Interview mit James K. Galbraith 1/3

Jens Berger
Ein Artikel von:

Die NachDenkSeiten hatten am Rande der INET-Konferenz in Berlin die Chance, mit dem amerikanischen Ökonomen James K. Galbraith zu sprechen. Im ersten Teil des Gesprächs geht es vor allem um Galbraiths neues Buch „Inequality and Instability“, in dem er darlegt, dass ein steigende Ungleichheit nicht nur ungerecht ist, sondern auch zur Instabilität unseres Wirtschaftssystems führt. Galbraiths Vortrag auf der INET-Konferenz ist auch als Video verfügbar. Das Gespräch führten Roger Strassburg (RS) und Jens Berger (JB).

RS: Lassen Sie uns mit Ihrem neuen Buch beginnen. Was uns gleich zu Beginn auffällt, ist das Kartenhaus auf dem Umschlag, was impliziert, dass etwas nicht so ist, wie es sein sollte, dass das System instabil ist.

JG: Eine der wesentlichen Erkenntnisse meiner Arbeit ist, dass das Ausmaß der Ungleichheit ein guter Indikator für Instabilität ist, was durch das Kartenhaus auf der Vorderseite ausgedrückt werden soll.

RS: Sehen Sie Ungleichheit als Ursache von Instabilität, oder nur als Begleiterscheinung?

JG: Das Buch ist ein Werk angewandter Statistik, eine Arbeit der Bemessung, ein Werk, um Muster in den Daten zu erkennen. Es ist sehr schwer, endgültige Aussagen über Ursache und Wirkung aus solchen Anhaltspunkten zu treffen, deshalb bleibe ich bei dem, was ich vorher schon gesagt habe: dass Ungleichheit, was direkt messbar ist, ein sehr guter Indikator für Instabilität ist.

RS: Was auffällt und mich irgendwie überrascht hat war, dass Ungleichheit dem Börsenkurs zu folgen scheint.

JG: In den Vereinigten Staaten ist das mit Sicherheit so, und es gibt einen sehr einfachen Grund dafür – nämlich, dass wir Ungleichheit aus den Steuerunterlagen berechnen. Steuerunterlagen sind Aufzeichnungen steuerpflichtiger Einkommen. Das steuerpflichtige Einkommen am oberen Ende der Pyramide wird effektiv festgelegt und steht damit in sehr enger Verbindung mit den Kapitalgewinnen, den Gewinnen aus Aktienoptionen und Gehaltszahlungen und dem Risikokapital von Börsengängen. Die obersten Einkommen somit sehr stark mit den Vermögenswerten im Aktienmarkt zusammen.

RS: Wie wirkt sich diese Art der Ungleichheit auf das Wohlergehen der Allgemeinheit aus, wenn man bedenkt dass sich die Gehalts-Ungleichheit nicht so stark verändert hat?

JG: Also, grundsätzlich verbessert es die Lebenssituation kurzfristig, da ein Aktienboom mit höheren Investitionen zusammenhängt. Es werden neue Arbeitsstellen geschaffen und es werden mehr Überstunden an die Erwerbstätigen ausgezahlt. Wenn man nun die Einkünfte aus Arbeit von den Kapitaleinkünften trennt, wird diese Art der Ungleichheit sogar weniger während eines Aktienbooms. Ein Musterbeispiel dafür sind die späten 1990ern, wo übergreifend die Ungleichheit enorm anstieg aufgrund des NASDAQ-IT-Booms, aber die Ungleichheit in der erwerbstätigen Bevölkerung verringert sich durch die dadurch ausgelöste wirtschaftliche Aktivität. Daran ist folglich nichts Geheimnisvolles. Deshalb bin ich der Meinung, dass die Betonung nicht auf der Auswirkung von Ungleichheit auf des allgemeine Wohlergehen, sondern auf deren Auswirkung auf die Instabilität liegen sollte.

RS: Vermuten Sie da einen ursächlichen Zusammenhang?

JG: Noch einmal, was ich in den Daten gefunden habe ist, dass sehr schnell steigende Ungleichheit, was man messen kann, zusammenhängt mit Kreditbooms, welche wiederum von Kreditkrisen abgelöst werden.

RS: Hat der Kredit-Boom Reichtum von unten nach oben bewegt?

JG: In einem Kredit-Boom steigen die Einkünfte der Personen an der Spitze, welche, wie schon erwähnt, aus ihren Steuerunterlagen berechnet werden, enorm, da sie riesige Kapitalgewinne erfahren.

JB: Wohin fließt dieses Geld? Wenn man die obersten Einkommen betrachtet, die zum großen Teil von den Aktienmärkten stammen – wo kommt dieses Geld her? Von den Arbeitnehmern?

JG: Das Geld, welches mit dem Kredit-Boom im Zusammenhang steht, wird zum Großteil durch den Prozess der Kredit-Tilgung erzeugt, es kommt nicht aus den Taschen der ärmeren Leute, es ist keine feste Geldmenge, dies ist der Mechanismus der instabilen Kreditwirtschaft.

RS: Dann ist dieses Geld im Grunde genommen virtuell – oder?

JG: Geld ist eine Funktion in einer Tabellenberechung, in gewisser Weise ist alles Geld virtuell. Ihre Bank hält auch kein Bündel Geldscheine mit Ihrem Namen darauf.

RS: Was ist die Verbindung zwischen Ungleichheit und Armut? Gibt es eine Verbindung zwischen Ungleichheit und Armut oder sind sie einfach zwei unabhängige Dinge? Wenn wir an Ungleichheit denken, denken wir an Armut. Aber ist dies wirklich das Gleiche? Gehören sie zueinander?

JG: Ich denke man sollte dort unterscheiden. Im Fall der USA war, wie ich schon sagte, unser Wachstum von der höchst instabilen kreditgetriebenen Variante. Die Armutsrate verringerte sich während der Booms und stieg im Abschwung, sie unterscheidet sich also von den Ungleichheitszahlen, die aus den Steuerunterlagen berechnet werden. Auf der anderen Seite repräsentiert sie die Nachfrage nach Arbeit bei der unteren Hälfte der Einkommen, da die Stunden, die man gesondert für Einkommensungleichheit messen kann, sehr eng mit den Stunden zusammenhängen, die in den schlechter bezahlten Stellen gearbeitet wird. Die Anzahl der von ihnen besetzten Arbeitsstellen, die Stunden die in jeder dieser Stellen gearbeitet wird, all dies überträgt sich direkt auf das wöchentliche Einkommen – und während eines Booms steigen diese natürlich.

JB: Wie misst man Armut? Ist Armut nur eine statistische Größe?

JG: Es gibt viele Möglichkeiten Armut zu messen, aber es gibt keinen Zweifel daran, dass diese während der Booms zurückgingen. Kein Zweifel. Gegen Ende der 1990er waren die Armutsraten in den Vereinigten Staaten auf einem absoluten Minimum. Das war eine direkte Folge der Tatsache, dass man drei Jahre Arbeitslosigkeitsraten unter vier Prozent hatte. Über die Verteilung der Mittel kann man unterschiedlicher Auffassung sein. Hätte man etwa besseres finden können, als sie alle in Internet-Firmengründungen zu stecken, die dann Pleite gingen? Das Problem dieser Zeit war jedoch nicht die Armutsfrage, sondern dieser Zeit war dass das Wachstum auf einem sehr instabilen Fundament gebaut war.

RS: Also ist im Grunde ist der Kredit, der alles instabil macht, die übermäßigen Kredite…

JG: Ja, ja, ja, das ist genau der Punkt.

RS: …und die Tatsache, dass das Finanzsystem so riesig geworden ist. Wie hoch ist der Anteil der Finanzwirtschaft am BIP?

JG: Nun, zehn Prozent der Einkommen oder ungefähr vierzig Prozent der Gewinne.

RS: Ist das übermäßig?

JG: Ich denke, dass ist übermäßig, ja, sicher.

RS: Was denken Sie wäre eine vernünftige Menge? Ab wann wird es übermäßig?

JG: Nun, betrachtet man die Zahlen, ging es uns vor zwanzig, fünfundzwanzig Jahren ziemlich gut. Es gibt kaum Gründe anzunehmen, dass sich die Wirtschaft so gewandelt hat, dass der Finanzsektor jetzt so viel wichtiger ist. Tatsächlich hat der Sektor einen Weg gefunden, sich in einem sehr viel größeren Teil der wirtschaftlichen Transaktionen durchzusetzen als dies zuvor der Fall war.

JB: Was kann die Politik tun, um die Ungleichheit zu verringern?

JG: Ich denke es gibt viele unterschiedliche Dinge, die man tun könnte. Man könnte die Gehälter regulieren, man könnte höhere und stabilere Tarife fördern, die gesamte Struktur der Sozialversicherung und –leistungen reduziert die Ungleichheit. Und man kann die Ausmaße und Aktivitäten des Finanzsektors reduzieren. All diese Dinge würden eine Verringerung der Ungleichheit in unterschiedlichen Teilen ihrer Verbreitung unterstützen.

JB: Wie hoch sollte der Spitzensteuersatz für Spitzengehälter sein?

JG: Ich spreche von Ungleichheit vor Steuern. Natürlich wirkt sich das Steuersystem darauf auch aus, selbstverständlich.

JB: In Frankreich fordert beispielsweise …

JG: Das war schon immer eine interessante Diskussion unter Wirtschaftswissenschaftlern, deren professionelle Überzeugung es war, dass man, egal welche Verteilung sich vor Steuern ergibt, diese zulässt, um sie dann durch das Steuersystem neu zu verteilen, und ich fand das noch nie sehr überzeugend. Ich denke, was wirklich passiert, ist, dass die Verteilung vor Steuern im wesentlichen ein regulierendes Ergebnis, ein Produkt zuvor getroffener sozialer Entscheidungen, ist. Es hat, unter anderem, mit Mindestlöhnen, dem Stand der Gewerkschaften und unglaublich vielen anderen gesellschaftlichen Faktoren zu tun. Eine akzeptable und gerechte Verteilung vor Steuern zu haben ist um ein vielfaches stabiler, als diese im nachhinein durch Steuerschlüssel wieder auszugleichen, da es einen ungeheuren politischen Widerstand dagegen geben wird nachdem man ihnen einmal soviel Einkommen vor Steuern zugestanden hat.

RS: Natürlich, doch wenn wir einmal in die Nachkriegszeit schauen, dort hatten wir teilweise sehr hohe Spitzensteuersätze, über 90 Prozent.

JG: Die nur auf einige sehr wenige Leute angewandt wurden.

RS: Aber auch jetzt würden Sie nur auf einen sehr kleinen Teil angewandt werden – das oberste Prozent oder Zehntel eines Prozents.

JG: In den USA gab es in den 80er Jahren eine schrittweise Reform, die von Bill Bradley und Dick Gephardt im Kongress entwickelt wurde. Man wollte die Spitzensteuersätze senken, indem man die Basis erweitert, da das System der sehr hohen Spitzensteuersätze so sehr von Schlupflöchern und Ausnahmen durchsetzt war, dass die Spitzenverdiener diese im Großen und Ganzen gar nicht zahlten – außer sie gehörten zu dieser speziellen Spezies, wie beispielsweise der berühmte Sportler Bill Bradley oder Jack Kemp, der zu dieser Zeit auch Mitglied des Kongresses war. Sie zahlten sehr hohe Steuersätze auf die Einkünfte, die sie rein durch Lohn oder Gehalt erhielten. Aber wenn man in irgendeiner Form geschäftlich tätig war, hatte man einen Bergbau-Freibetrag oder einen Holz-Freibetrag oder irgendeinen anderen verdammten Freibetrag der einen davor bewahrte.

RS: Es scheint überall so zu sein, dass Löhne und Gehälter am Ende höher besteuert werden als andere Einkünfte. Das scheint in jedem Land zu passieren.

JG: Das mag schon sein, aber das Ziel der 86er-Gesetze war, den Satz an der Spitze zu verringern aber die Basis zu erweitern um beispielsweise steuereinkommensneutral zu bleiben, was es schließlich auch zum Großteil war. Ich glaube, dass die Langzeitauswirkungen der 86er-Gesetze erst jetzt von den Ökonomen erkannt werden. Ich glaube eine der wichtigsten Dinge die sie veränderten – und das trifft auch auf die vorherigen reaganschen Steuersenkungen zu – war, den Unternehmen einen starken Anreiz zu geben, Erträge direkt in die Führungsetagen umzuleiten. Ich denke, der „CEO-Boom“ war zum Teil das Ergebnis der Beschneidung der Grenzsteuersätze. Das hatte sehr schädliche Auswirkungen auf die Firmenführung in den Vereinigten Staaten. Ich habe darüber in einem früheren Buch „The Predator State“ geschrieben und ich erhalte jetzt die ersten Kommentare dazu. Ich weiß dass Thomas Piketty zu der selben Schlussfolgerung gelangt ist.

RS: Wie konnte das passieren? Ich kann das nicht ganz nachvollziehen.

JG: Nun, wenn man einen hohen Grenzsteuersatz hat, dann hat man einen hohen Anreiz, Erträge innerhalb der Unternehmen zu halten und den Unternehmenssteuersatz zu bezahlen, um die zurückbehaltenen Erträge dann so zu verwenden, dass dies der Wertschöpfung der leitenden Angestellten zugute kommt. Man baut einen Wolkenkratzer mit tollen Dachwohnungen, man hat einen Firmenjet, all dies wird in der Art wie sich große Firmen in den 50er und 60er Jahren in den USA präsentiert haben widergespiegelt. Und sie haben aufgehört Wolkenkratzer zu bauen – wann wurde der letzte gebaut? Wahrscheinlich das World Trade Center 1970. Danach kam nur sehr, sehr wenig. Die Unternehmen begannen hauptsächlich, Anlagen zu bauen, welche viel günstiger sind, und stattdessen das Geld direkt in die Taschen Ihrer Chefetagen zu pumpen.

RS: Okay, das macht Sinn.

JG: Das ist, was passiert ist. Ich weiß nicht ob dies von den Autoren der Steuersenkungen der 80er auch vollkommen so vorhergesehen wurde.

RS: Es ist nichts was einem ins Auge sticht, es ist nicht offensichtlich.

JG: Es mag nicht vollkommen offensichtlich sein, doch mag es offensichtlich wohl Leute in der Industrie gegeben haben, die dieses Ziel durchaus im Auge hatten. Doch mit Sicherheit hat es sich im Nachhinein entwickelt und rückblickend scheint es ziemlich deutlich.

RS: Was denken Sie sind die Auswirkungen des „CEO-Booms“ auf die Wirtschaft? Setzt er die falschen Impulse?

JG: Primär erzeugt er eine sehr kleine Gruppe von, sagen wir, „selbsternannten Führungskräften“, welche sich zum Großteil aus eigenem Antrieb aus dem technischen Betrieb herausgelöst haben – d.h. sie sind hauptsächlich Finanzleute. Ich denke, das hat eine sehr erhebliche Auswirkung darauf, wie große amerikanische Unternehmen arbeiten. Es hat sie sehr viel verwundbarer für „Gesundschrumpfungen“ gemacht, ihre technischen Tätigkeiten werden der finanziellen Ergebnisse wegen manipuliert.

RS: Wenn man dies mal beurteilt, ist dies doch ein ziemlich schlimmes Resultat.

JG: Ja, ich glaube das ist mit Sicherheit ein schädliches Ergebnis.

RS: Glauben Sie, es gibt eine Möglichkeit das zu ändern, es gibt ja mit Sicherheit Widerstand dagegen?

JG: Nun es gibt immer eine Möglichkeit etwas zu ändern.

RS: Eine realistische Möglichkeit wäre?

JG: Mein Job ist es nicht, die Realisierbarkeit von Möglichkeiten einzuschätzen. Ich bin der Meinung, dass es meine Aufgabe als Ökonom ist, zu versuchen, die Auswirkungen politischer Entscheidungen zu beschreiben und dabei zu helfen, fundierte Entscheidungen zu treffen – über das, was sie gerne an Veränderungen in der Zukunft sehen wollen.

RS: Eine der offensichtlicheren Änderungen, die einem als machbar erscheinen, wäre, Hedge-Fund-Manager so zu besteuern, als wenn sie echtes Einkommen hätten. Doch das scheint politisch nicht möglich zu sein.

JG: Worauf wollen sie hinaus?

RS: Der Punkt ist…

JG: … reiche Leute haben Einfluss? Ja, okay, das wissen wir alle. (lacht)

RS: … weshalb ich die Realisierbarkeit überhaupt etwas ändern zu können in Frage stelle.

JB: Ich habe eine Frage zu den Spitzengehältern der Top-Manager. Wenn man den deutschen Durchschnitts-Ökonom dazu befragt, sagt er, dies sei ein absolut normales Marktverhalten – Angebot und Nachfrage. Sie erklären diese Gehälter sogar mit den Mechanismen des Arbeitsmarkts. Was halten Sie von dieser Theorie?

JG: Man müsste fragen, wie es dazu kam, dass die Top-Manager plötzlich alle möglichen Fähigkeiten entwickelt haben, die sie vor dreißig Jahren noch nicht hatten als ihre Unternehmen mächtiger und stabiler und bedeutendere Wirtschaftsfaktoren waren als sie es jetzt sind. Es ist ziemlich schwer, dies anhand eines in sich selbst geschlossenen Logik-Kreises, wie Sie ihn beschrieben haben, zu erklären.

Der zweite Teil des Interviews folgt in Kürze. Das Transskript in englischer Sprache finden sie hier als PDF [75 KB].

Bei der Übersetzung ins Deutsche half uns unser Leser Tammo Mueller.

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