Ex-MdB Kuhlwein zur SPD-Programmdebatte

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Der frühere Bundestagsabgeordnete Eckart Kuhlwein hat sich als Vertreter der SPD Schleswig-Holsteins zu den Beck’schen Leitsätzen zum Grundsatzprogramm der SPD geäußert. Wir übernehmen den Text in “Andere interessante Beiträge“, weil dies andere Leser der NDS interessieren könnte.

Eckart Kuhlwein
Sprecher der Projektgruppe
Grundsatzprogramm
der SPD Schleswig-Holstein

Die Programmdebatte in Schleswig-Holstein

Bericht zum Landesparteirat am 23. Mai 2006 in Kiel

I. Zum Verfahren

Die Projektgruppe Grundsatzprogramm des Landesverbandes arbeitet seit dem Sommer 2002 und hat bereits mehrere Parteivorsitzende, Generalsekretäre, Programmforen und Parteitage überlebt. Sie hat zweimal auf Landesparteitagen (2003 und 2005) „Zwischenberichte“ vorgelegt. Viele Kreisverbände haben regelmäßig mitgemacht. Einige hatten offenbar anderes zu tun. Dafür haben wir unsere Gruppe um einige engagierte Programmatiker und Programmatikerinnen erweitert, die sich selbst einmischen wollten. Aber es würde unserer Arbeit mehr demokratische Legitimation verschaffen, wenn alle Kreisverbände offiziell ihre Vertreterinnen bzw. Vertreter melden würden. Das hätte auch den Vorteil, dass sich dann in jedem Kreisverband jemand für die Organisation der Programmarbeit verantwortlich fühlt.

Die Projektgruppe hat zur Vorlage von Kurt Beck eine Reihe von kritischen Anmerkungen aufgeschrieben, die Euch heute vorliegen. Nehmt sie als Anstöße für Eure eigenen Diskussionen und Veranstaltungen! Ihr werdet Ende Juni von uns auch noch einen ausformulierten Fragenkatalog bekommen, der einige Politikfelder beschreibt, wo wir uns unsere eigene Meinung bilden sollten.

Bis Anfang November erwarten wir Rückmeldungen von der Parteibasis auf unsere Fragen. Wir werden dann Positionspapiere zu einzelnen Themenbereichen vorbereiten, die Landesvorstand bzw. Landesparteirat vorgelegt werden sollen, damit sie in Berlin noch auf die endgültige Ausformulierung des PV-Entwurfs Anfang 2007 Einfluss nehmen können. Dabei wird das Thema „Öffentliche Güter“ eine besondere Rolle spielen.

Zu diesem Thema wird die Friedrich-Ebert-Stiftung am 6. Oktober in Kiel mit uns gemeinsam eine Tagung veranstalten, auf der wir neben Hans-Peter Bull und Ralf Stegner Vertreter gesellschaftlicher Gruppen zu Wort kommen lassen wollen. Die Einladung dazu wird noch vor der Sommerpause verschickt.

Die Projektgruppe hat sich vorgenommen, zu folgenden Themen Positionspapiere vorzulegen. Die Vorarbeiten dazu könnt Ihr in unseren Zwischenberichten finden:

  • Öffentliche Güter und die Sicherung von zusätzlichen Einnahmen zu ihrer Finanzierung.
  • Nachhaltigkeit als Grundorientierung unter Einbeziehung von Umweltpolitik, Klimawandel, Ressourcenknappheit.
  • Die künftige Bedeutung der Erwerbsarbeit, Aufwertung der gesellschaftlichen bzw. der Eigenarbeit im Sinne der Bürgergesellschaft, Schaffung eines gemeinwirtschaftlichen (zweiten?) Arbeitsmarktes, neue Formen der Beschäftigung für gering Qualifizierte bzw. Landzeitarbeitslose.
  • Strukturreformen des Bildungssystems, Finanzierung der vorschulischen Bildung bzw. Betreuung.
  • Spannungsverhältnis Familienpolitik und Mobilität bzw. Flexibilität – „Schutz der sozialen Umwelt“.
  • Rolle der Kulturpolitik im Gespräch zwischen den Kulturen.
  • Langfristige Perspektiven der Integration in der Einwanderungsgesellschaft.
  • Künftige Strukturen der Demokratisierung globaler Institutionen, insbesondere Schaffung einer europäischen sozialdemokratischen Partei mit einem gemeinsamen Programm.

II. Einige kritische Anmerkungen

Die „Leitsätze“ sind sehr allgemein gehalten und entsprechend kurz ausgefallen. Sie sind sprachlich etwas spröde, manchmal für den Laien schwer verständlich und kaum geeignet, Menschen zu begeistern. Viele Thesen beziehen sich eher auf aktuelle Probleme und Konflikte, weniger auf grundsätzliche Fragen. Die „Leitsätze“ enthalten gleichzeitig eine ganze Reihe von Redundanzen, die vermieden werden könnten. Das würde Platz schaffen für Aussagen zu Politikbereichen, die zu kurz gekommen sind, wie zum Beispiel Umwelt und Nachhaltigkeit, Dritte Welt, Gender Mainstreaming, Innere Sicherheit, Struktur der internationalen Institutionen bzw. der Sozialdemokratie usw.

Das Papier liegt weitgehend im Mainstream der Parteitagsbeschlüsse und Wahlprogramme der vergangenen Jahre. Das ist natürlich richtig. Aber es sollte sich beim Grundsatzprogramm nicht um ein Regierungsprogramm handeln, in dem kurzfristige Lösungen für aktuelle Probleme aufgeschrieben werden, sondern um problembewusste Analysen und langfristige Strategien. Dazu gehören zum Beispiel die evidente Krise der Erwerbsarbeit, die natürlichen Grenzen quantitativen Wirtschaftswachstums, Strukturfragen des Bildungssystems, Umgang mit zunehmender Migration oder die Strukturen und Inhalte internationaler sozialdemokratischer Politik in Europa und darüber hinaus.

Begrüßenswert ist, das klare Bekenntnis zu einem „handlungsfähigen Staat“, auch wenn wenig darüber gesagt wird, wie er finanziert werden soll, offenbar aus Angst vor einer öffentlichen Diskussion über weitere Steuererhöhungen. Die Gleichzeitigkeit der Programmdiskussion bei SPD und CDU bedeutet für uns die Chance zur Profilierung, auch in Zeiten einer Großen Koalition. Es wird eine zentrale Aufgabe unserer Programmdiskussion werden, gegen die neoliberalen Seilschaften aus Wirtschaft, käuflichen Medien und sogenannter ökonomischer Expertise wenigstens einen Teil der öffentlichen Meinung für unsere Position zu gewinnen. Wir müssen Überzeugungsarbeit leisten, dass wir alle „der Staat“ sind, der ausreichende Einnahmen braucht, wenn er die Aufgaben erfüllen können soll, deren Erfüllung die Mehrheit der Bevölkerung von ihm erwartet: Bildung, soziale Sicherheit, wirtschaftliche Entwicklung, Umwelt, Infrastruktur und innere Sicherheit.

Ich will hier ein paar konkrete inhaltliche Punkte nennen, in denen die „Leitsätze“ korrigiert bzw. ergänzt werden müssen:

  1. Das Bedrohungsszenario durch Globalisierung, Demografie und technischen Wandel wird übertrieben. Da haben einige neoliberale Berater die Feder geführt, die den Sozialstaat durch Heuschrecken und Versicherungspolicen ersetzen wollen. Deutschland ist Exportweltmeister. Unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit ist unbestritten. Die Produktivität der Arbeit wächst jährlich um ca. 1,5 Prozent, das Bruttoinlandsprodukt um ein bis zwei Prozent. Das sind zwischen 20 und 40 Mrd. Euro. Die Demografie ist deshalb ohne „Wohlstandsverlust“ für den aktiven Teil der Bevölkerung zu verkraften. Im übrigen: Die Finanzprobleme unserer sozialen Sicherungssysteme liegen (noch lange) nicht in der Demografie, sondern im Mangel an sozialversicherungspflichtigen Vollzeitarbeitsplätzen begründet (der Anteil der Personen im erwerbsfähigen Alter an der Bevölkerung geht erst ab etwa 2020 zurück).
  2. Bei den Grundwerten gibt es noch immer den Streit, ob soziale Gerechtigkeit „zuallererst“ Chancengleichheit bedeuten müssen. Zugangsgerechtigkeit kann jedoch ohne Verteilungsgerechtigkeit nicht funktionieren. Dazu hat Kurt Beck auf dem Bundesparteitag gesagt: „Ohne vernünftige Verteilungsgerechtigkeit, ohne eine vernünftige materielle Grundlage für die Menschen kann es letztendlich auch keine Chancengleichheit geben.“ Das muss im Grundsatzprogramm klar herausgearbeitet werden.
  3. Antworten auf die Frage, wie denn die SPD das Ziel der Vollbeschäftigung verwirklichen möchte, sucht man in den Leitsätzen vergebens, nachdem die verschiedenen Hartz-Programme (darf man das noch so nennen?) und die gesamte Agenda 2010 bis heute nicht so recht erfolgreich waren. Offenbar glauben und hoffen die Autoren, dass sich das Problem irgendwie von selbst erledigen würde, wenn alle nur etwas flexibler, mobiler und qualifizierter und die Jahrgänge im erwerbsfähigen Alter dünner würden. Welche Perspektive hat die SPD eigentlich, wenn die „Krise der Erwerbsarbeit“ zum Dauerzustand wird?
  4. Die Partei hat sich in den letzten Jahren angewöhnt, die Familienpolitik mit einer Art von neuer Bevölkerungspolitik zu begründen, als ob es angesichts der Überbevölkerung in der Welt wichtige Gründe gäbe, gerade die deutsche Art zahlenmäßig zu erhalten. Zum Beispiel als Beitragszahler für die Sozialversicherung. Bisher hatten wir Familienpolitik anders definiert: Es geht doch wohl in erster Linie darum, dass Kinderwünsche ohne Beschränkung durch Zukunftsängste verwirklicht werden können. Und dass alle Kinder die besten Chancen zum Aufwachsen, Leben und Lernen erhalten.
  5. Das Berliner Programm hatte Wachstum und Fortschritt präzise beschrieben. In den Leitsätzen wird Wachstum ziemlich beliebig verwendet. Mal heißt es schlicht Wachstum, mal „wirtschaftliches Wachstum“, mal „qualitatives Wachstum“, an anderer Stelle „nachhaltiges Wachstum“ oder „langfristiges Wachstum“. Nur auf die Frage, was denn noch wachsen soll, und welche Grenzen zahlenmäßiges Wachstum hat, gibt es keine Antwort. In einem Grundsatzprogramm muss zumindest die Frage aufgeworfen werden, ob die Menschheit oder die Deutschen die natürlichen Ressourcen auch künftig im gleichen Umfang ausbeuten dürfen. Es wäre auch wichtig, im Programm etwas zum engeren Bereich der Umweltpolitik zu finden. Dieses Feld müssen wir nicht den GRÜNEN überlassen.
  6. Die „neue soziale Übereinkunft“ in den Leitsätzen muss auch etwas über die notwendigen zusätzlichen Steuereinnahmen sagen. Mehrwertsteuererhöhungen sind nicht nur konjunkturpolitisch, sondern auch sozial problematisch. Die „Partei der sozialen Gerechtigkeit“ muss deshalb die Frage nach der Beteiligung der großen Einkommen und Vermögen an der Finanzierung der öffentlichen Aufgaben stellen: Verschärfung der Progression bei der Einkommensteuer, Spitzensteuersatz, Vermögen- und Erbschaftssteuer. Und für eine nachhaltige Politik bleibt auch die Ökosteuer ein hilfreiches Instrument.
  7. Die europäische Verfassung ist vorläufig gescheitert. Wir sollten deshalb darauf im Grundsatzprogramm nicht ausdrücklich Bezug nehmen. Wir sollten vielmehr unsere eigenen Vorstellungen vom europäischen „Sozialmodell“ und einer Verfassung formulieren, die nicht alle Kompromisse enthalten. Außerdem ist eine Aussage nötig, dass wir zu einem gemeinsamen europäischen Grundsatzprogramm der Sozialdemokratie kommen wollen – mit einer entsprechenden Organisation der SPE.
  8. Nach den Leitsätzen soll neben der gesetzlichen Altersversorgung auch die „betriebliche und die private Altersvorsorge“ weiter ausgebaut und verbreitert werden. Warten wir doch erst mal die Erfahrungen mit der Riester-Rente ab. Aber die Kampagne der Lebensversicherer gemeinsam mit BILD und neoliberalen Wissenschaftlern hat offenbar auch bei uns Früchte getragen: Sie erwecken erfolgreich den Eindruck, dass die gesetzliche Rente nicht „sicher“ sei, damit sie ihre Geschäfte machen können. Aber die gesetzliche Rentenversicherung im Umlageverfahren hat sich bewährt. Kapitaldeckungsverfahren produzieren spätere Altersarmut. Warum sieht sich niemand die Beispiele in Chile und den USA an?
  9. Im Schlusskapitel ist die SPD als „linke Volkspartei“ gleichzeitig „die Partei der solidarischen Mitte“. Lassen wir damit nicht gegen den Rat von Kurt Beck links von uns zuviel Platz für eine neue Linkspartei, die sich dort auf Dauer einrichten könnte? Wir sollten an dieser Stelle sehr sorgfältig über die Semantik nachdenken. Das gilt auch für die Definition des „demokratischen Sozialismus“, der in den Leitsätzen auf die Idee verkürzt wird, dass nicht alles dem „Markt“ überlassen werden dürfe.

Zum Schluss noch ein paar Sottisen an die Adresse der Autoren:

  • Warum nennen wir unter den geistigen Wurzeln unserer Grundwerte zu allererst das „christliche Menschenbild“ und dann erst Humanismus und Aufklärung? Wollen wir Frau von der Leyens Werteerziehung übernehmen?
  • Was ist eigentlich eine „faire“ Globalisierung? Muss dieser Begriff in den SPD-Sprachgebrauch, nachdem seine Erfinder von NEW LABOUR inzwischen offensichtlich am Scheitern sind? Oder könnte man vielleicht sagen: Eine sozial gerechte und ökologisch vernünftige Globalisierung?
  • Der „Lissabon-Prozess“ weist den richtigen Weg. Hier im Landesparteirat wissen natürlich alle, was gemeint ist. Aber die Frage nach diesem Prozess würde gut in Roland Kochs Einbürgerungstest passen. Und mit der „Finanzarchitektur“ sind doch wohl nicht die kapitalistischen Hochhäuser der Frankfurter Banken gemeint?
  • Die SPD will die „Soziale Marktwirtschaft erneuern“. Die CDU will eine „neue soziale Marktwirtschaft“. Dazu gibt es übrigens eine von der Metallindustrie finanzierte grässliche neoliberale Kampagne, in der Medien und Wissenschaftler im Kampf gegen den Sozialstaat gekauft werden. Leider sind da auch Sozialdemokraten tätig. Wir sollten denen mit unseren Begriffen nicht auf den Leim gehen.
  • Der Sozialstaat verfolgt noch zu sehr „nachsorgende Ziele“. Ich finde das im Jahr drei nach Hartz und der Agenda 2010 schon erstaunlich. Ich dachte immer, damit sei der wesentliche Bedarf an sogenannten Reformen erfüllt worden.

Summe: Es gibt viel zu diskutieren, zu redigieren und zu ändern. Machen wir uns an die Arbeit!

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