Die Legende von der Pleite der DDR

Ein Artikel von Karl Mai

Exbundeskanzler H. Schmidt ließ sich Anfang April in dem umstrittenen Film über Margot Honecker zitieren. Dort stützte er seine Auffassung über die besonders hohe Westverschuldung der DDR als deren Grund für ihren “ausweglosen Untergang“. Dadurch befestigte er die gängige Klischee-Vorstellung der herrschenden Mainstream-Ideologie, die im Widerspruch zum offiziellen Bundesbankbericht von 1999 steht, der u. a. diese Westverschuldung der DDR abschließend und vollständig dokumentierte und bewertete. Von Karl Mai.

Dieser Bundesbankbericht „Die Zahlungsbilanz der ehemaligen DDR 1975 bis 1989“ erschien im August 1999 als Sonderdruck und ist jedermann zugänglich, so dass man erwarten sollte, dass er auch vom ökonomisch beschlagenen Exbundeskanzler zur Kenntnis zu nehmen gewesen wäre. Folgen wir daher zunächst diesem dokumentarischen Bundesbankbericht in einigen Kernaussagen:

Sogleich fällt auf, dass der Bundesbankbericht nirgends von einer besonders hohen oder gar exorbitanten Devisenverschuldung der DDR ausdrücklich ausgeht oder spricht. Seine Darstellung der DDR-Devisenverschuldung zeichnet sich durch große Sachlichkeit und differenzierte Bewertungen aus.

Hier einige markante Zitate aus dem Bericht:

  • „Der Erfolg dieser Exportanstrengungen brachte der DDR im Zeitraum von 1981 bis 1986 einen Überschuss in der Handelsbilanz (gegenüber dem NSW[1]) von 12,4 Mrd. VM[2] ein.“ (S. 41)
  • „Die außenwirtschaftliche Lage der DDR änderte sich abrupt, als 1986 die Erdölpreise zu fallen begannen. Schwierigkeiten im landwirtschaftlichen Sektor (schlechte Ernten) kamen hinzu. Außerdem bemühten sich die DDR-Behörden, durch Einfuhr von Maschinen und maschinellen Anlagen die industrielle Basis zu stärken. Aus all dem resultierte ein deutlicher Anstieg der Einfuhren, so dass im Zeitraum 1987 bis 1989 Handelsdefizite (gegenüber dem NSW) in Höhe von 7,7 Mrd. VM aufliefen.“ (S. 42)
  • …im Zeitraum 1975 bis 1989“ (gab es) „ Zinserträge aus dem Ausland im Betrag von 14,3 Mrd. VM, der Zinsaufwand betrug 45 Mrd. VM. Die Netto-Zinszahlungen an das Ausland – 30,7 Mrd. VM – machten 13,5% der Exporte an das NSW aus.“ „1989 erreichte sie“ (die saldierte Zinslast)“ 2,2 Mrd. VM, das waren 13% der Exporte.“ (S. 45)
  • „Die Verschuldung“ (Verbindlichkeiten der DDR) „bestand überwiegend aus Bankverbindlichkeiten, deren Zunahme im Zeitraum von 1982 bis 1989 zumindest der Größenordnung nach dem von den Banken gehaltenen Liquiditätsreserven entspricht, sowie aus Verbindlichkeiten der Unternehmen gegenüber Lieferanten.“ (S. 59)
  • „Ende 1989 betrug die Nettoverschuldung 19,9 Mrd. VM.“ (S. 59)

Die saldierten DDR-Devisenschulden im Jahre 1989 betrugen also insgesamt 19,9 Mrd. VM, davon 13,6 Mrd. VM aus dem normalen Warenhandel (KD und VW) und 6,3 Mrd. VM aus dem besonderen „innerdeutschen Handel“. (S. 60)

So viel zur Verschuldung und zu den saldierten Zinslasten. Die DDR hatte damals ihrerseits Forderungen an die Devisenländer und eigene Aktiva:

  • „Ende 1981 betrugen die Forderungen gegenüber dem NSW noch 3,2 Mrd. VM, bis Ende 1985 waren sie auf 30,2 Mrd. VM angewachsen. Sie setzten sich zum großen Teil aus Guthaben der DDR-Banken, daneben aus Handelskrediten der Unternehmen sowie in relativ geringem Umfang aus Regierungskrediten zusammen.“ (S. 58)
  • „Aber Ende 1989 lagen sie (die Liquiditätsreserven) immerhin noch bei 29 Mrd. VM und deckten 59,3% der Verschuldung ab. Das Verhältnis der Auslandsaktiva zu den Importen belief sich auf 158%, das heißt sie entsprachen den Einfuhren von 1 ½ Jahren.“ (S. 58)

Dies bestätigt unsere o.a. Aussage, wonach der Verschuldungsumfang in Westdevisen die Existenz der DDR nicht direkt untergrub. Siegfried Wenzel hatte diese Schlussfolgerung wie folgt bekräftigt: „Es war bis Ende der 80er Jahre weder die innere Verschuldung noch die äußere – darunter auch die gegenüber dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet – die die ökonomische Existenz der DDR bedrohten.“ (Wenzel 2005, S. 22) Der konkrete Grund für die Gefährdung der DDR-Wirtschaft und deren Niedergang ist vielmehr im gesamten Kontext der Außenwirtschaft der DDR zu suchen:

Der vor 1981 langjährige negative Außenbeitrag (Export minus Import) wurde in den Jahren danach (bis 1989) durch einen positiven Außenbeitrag in Höhe von kumulativ 50 Mrd. Euro abgelöst (Gerhard Heske 2005, S. 230). Dieser mengenmäßig-materielle Exportüberschuss war am Ende kumulativ höher als das Jahresvolumen 1989 für die Bruttoinvestitionen der DDR (47 Mrd. Euro), und er drückte zwangsläufig und mehrjährig die dann objektiv noch möglichen industriellen Bruttoinvestitionen auf einen niedrigeren Stand. Dazu kam die gegenläufige Wirkung der Veränderungen der Preisrelationen zwischen Export und Import in den 70-80er Jahren. Anfänglich hatte die DDR infolge der vertraglich verzögerten Weitergabe der erhöhten Weltmarktpreise für Rohöl seitens der UdSSR im RGW-Handel beträchtliche Preisvorteile (in Transfer-Rubeln), die zunächst stabilisierend wirkten. Später verkehrte sich der Vorteil für die DDR in einen Nachteil, denn die nunmehr gültigen erhöhten Vertragspreise mit der UdSSR waren bindend.

Danach musste die DDR zwischen 1971 und 1987 aus den generell geänderten Preisrelationen im Außenhandel 22 Milliarden US-Dollar Verluste hinnehmen (Ch. Luft 1996, S. 91). Dies schmälerte wesentlich den finanziellen Nutzeffekt der mengenmäßigen Steigerung ihrer Exporte in der Endphase der DDR.
Der Außenhandelsumsatz zwischen der UdSSR und der DDR von 1979 bis 1985 war wertmäßig auf 245 Prozent angestiegen; das materielle Produkt der Lieferungen der UdSSR an die DDR war jedoch bereits seit 1970 (bei 107 Prozent) stagnierend. (Wenzel 2005, S. 21/22) Die Importpreise (Preisindex) wurden seitens der UdSSR z. B. von 1970 zu 1983 um 304 Prozent erhöht, der Exportpreis-Index konnte im Gegenzug aber nur um 160 Prozent erhöht werden. Die „terms of trade“ für die DDR im UdSSR-Handel hatten sich damit grundlegend verschlechtert. Der Bundesbankbericht von 1999 vermerkte:

„So stiegen die Importpreise für Erdöl aus der UdSSR von 1974 bis 1986 um das 11fache, die Preise für Erdgas um das 7fache. Die DDR konnte die Mehrkosten, die in diesem Zeitraum allein für diese Rohstoffe circa 40 Mrd. VM betrugen, nur zum Teil durch ein Anheben der eigenen Exportpreise ausgleichen.“ (S. 27)

Durch den wirtschaftlichen Niedergang der UdSSR zu Ende der 80er Jahre unter Gorbatschow geriet die DDR-Außenwirtschaft ungewollt zwischen die Kredit- und Preis-Zwänge aus dem Westhandel und die materiellen Lieferkürzungen und das Preis-Dilemma aus dem Osthandel gleichermaßen.

Erst dadurch verlor die DDR-Wirtschaft eine eigene sichere Perspektive und ging tendenziell ihrem ökonomischen Siechtum entgegen. Dies kommt u.a. durch den rückläufigen Materialimport aus der UdSSR seit den 80-er Jahren zum Tragen. In diesen Jahren wurden die sowjetischen Import-Liefermengen abermals rigoros gekürzt,

„so z. B. 1985 zu 1988 bei Zink von 24.000 Tonnen auf 12.000 Tonnen, bei Apatitkonzentrat von 430.000 Tonnen auf 300.000 Tonnen und bei Schnittholz von 1,7 Mio. m3 auf 0,9 Mio. m3. Dazu gehörten auch Lieferrückgänge bei Blei, Manganerz, Chromerz und anderen. Materialien. Die Lieferungen von Steinkohle (im Rahmen eines Umleitungsvertrages aus Polen) sanken von 6 Mio. Tonnen in den sechziger Jahren auf 1 Mio. Tonnen 1987 und 300.000 Tonnen 1988.“ (Wenzel, 2005, S. 22)

Die sowjetischen Lieferverkürzungen wirkten bis zuletzt stark belastend und erhöhten deutlich den äußeren Zwang zu Importen auf Devisenbasis mit relativ hohen Zinsen, der auch im Sinne einer westdeutschen Strategie zur ostdeutschen Wachstumsbeschränkung (mittels Zinslasten) lag. Die westlichen Devisenkredite brachten der DDR neben dem (ambivalenten) Effekt der Verschuldung vor allem die ca. 30 Mrd. VM saldierten Zinslasten in Devisen ab 1975. Jedoch hatte die DDR bis zuletzt ihre Zahlungsverpflichtungen gegenüber dem Westen peinlich genau erfüllt und litt am Ende unter keinerlei Kreditverweigerung der Westbanken.
Das alles sollte auch ein geistig unabhängiger Zeitgenossen, wie z. B. Exbundeskanzler H. Schmidt, letztendlich zum Ausdruck bringen können, wenn von der DDR-Wirtschaft die Rede ist. Siegfried Wenzel verwies darauf hin, „dass das Geschwätz von der Pleite der Wirtschaft der DDR oder des Staates falsch ist; darauf berechnet, die von Kinkel im Anschlussprozess herausgegebene Parole der ‚Delegitimierung der DDR‘ ideologisch-propagandistisch zu untersetzen.“ (Wenzel, 2000, S. 22)

Literaturangaben:

  • Deutsche Bundesbank, „Die Zahlungsbilanz der ehemaligen DDR 1975 bis 1989 [PDF – 226 KB]“, August 1999.
  • Heske, Gerhard, „Bruttoinlandsprodukt, Verbrauch und Erwerbstätigkeit in Ostdeutschland 1970-2000, Köln 2005 (Zentr. f. Historische Sozialforschung, Supplement No. 17)
    Luft, Christa, „Die Lust am Eigentum“, Zürich 1996
  • Wenzel, Siegfried, „Zur Rolle der Ökonomie im finalen Entwicklungsabschnitt der DDR“, in: Pankower Vorträge, „1989 – 1990. Die DDR zwischen Wende und Anschluss“, Berlin 2000, Heft 20;
  • Wenzel, Siegfried, „Zur Rolle äußerer Faktoren für die ökonomische Entwicklung der DDR“, in: Pankower Vorträge, „Die DDR-Wirtschaft in den 80er Jahren“, Berlin 2005, Heft 70

Anmerkung WL: Um den Zusammenbruch der DDR haben sich zahlreiche Legenden gebildet, so wird nach wie vor die Arbeit der „Treuhand“ als Erfolg dargestellt. Dabei sind reihenweise ehemalige DDR-Betriebe unter Wert an westdeutsche und europäische Anleger verkauft bzw. „abgewickelt“ worden, wie z.B. die ZDF-Sendung Frontal 2010 berichtete. Ähnliches gilt für die Verschleuderung der ostdeutschen Banken an westdeutsche Banken auf Kosten der Steuerzahler. Auch dass die DDR bei ihrem Zusammenbruch bankrott war, gehört zu den Legenden, mit der bis heute das niedrigere Wirtschaftsniveau im Osten gegenüber dem Westen begründet und politisch beschönigt wird. Mit dieser Legende wird auch nahegelegt, dass der Zusammenbruch vor allem auch ökonomische Gründe hatte. Damit wird aber die „friedliche Revolution“ als demokratisches politisches Aufbegehren der Bürgerinnen und Bürger der DDR abgewertet.

Wir veröffentlichen diesen Beitrag von Karl Mai nicht um der Rehabilitierung der DDR sondern um der historischen Wahrheit willen.

Karl Mai ist Ökonom und lebt in Halle an der Saale.


[«1] NSW = Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet

[«2] VM = Valutamark

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