Jürgen Habermas sieht die EU in einer Lähmungsstarre.

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In einer wenig beachteten Rede anlässlich der Verleihung des Bruno-Kreisky-Preises für das politische Buch 2005 äußerte sich der Philosoph und Sozialwissenschaftler äußerst besorgt über den Zustand und die Entwicklung der Europäischen Union: „Wenn es nicht gelingt, bis zur nächsten Europawahl im Jahre 2009 die polarisierende Frage nach der Finalité, dem Worumwillen der europäischen Einigung zum Gegenstand eines europaweiten Referendums zu machen, ist die Zukunft der Europäischen Union im Sinne der neoliberalen Orthodoxie entschieden.“ Es ist schon denkwürdig, dass das Scheitern des EU-Verfassungsvertrages bei uns keine intensive Debatte um den weiteren politischen Einigungsprozess ausgelöst hat. Das dürfte auch daran liegen, dass eine mächtige Wirtschaftslobby an einem politisch gestaltenden Europa gar nicht interessiert ist, weil sie mit der wirtschaftsliberalen Lissabon-Strategie ihre Interessen im Sinne der neoliberalen Orthodoxie gegenüber den einzelnen Nationalstaaten viel reibungsloser politisch durchzusetzen vermag. Da der Alarmruf von Jürgen Habermas weitgehend ungehört blieb, wollen wir diese Passage aus seiner Rede dokumentieren.

Die Zukunft Europas

Von Jürgen Habermas

Was mich heute am meisten aufregt, die Zukunft Europas nämlich, finden andere abstrakt und langweilig. Warum sollen wir uns über ein so blasses Thema aufregen? Meine Antwort ist einfach: Wenn es nicht gelingt, bis zur nächsten Europawahl im Jahre 2009 die polarisierende Frage nach der Finalité, dem Worumwillen der europäischen Einigung zum Gegenstand eines europaweiten Referendums zu machen, ist die Zukunft der Europäischen Union im Sinne der neoliberalen Orthodoxie entschieden. Wenn wir um eines faulen Friedens willen das heikle Thema vermeiden und uns auf dem üblichen Kompromisswege weiter durchwursteln, lassen wir der Dynamik der entfesselten Märkte freien Lauf und sehen zu, wie sogar die bestehende politische Gestaltungsmacht der Europäischen Union zugunsten einer diffus erweiterten europäischen Freihandelszone abgewickelt wird. Im europäischen Einigungsprozess stehen wir zum ersten Mal vor der Gefahr eines Rückfalls hinter den erreichten Stand der Integration. Was mich aufregt, ist die Lähmungsstarre nach dem Scheitern der beiden Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden. Eine Nicht-Entscheidung in dieser Situation ist eine Entscheidung von großer Tragweite. Über dieses Thema hätte ich in dem Land, das heute den Vorsitzenden des Europäischen Rates stellt, gerne gesprochen, wenn ich nicht die Einladung zur Reflexion auf die Rolle des Intellektuellen erhalten hätte. Zu guter letzt führt mich aber, wie Sie sehen, das eine doch noch zum anderen.

Drei Probleme, die uns auf den Nägeln brennen, verknoten sich in dem einzigen Problem der fehlenden Handlungsfähigkeit der Europäischen Union:

  1. Die weltwirtschaftlichen Bedingungen, die sich im Zuge der Globalisierung verändert haben, verwehren heute dem Nationalstaat einen Zugriff auf die Steuerressourcen, ohne die er die eingewöhnten sozialpolitischen Ansprüche, überhaupt die Nachfrage nach kollektiven Gütern und öffentlichen Dienstleistungen nicht mehr in gebotenem Umfang befriedigen kann. Andere Herausforderungen wie die demographische Entwicklung und eine verstärkte Immigration verschärfen die Situation, aus der es nur einen offensiven Ausweg gibt: die Zurückgewinnung der politischen Gestaltungskraft auf supranationaler Ebene. Ohne konvergente Steuersätze, ohne eine mittelfristige Harmonisierung der Wirtschafts- und Sozialpolitiken überlassen wir das Schicksal des europäischen Gesellschaftsmodells fremden Händen.
  2. Die Rückkehr zu einer rücksichtslos hegemonialen Machtpolitik, der Zusammenstoß des Westens mit der islamischen Welt, der Zerfall staatlicher Strukturen in anderen Teilen der Welt, die langfristigen sozialen Folgen der Kolonialgeschichte und die unmittelbar politischen Folgen einer misslungenen Dekolonisierung – das alles signalisiert eine äußerst riskante Weltlage. Nur eine Europäische Union, die außenpolitisch handlungsfähig wird und neben den USA, China, Indien und Japan eine weltpolitische Rolle übernimmt, könnte in den bestehenden Institutionen der Weltwirtschaft eine Alternative zum herrschenden Washington Consensus fördern und vor allem innerhalb der UNO die überfälligen, einstweilen von den USA blockierten, aber auf deren Unterstützung angewiesenen Reformen vorantreiben.
  3. Die seit dem Irakkrieg sichtbar gewordene Spaltung des Westens hat ihre Ursachen auch in einem Kulturkampf, der die amerikanische Nation selbst in zwei fast gleich große Lager teilt. Als Folge dieser mentalen Verschiebung verrutschen die bisher geltenden normativen Maßstäbe der Regierungspolitik. Das kann die engsten Verbündeten der USA nicht gleichgültig lassen. Gerade in kritischen Fällen des gemeinsamen Handelns müssen wir uns aus der Abhängigkeit vom überlegenen Partner lösen. Auch deshalb braucht die Europäische Union eigene Streitkräfte. Bisher haben sich die Europäer bei Einsätzen der Nato den Anweisungen und Regeln des amerikanischen Oberkommandos untergeordnet. Nun müssen wir uns in die Lage versetzen, auch bei einem gemeinsamen Vorgehen unseren eigenen Vorstellungen von Völkerrecht, Folterverbot und Kriegsstrafrecht treu zu bleiben.
    Deshalb muss sich Europa, wie ich meine, zu einer Reform aufrappeln, die der Union nicht nur effektive Entscheidungsverfahren, sondern einen eigenen Außenminister, einen direkt gewählten Präsidenten und eine eigene Finanzbasis verschafft. Diese Forderungen könnten der Gegenstand eines Referendums sein, das sich mit der nächsten Wahl zum europäischen Parlament verbinden lässt. Die Vorlage gälte als angenommen, wenn sie die „doppelte Mehrheit“ der Staaten und der Stimmen der Bürger auf sich vereinigt. Gleichzeitig würde das Referendum nur die Mitgliedstaaten binden, innerhalb deren sich jeweils eine Mehrheit der Bürger für die Reform entschieden hat. Europa würde sich damit vom Modell des Geleitzuges verabschieden, worin der Langsamste das Tempo angibt. Auch in einem Europa von Kern und Peripherie würden natürlich die Länder, die es vorziehen, einstweilen am Rande zu bleiben, die Option behalten, sich jederzeit dem Zentrum anzuschließen.

Mit diesen Stichworten weiß ich mich in Übereinstimmung mit dem belgischen Ministerpräsident Guy Verhofstadt, der soeben ein Manifest zu den „Vereinigten Staaten von Europa“ veröffentlicht hat. An diesem Beispiel sehen Sie, meine Damen und Herren, dass Politiker, die die Nase vorn haben, Intellektuelle ins Schlepptau nehmen können.

Quelle: Renner Institut [PDF – 44 KB]