon mal „scheues Reh“, gebärdet sich oft verzogen. Ziemlich unersättlich, treibt es sich und seine Gefolgschaft regelmäßig in manische Zustände.
Nach wilden Halluzinationen über „Informationsgesellschaft“, „Wissensgesellschaft“, „new economy“ oder den Handlesereien über Zukunft der Gentechnologie und andere Neuer Technologien, nach all dem Rausch und all der Erlösungshoffnungen, war es im Jahr 2000/2001 mal wieder soweit. Das Elfchen dekompensierte einfach. Unter lautem Jammern und Entleiben seiner Beschützer ließ es die Börsen krachen:

„Der Orkan war da. Es rasselte in der Börse von New York, dass man seine strahlende Freude daran haben konnte, wenn man keine Papiere besaß und nur neutraler Zuschauer war.
Da flogen nur so die Fetzen.
Die Fetzen des stolzen und bewunderten Wirtschaftssystems.
Es hagelte und dröhnte. Die Wände des Gebäudes dieses ehernen Systems erzitterten.
Die Telephonzellen der Broker, der Börsenmakler krachten.
Zehn Punkte rauf. Schnell verkauft. Aber ehe zugesagt ist, zwanzig runter. Vier Punkte rauf. Hoffnung. Einen Punkt rauf. Kabel über den Globus. Markt beginnt sich zu festigen. Vierzehn Punkte runter. Markt erneut flattrig…
Zwölf Punkte rauf. Drei runter. Sieben runter. Vier runter. Zwei rauf. Telephonmädchen bekommen Krämpfe. Telegraphisten werden irrsinnig. In den Büros der Banken und in den winzigen Stübchen der Agenten rasen die schmalen weißen Streifen mit den Todesurteilen und mit den Hoffnungsbelebungen aus den Mäulern der Privattelegraphen heraus mit unerfassbarer Schnelligkeit… Hirne, Mäuler, Ohren, Münder Buchstaben und zerrende Hände sind gejagt von Mächten, die hier nicht gesehen, nicht gefühlt, sondern nur empfunden werden.“ (B. Traven, Die Weiße Rose, 96f)

Diese Situationsbeschreibung stammt aus dem Jahr 1927, also zwei Jahre vor dem ersten legendären Zusammenbruch der New Yorker Börse. Der sozial-anarchistische Schriftsteller unter dem Psudonym B. Traven, bis 1933 Starautor der „Büchergilde“, hat sie in seinem Roman „Die Weiße Rose“ fabuliert. Hatte er hellsichtige Fähigkeiten? Eher nicht. Dieser heimatlose Deutsche war nach der gescheiterten Räterepublik in München und völlig desillusioniert von der deutschen Sozialdemokratie, vor seinen Verfolgern nach Mexiko geflohen. Traven war lediglich ein Ungläubiger. Befreit von (fast) allen metaphysischen Fesseln konnte er in seinen Romanen nicht nur die internationale Gewalt des Kapitalismus beschreiben. Besondere Akribie verwendete er darauf, die Lächerlichkeit und Gier seiner Akteure zu enttarnen, die psychisch-emotionale Verwahrlosung von Menschen, die über Leichen gehen und sich gleichzeitig dem Fetisch unterwerfen. Aber auch die, die sich immer wieder in Systeme von Herrschaft und Unterwerfung einfangen lassen, führt er vor. Auch Proletariern, insbesondere sozialdemokratischen zog er gern die Hosen stramm.
Seit 1929 knallt es regelmäßig an internationalen Börsen. Aber nach dem Knall geht dann alles wieder von vorne los, in der Regel immer etwas gewalttätiger. Seit 2001 häufen sich „feindliche Übernahmen“ und Firmenflops, zwielichtige Manager ruinieren ganze Firmenimperien und leben ihren Weltmachtphantasien. Wirtschaftskriege werden intensiviert, neue angezettelt. Rastlos sind Konzerne auf der Suche nach den weltweit geringsten (Frauen- und Kinder-)Löhnen. Repressionen, Angst. Doch die Anbetung wird nur noch inniger. So verkündete George W. Bush bereits im Frühjahr 2001: “We will not do anything that harms our economy.” (1) Damit war für ihn auch die Klimavereinbarung von Kyoto hinfällig. (The New York Times, March 29, 2001).

Unser oberster Händchenhalter des Elfchen, Hans-Werner Sinn, empfiehlt unverdrossen: „Man muss das international mobile Kapital hätscheln, wenn man Arbeitsplätze schaffen will.“ (OZ 20.4.05) Und seine „Logik“ ist wirklich unschlagbar. Die Marktwirtschaft habe nun mal „mit Gerechtigkeit nicht die Bohne zu tun. Aber die Marktwirtschaft ist effizient. Wenn man die Ungleichheit akzeptiert, erzeugt sie hohe Einkommen. Ja gerade auch für die Arbeiter erzeugt sie ein höheres Einkommen als der Sozialismus.“ So sehen sie aus: Höchste vom Staat finanzierte patriarchale Denkleistungen unserer „Leistungsträger“, die dann im ebenfalls von den Bürgerinnen und Bürgern finanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunksystem rund um die Uhr als Verkünder der „Wahrheit“ kursieren.
Knapp ein Jahr später jagt Sinn sein Mantra leicht umformuliert durchs Netz:
„Die Marktwirtschaft ist effizient, aber nicht gerecht. Da sich die Löhne nach dem Gesetz der Knappheit bilden, können manche Menschen nicht genug verdienen, um davon auskömmlich zu leben.“
So ist das eben mit dem Fetisch „Markt“, er kennt keinen Sinn und keine Werte, er kennt nur Gewinner und Verlierer, wer nicht überlebt, geht eben unter. Der „Markt“ ist nicht für die Menschen da, sondern für die Wirtschaft, für die Dividende und für die Spieler am Tisch des Casino-Kapitalismus. Gewinne nehmen Fahrt auf, wenn die Entlassungen hochschnellen. Die Börsenspekulanten bestimmen, was Leistung ist. Milliardenspiele mit der Verelendung von Millionen. Profit ist alles, der Mensch ist nichts. Wer nicht mitspielt, wird vom Spielfeld geworfen und kann sehen, wo er bleibt.
In diesen Tagen machte der Herr Professor sich wieder am Puls des Elfchens zu schaffen. Wir konnten leider nicht durchs Schlüsselloch spingsen. Aber das Elfchen kicherte wohl und der Professor wurde erregt und diese Erregung erfasste die ganze Börsengemeinde, und die bekommen wir wieder unweigerlich mit. Achten sie auf die neuen Ankündigungen von Massenentlassungen! Der Fetisch „Markt“ verlangt eben seine Opfer.

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