Warten auf Niveau: Ein Kulturinfarkt und andere Gebrechen

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Die Erregung in der Kulturszene steigt derzeit mit jeder Schlagzeile. Die Oper in Duisburg ist gefährdet. In Köln droht „erstmals seit 1943/44 die Absage einer kompletten Theatersaison“, so Kölns Opernintendant Uwe Eric Laufenberg. Die Oberbürgermeister von Düsseldorf und Bonn denken wechselweise über eine Kooperation ihrer Bühnen mit Köln nach und gefährden damit angeblich die „Identität“ ihrer Kulturmetropolen. In Berlin kämpft das Grips-Theater mehr denn je ums Überleben. Mit dem aktuellen Tarifabschluss für den Öffentlichen Dienst drohen eine Steigerung der Personalkosten und weitere Pleiten. Und dann gibt es auch noch dieses heiß diskutierte Buch, das dem subventionierten Kulturbetrieb einen „Infarkt“ voraussagt und das nach Meinung vieler Medien „die Debatte des Frühjahrs“ angestoßen haben soll. Von Wolfgang Hippe*

Wenn Haushaltsverhandlungen anstehen, häufen sich in aller Regel die Meldungen über vermeintliche oder drohende Finanzkatastrophen bei großen Kulturinstituten. Ansonsten ist Kulturpolitik ein eher marginales Politikfeld, dessen strategische und perspektivische Debatten nur eine begrenzte Aufmerksamkeit zu Teil wird. Gemeinhin begnügt man sich mit dem Hinweis auf die reiche Kulturlandschaft hierzulande, um die uns alle Welt beneidet und die nicht angetastet werden darf. Dazu versichert man sich und anderen: Kultur kann es nicht genug geben. Mit ihrem heftig umstrittenen Buch „Kulturinfarkt Von allem zu viel und überall das Gleiche“ haben die vier Autoren Haselbach/Klein/Knüsl/Opitz nun gewagt, schon länger bekannte Strukturprobleme dieser Kulturlandschaft polemisch aufzumischen und damit den stillen Grundkonsens unter deutschen Kulturpolitikern nachhaltig gestört. Vor allem, weil sie kritische Argumente an der üblichen kulturpolitischen Community vorbei einer breiteren Öffentlichkeit zugetragen haben.

Dabei präsentieren Haselbach/Klein/Knüsl/Opitz erst einmal nur ein „Gedankenexperiment“. Was wäre, fragen sie, wenn wir die institutionelle Kulturförderung halbieren und die frei werdenden Mittel einsetzen, um andere kulturelle und kreative Aktivitäten zu unterstützen, den weiteren Aufbau einer weltweit wettbewerbsfähigen Kultur/Kreativwirtschaft eingeschlossen? Allein mit dieser abstrakten Fragestellung scheinen die Vier gleich mehrere Tabus deutscher Bildungsbürger, Kulturpolitiker und saturierter Redakteure angekratzt zu haben – so entschieden und unbedacht äußern ihren Widerwillen sonst nur die sogenannten „Wutbürger“. Das Buch wird zu einer „Bedrohung“ und einem „Sprengsatz“ für die bundesdeutsche Kulturlandschaft insgesamt stilisiert. Die Berliner „Akademie der Künste“ bezeichnet es in einem Aufruf als „Kampfinstrument gegen eine Gesellschaft“ (!), die zu ihren Kulturinstitutionen steht, und fordert ultimativ zur Verteidigung der „kulturellen Errungenschaften“ auf. Auf Nachfrage mochte sie freilich nicht bestätigen, dass die Unterzeichner des Appels das Buch auch tatsächlich kannten. Viele Artikel sind von zum Teil heftigen Beschimpfungen der „Infarkt“-Autoren durchsetzt. Worte wie „hirnrissig“, „unausgegoren“ oder „bescheuert“ fallen. Der zuständige Berliner Staatssekretär, der u.a. für Stundenlöhne von 5,50 Euro für Kulturarbeiter verantwortlich zeichnet, sah „weitgehend unbekannte Professoren und Kulturbetriebsarbeiter … aus dem Busch“ am Werk.
Der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates diagnostizierte bei allen vier Autoren nicht nur „Bulimie“, sondern als praktizierender Amateurpsychologe auch noch ihre ödipale Prägung. Alle vier Autoren seien von dem Wunsch beseelt, ihre kulturpolitischen (?) Väter zu meucheln. Zugleich seien sie von „einer merkwürdigen Sehnsucht nach Lichtgestalten“ getrieben. Nun gilt der Vatermord allenthalben als Urverbrechen, mit dem auch die überkommene Ordnung zerstört wird. Doch der klassische Mythos ist mehr als doppeldeutig. Er handelt nicht nur von Mord und Inzest, sondern auch von Rettung: Ödipus befreit Theben von der Sphinx, die das Leben in der Stadt zu ersticken droht.

Der SPD-Spitzenkandidat in der eben abgehaltenen Schleswig-Holstein-Wahl wertete das Buch als „eine degenerierte Auffassung von satten, dummen, blöden Menschen, die nicht erkennen, was Kultur für Deutschland bedeutet“. Unter „Degeneration“ wird gemeinhin ein krankhafter Funktionsverlust in medizinischer, biologischer oder sozialer Hinsicht verstanden. Zu diesen biologistischen Anleihen passt der Versuch, den „Kulturinfarkt“ in die Nähe der Sarrazin-Machwerke zu rücken. Trotz intensiver Lektüre ließ sich bei Haselbach&Co allerdings keine Stelle nachweisen, die den Status eines Bildungsbürgers durch genetische Disposition erklärt. Dass es auch ganz ohne erbbiologisches Argument geht, bewies zur gleichen Zeit die „Zeit“. Was ist schlimm daran, dass nur 5 Prozent der Bevölkerung die Angebote der Hochkultur regelmäßig nutzen? fragte das Blatt. Auch beim Konsum muss sich Elite zeigen.

Gegen die zitierten Ergüssen berufsbedingter Erregtheit setzt sich eine andere, weniger populistisch daher kommende Kritikergruppe geradezu wohltuend ab. Anders und viel eleganter versuchte etwa die FAZ, die sich abzeichnende Debatte unter den Teppich zu kehren. „Niemand wird bestreiten, dass die Subventionsbürokratie viel zu behäbig ist und reformiert werden muss“, war da zu lesen. „Aber all das reicht – eben weil es keine neuen Erkenntnisse sind und weil kaum jemand diesen Punkten widersprechen würde – noch nicht, um ein ganzes Buch zu füllen.“ Oder anders ausgedrückt: warum diese ganze Aufregung? Kennen wir doch alles, ist nichts Neues dran, widmen wir uns doch anderen Dingen. Auch anderswo wird den Autoren ab und an attestiert, dass sie bei ihrem Gedankenexperiment „wichtige Fragen“ stellen. Welche das sind, wird freilich regelmäßig ausgespart.

Fachdebatten
In der Tat knüpft der „Kulturinfarkt“ an Diskussionen an, die schon länger geführt werden, aber kaum in eine breitere Öffentlichkeit gelangten. Etwa, wenn die Autoren die Planlosigkeit der Kulturpolitik geißeln: „Eine Verständigung darüber, welche kulturellen Ziele mit welchen Mitteln erreicht werden könnten, war nicht gewollt.“ Oder den hermetischen Begriff von „Qualität“ im rasenden Kulturbetrieb problematisieren und sich auch dagegen wenden, Kultursubventionen immer wieder als „Investitionen (in die Zukunft)“ zu bezeichnen: „Aus betrieblicher Sicht sind Investitionen Ausgaben, die dazu führen sollen, dass zukünftig größere Einnahmen dem Betrieb zufließen. … Allen Investitionen ist gemeinsam, dass sie sich in Geld rechnen sollen.“ Etwa, wenn sie die herrschende Wachstumsideologie in der Kulturpolitik aufspießen, wonach der unentwegte Ausbau der kulturellen Infrastruktur zur Befriedigung kultureller Interessen unabdingbar ist. Etwa, wenn sie die Tarifgefüge an den öffentlichen Theatern kritisieren: „Sie zeigen, dass es hier nicht um Kunst und Kultur geht, denn die Schauspieler, Sänger und Tänzer haben die schlechtesten Verträge, die Verwalter, Bühnenarbeiter, Choristen und Musiker die besten.“ (Ein Schauspieler verdient nach Tarif etwa so viel wie eine Verkäuferin.) Auch die von Kritikern gerne und energisch als „neoliberal“ gegeißelte Forderung nach einem Mehr an Markt in Sachen Kultur ist seit der Wiederentdeckung der Kultur/Kreativwirtschaft in den 1980er und 1990er Jahren Teil des Diskurses. Schon Rembrandt war Unternehmer, ohne Kunstmarkt könnten Bildende Künstler nicht überleben. Dass „Markt“ hier oder beim Film grundsätzlich „Qualität“ verhindern würde, ist eine schon dümmliche, aber gern gepflegte Attitüde. So sind auch Kunstmuseen genuiner Teil des Kunstmarktes. Die Teilnahme an einer Ausstellung steigert den Marktwert eines Künstlers, die museale Präsentation der Klassiker stabilisiert das von ihnen auf Auktionen erreichte Preisniveau. Auch der hochsubventionierte Opernbetrieb kommt ohne „Markt“ nicht aus. Gerade das Buchen der sogenannten Großen Stimmen ist anders gar nicht möglich. Opernsänger werden über internationale Agenten und Agenturen vermittelt, die marktorientiert und oft weltweit agieren. Auch hier gibt es Oligopole. Kurz, es geht längst nicht mehr um einen Gegensatz von Markt und „Kultur“, sondern wesentlich um ordnungspolitische Rahmenbedingungen.

In weiten Teilen der Fachdiskussion herrscht so weitgehend Konsens, dass das kulturpolitische Feld mindestens in Teilen dringend überholt werden muss – vorausgesetzt, man versteht Kulturpolitik als gesamtgesellschaftliche Aufgabe und sieht sie nicht als Hüterin der großen Leuchttürme der Staatskultur und als Bewahrerin überkommener Strukturen. In der breiteren Öffentlichkeit spielten derartige Überlegungen freilich kaum eine Rolle. Hier dominiert ein kulturpolitischer Kampagnenlobbyismus. Dazu nur zwei aktuelle Beispiele von vielen.

Ausgebombt!
Im Frühsommer des Jahres 1944 verfügte Joseph Goebbels kriegsbedingt die Schließung der deutschen Theater zum 1. September. Stalingrad war lange gefallen, die Alliierten in der Normandie gelandet, viele Städte im Reichsgebiet lagen in Schutt und Asche, der Holocaust und der Völkermord an anderen ethnischen Minderheiten lief auf Hochtouren. Was mag den Kölner Opernintendanten Uwe Eric Laufenberg geritten haben, um im laufenden Streit um die Höhe des Kölner Opernetats auf die Goebbelsche Direktive zu verweisen und davor zu warnen, dass in Jahr 2012 „erstmals seit 1943/44 (wieder) die Absage einer kompletten Theatersaison in einer deutschen Stadt“ auf der Tagesordnung stehe? Schließlich fielen keine Bomben auf Köln und Laufenberg wollte nur die Erhöhung seines Opernetats um 5 Millionen auf knapp 35 Millionen durchsetzen. Auch als die Stadt ihm schließlich entgegen kam und den ursprünglichen Ansatz erhöhte, reichte ihm das nicht. Seine Attitüde des Alles oder Nichts stieß sogar beim Deutschen Bühnenverein, dem Zusammenschluss der deutschen Stadttheater, auf Befremden. Geschäftsführer Rolf Bolwin ließ verlauten, die Debatte schade dem Theater, „weil der Eindruck entsteht, man könne mit 32 Millionen Euro kein Opernprogramm machen“.

Im überregionalen Qualitätsfeuilleton fand sich davon nichts. Stattdessen brach sich ein Sturm der Entrüstung Bahn. Die Weigerung der Stadt, weitere Millionen zu zahlen, sei „geradezu hanebüchen“. Immerhin saniere Köln doch gerade seine Bühnen für 250 Millionen, befand etwa Opernnetz.de. Man dürfe nicht „den Fortbestand der Oper aufs Spiel“ setzen, mahnte die FAZ und sprach von einem „unwürdigen Hin und Her“. Von „kleinlichem Gezänk ums Geld“ war allenthalben die Rede. In einem Punkt war man sich schnell einig: die Oper müsse „vor der Politik gerettet“ werden. Gottfried Honnefelder, der Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, brachte es in einer Podiumsdiskussion zum Thema auf den Punkt: „Das Schlimmste, was man Kultur antun kann, ist Kulturpolitik zu betreiben!”

Das kann man so sehen, ob es realitätstauglich ist, ist eine ganz andere Frage. Denn bei genauerem Hinsehen wird im Kölner Fall ein bizarrer Streit darüber sichtbar, welchen Verpflichtungen Opernintendanten als „städtische Angestellte“ eigentlich nachkommen müssen (und sollten). Nun sind die Kölner Bühnen als sog. Eigenbetrieb organisiert, an deren Spitze die Intendanten von Schauspiel und Oper sowie ein Geschäftsführender Direktor stehen. Das Triumvirat arbeitet gleichberechtigt und nach dem Konsensprinzip. Zu seinen wesentlichen Aufgaben gehört die Erstellung eines Wirtschaftsplans, der die Höhe des Betriebskostenzuschusses benennt und der dem Rat der Stadt zur Entscheidung zugeleitet wird. Mitte Mai 2012, also zum Zeitpunkt der öffentlichen Erregung über den möglichen Saisonabbruch, gab es seitens der Bühnen weder Wirtschaftspläne für die Spielzeit 2010/2011 noch für 2011/2012. Oder anders ausgedrückt: keine belastbaren Zahlen, auf deren Basis eine Entscheidung des Rates (und damit der Politik) hätte erfolgen können. Ein möglicher Grund dafür: Etatüberziehungen durch Laufenberg.
Schließlich versuchte die Stadtspitze, ihr finanzpolitisches Dilemma durch eine „Dringlichkeitsentscheidung“ zu beseitigen, um die Finanzierung der anstehenden Spielzeit handhabbar zu machen. Für den Spielbetrieb der Oper wurden ca. 32 Mio., für das Schauspiel ca. 18,5 Mio. vorgesehen. Eine etwas fragwürdige Taktik, denn „Dringlichkeit“ darf normalerweise nur festgestellt werden, wenn auf die Stadt ein „unvorhersehbares“ Ereignis zukommt. War damit vielleicht die so lange ausgebliebene Vorlage eines Wirtschaftsplans der Bühnen gemeint? Neben dieser schon realsatirischen Verfahrenslage gab es Gerüchte über Etatüberziehungen durch die Kölner Oper und Defizite auch beim Schauspielhaus, Hinweise auf informelle Zusagen einzelner Politiker zu Etaterhöhungen und kleine Dementis, Irritationen über vermeintliche und tatsächliche Vertragsabschlüsse mit SängerInnen, verhaltene – und natürlich informelle – Forderungen nach der Kürzung der Mittel für die Freie Theaterszene oder für die Kölner Philharmonie zugunsten der städtischen Häuser. Begleitend lief die schon oben erwähnte Pressekampagne an, die wacker für die Oper und gegen den Untergang des Abendlandes stritt und sich dabei auf beliebige, natürlich informelle Zahlen berief. Auch Schauspielintendantin Karin Baier versucht derweil, „ihr Theater zu retten“, wie sie die Welt verbreiten ließ. Doch sie beherrscht im Gegensatz zur anderen auch die Kunst des Understatements. „Hier kann man so schön streiten“, sagt sie über Köln. „Weil alle ein bisschen kriminell sind. Und wir wissen das voneinander.“ Jetzt kann man gespannt sein, ob für Kölns Hochkultur – fehlende Belege hin oder her – immer noch der alte Satz gilt: „Eine Million geht immer.“ Nach der neuesten Rechnung von Kölns Kulturdezernent Georg Quander hat die Oper inzwischen „in der Tat fast 40 Millionen zur Verfügung“. Es ist auch die Rede davon, dass das bisherige Handling der Bühnen teilweise „rechtlich gar nicht zulässig“ war.

Auf die Knie!
Die Geschichte der in Berlin installierten Sammlung Berggruen ist ein anderes Lehrstück für die Praktiken des Kulturbetriebs, in diesem Fall im Museumsbereich. Im Jahr 2000 kaufte die Stiftung Preußischer Kulturbesitz die Kunstsammlung des dann 2007 verstorbenen jüdischen Journalisten, Kunsthändlers, Stifters und vielfachen Millionärs Heinz Berggruen für 253 Millionen DM, für sie wurde dann für rund 25 Millionen ein Museum eingerichtet. Alles in allem ein „fairer Deal“, befanden die fachkundige Presse wie die engagierte Kulturpolitik. Im Herbst 2011 erschien dann eine Biografie des Stifters, in der die Kunsthistorikerin Vivien Stein dieses Urteil anzweifelte. Man habe sich von Berggruen teilweise über den Tisch ziehen lassen, bilanzierte sie. So habe der damalige Chef der Berliner Staatskanzlei und heutige Berliner Kulturstaatssekretär beispielsweise darauf verzichtet, die Berggruen-Bilder von unabhängigen Gutachtern bewerten zu lassen und allein auf die überhöhten Preisangaben des Stifters vertraut. Die Berliner Politik hatte seinerzeit den Ankauf als „eine unverdiente Gnade für uns Berlinerinnen und Berliner“ gefeiert.

Vorausgegangen war dem eine beispiellose Pressekampagne, die Berggruen zu einer Ikone der deutsch-jüdischen Versöhnung aufbaute – „Versöhnung durch Kultur“, titelte etwa das Handelsblatt und schrieb von „einer jüdischen Sammlung“ auf dem Weg nach Berlin (was ist „jüdisch“ an Cezanne, Picasso, Matisse? wagte Stein zu fragen). Er sei „Symbolfigur in der Aussöhnung der deutsch-jüdischen Geschichte“, meinte die BZ. Ein „Verfolgter bringt die klassische Moderne zurück“, fabulierte der Tagesspiegel. Die FAS feierte ihn gar als ein „Geschenk des Himmels“. Das publizistische Fazit muss freilich der „Welt“ und damit dem Hause Springer vorbehalten bleiben: „Dass ein Berliner Jude und Weltbürger nach sechs Jahrzehnten zurückgekommen ist nach Deutschland“, war da zu lesen, „noch dazu mit jener Kunst, von der nach dem Bildersturm der Nazis wenig übrig war in Berlin, das hat etwas ungemein Beruhigendes.“ Den Verkauf seiner Bilder bezeichnete Berggruen schließlich als „Geste der Versöhnung“ – die Hauptstadtpresse sprach im Gegenzug von einer „Spende“, weil er die Bilder angeblich „weit unter Wert“ hergegeben habe.

Vor diesem Hintergrund war es wenig verwunderlich, dass die kritische Biografie von Stein vorzugsweise mit Vokabeln wie „infam“ und „perfide“, „niederträchtig“ und „wirr“ belegt wurde. Der Autorin des „Machwerks“ wurde en passant vorgehalten, sie sei zuvor „als Autorin nicht hervorgetreten“. Und sie habe ihre Untersuchung erst nach dem Tod von Berggruen veröffentlicht – so könne sich der gegen die Publikation nicht mehr wehren (sic).
Im Rückblick scheint weniger die Person Berggruen Anlass für das veröffentlichte Interesse gewesen zu sein als vielmehr die Rolle, die ihm von deutschen Feuilletonisten und Kulturpolitikern beharrlich nahegelegt wurde und derer er sich schließlich durchaus folgerichtig und im eigenen Interesse bediente. So hatte Berggruen zunächst mehrfach und vergeblich Berichte dementiert, wonach er 1936 vor den Nazis geflohen sei. „1936 wanderte ich nach Kalifornien aus. Die Presse berichtet immer wieder, ich sei geflohen oder die Nazis hätten mich verjagt“, schrieb er etwa. „Beides stimmt nicht, ich ging aus freien Stücken, allerdings war es, wie sich später zeigte, keine unkluge Entscheidung.“ Dieses selbstironische Unterstatement prägte auch andere seiner Äußerungen. So etwa, als er 2001 einen Reporter des „New Yorker“ empfing. Gegenüber dem US-Journalisten würdigte er die Reaktionen des Berliner Publikums auf sein Museum. „They get down on their knees”, erklärte er und fügte hinzu: “Sometimes it’s a bit too German. You know, they did that also for Hitler. ‘Your wonderful pictures, it’s so herrlich.’ Sometimes I’m tempted to say to them, ‘You were the same people who said Hitler was herrlich, nicht?’

Nachdem die erste öffentliche Erregung über die Biografie abgeflaut war und die kritischen Kritiker genauer hinsahen, mussten sie zugestehen, dass die von Berggruen selbst veröffentlichten und von Stein vehement kritisierten Memoiren „auf weiten Strecken erfunden, zurechtgebogen und geschönt“ waren, er „zum eigenen Vorteil fabulierte“ und „zweifellos eine schillernde Figur“ war, so die FAZ. Man erinnerte sich zögerlich daran, dass der Kunstmarkt, einmal den feuilletonistisch betriebenen hohen Ton bei Seite gelassen, eben ein Markt ist, der eigenen Gesetzen folgt und auf dem mit harten Bandagen gekämpft wird. Die für das deutschen Feuilleton fast schon legendäre Pariser Galerie Berggruen war nun „eigentlich eine Boutique für Grafik und Poster, und keinesfalls die eines weltweit agierenden großen Kunsthändlers“ – so ein Kunstkritiker. Jedenfalls nach außen hin, denn zum Kunstmarkt gehört auch, dass Geschäfte verschleiert, Spuren verwischt und Provenienzen unvollständig gehalten werden, um Steuern zu sparen. Viele „großzügige“ Stiftungen an staatliche Museen verdanken sich weniger dem Mäzenatentum der Stifter als ihren Steuerschulden. Das Ausstellen privater Kunstwerke in staatlichen Museen macht nicht nur die Bilder für die Öffentlichkeit zugänglich, sondern befördert auch ihren Wert und sorgt ebenso häufig kostenlos für ihre angemessene Lagerung und Restaurierung. Viele der im Berggruen-Museum ausgestellten Bilder gehörten zum Privatbesitz des Stifters und wurden teilweise auch zum Verkauf angeboten – so Stein.

Doch war es falsch, Legenden in die Welt zu setzen, zu tricksen und zu täuschen, um die Berliner Politik inkl. der Bundesregierung zum überteuerten Ankauf der Kunstwerke zu bewegen? Nein, kommentierte Eduard Beaucamp, der Chefkritiker der FAZ, schließlich. Angesichts der Qualität des neuen Kunstmuseums sei Reue nicht angebracht: „Unsere Politiker wären ohne die sentimentalen Tricks, den rhetorischen Schwulst und den aufdringlichen Philosemitismus nicht zu bewegen gewesen, die enorme Summe für den Ankauf zu bewilligen.“ Der Zweck heiligt also die Mittel. Wenn es um „Kultur“ geht, zählen auch die derzeit ansonsten so beliebten Forderungen nach Transparenz und Nachvollziehbarkeit politischer Entscheidungen nicht. Ethische Mindeststandards dürfen im „Bürgerstaat“ nur jenseits der Hochkulturpolitik geltend gemacht werden.

Harmonisierte Öffentlichkeiten
Bei dem Getöse rund um den „Kulturinfarkt“ und bei anderen „Kulturkampagnen“ wird schnell eine schon eingefahrene Dramaturgie sichtbar. Das ihr zugrunde liegende populistische Grundmuster greift quasi automatisch, wenn es um eine grundsätzlichere Auseinandersetzung um „Kultur“ geht. Es lassen sich eine Reihe von standardisierten Argumenten ausmachen, die von Fall zu Fall wahlweise kombiniert werden. Einige dieser wirkungsvollen Stereotype seien hier kurz vorgestellt:

Die von Kritikern vorgetragenen Argumente gegen die bestehende Förderung der „Kultur“ – egal welcher Art – sind nicht neu. Sie sind seit langem bekannt und werden auf der Arbeitsebene konzentriert und konsequent abgearbeitet. Deshalb ist eine breitere Diskussion im Grunde überflüssig. Zumal gerade „Kultur“, die für Kunst und Kreativität steht, zu den schärfsten Kritikern bürokratischer Institutionen gehört. Damit ist klar: Kritiker gehören nicht zu den kompetenten Insidern und sind zu vernachlässigen.

„Kultur“ ist grundsätzlich unterfinanziert. Kann man immer behaupten, denn „Unterfinanzierung“ ist ein relativer Begriff und hängt von vielen Kriterien ab, die mal so, mal so interpretiert werden können. Kurz, es gibt keine verbindlichen Zahlen, wann ein Kulturinstitut nicht unterfinanziert ist. Eine detaillierte Beweisführung ist nicht notwendig, denn die behauptete „Unterfinanzierung“ schafft sich ihre eigene Legitimation und unterstreicht die Notwendigkeit von höheren Subventionen insbesondere dann, wenn sie mit der Forderung nach mehr „Qualität“ verbunden wird.

Es kann gar nicht genug „Kultur“ geben. Der Bedarf an neuen Museen, Konzerthäusern, Musikschulen usw. ist nach oben hin offen. Kulturangebote lassen sich nicht eingrenzen und folgen dem Gesetz des grenzenlosen Wachstums. Das gilt es unbedingt zu respektieren, Kürzungen im Kulturetat sind deshalb indiskutabel.

„Kultur“ darf sich nicht an Nachfrage orientieren, denn der Markt ist der Tod der „Kultur“. Je mehr „Kultur“ es gibt, desto besser (s.o.). Es kommt darauf an, allen Bürgern die Option zu eröffnen, irgendwann und irgendwo an einem beliebigen kulturellen Angebot teilnehmen zu können. Wenn man sich zu stark an der Nachfrage orientiert, unterwirft man sich den Marktgesetzen und gefährdet die Qualität des öffentlichen Angebots. Als Folge droht die Dominanz des „Massengeschmacks“. Denn „Markt“ und Qualität schließen sich aus.

Der Kulturetat insgesamt ist viel zu klein, um einen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung leisten zu können. Angesichts der Höhe der öffentlichen Haushalte und der riesigen Staatsverschuldung kommt es auf die paar Millionen zur Förderung der „Kultur“ gar nicht an. Die für das Gemeinwohl so notwendige „Kultur“ muss deshalb mindestens von allen Sparbemühungen ausgenommen werden.

Das Zurückfahren oder gar die Schließung von Kultureinrichtungen bringt im Haushalt keine Einsparungen, wenn das gesamte Personal weiter beschäftigt werden muss. Das gilt in aller Regel nicht für das künstlerische Personal.

Deutschland hat die reichste Kulturlandschaft weltweit, um die uns alle beneiden. Als Beweis wird gerne darauf verwiesen, dass hierzulande die Hälfte aller Opernhäuser weltweit steht (tatsächlich ist es etwa ein Fünftel). Zugleich beklagen Kulturenthusiasten, dass anderswo mehr Geld für bestimmte Kunstsparten – etwa für die Filmförderung – ausgegeben wird. (Die ist beispielsweise in Frankreich höher, dafür gibt es dort weniger Opern.)

Die „Kultur“ ist von missgünstigen Feinden umstellt. Insbesondere Haushaltspolitiker und andere Ignoranten wollen nur eins: kürzen, kürzen, kürzen. Deshalb müssen seitens der Kulturpolitik alle Argumente vermieden werden, die ihnen in die Hände spielen könnten. Dabei lassen sich zwei Ebenen ausmachen. Einmal das Beschweigen der Kulturetats insgesamt, zum anderen das Bewahren der gegenwärtigen Gewichtung der Fördergelder zu Gunsten der großen Leuchttürme. Fester Bestandteil des Rituals sind das präventive Jammern und die Klage wg. „Unterfinanzierung“ (s.o.).

Die 5%-Falle
Wenn man diese Scenarien mit der tatsächlichen Entwicklung der öffentlichen Kulturausgaben seit den 1970er Jahren vergleicht, stellt man (wenig verblüffend) fest, dass sie sich bis 2010 auf rund 10 Milliarden verfünffacht haben. Statt der immer wieder behaupteten flächendeckenden Kürzungen sind die kommunalen Kulturausgaben in einigen Bundesländern in den letzten Jahren sogar um über 10 Prozent gestiegen. Kürzungen gab es auch, sie sind zunächst dem teilweise schlechten kommunalen Finanzrahmen geschuldet und sind (immer noch) eher die Ausnahme als die Regel. Getroffen werden davon vor allem kleinere Initiativen und Projekte.

„Die Entwicklung der Kulturausgaben verlief uneinheitlich“, heißt es dazu im Kulturfinanzbericht 2010 [PDF – 1.2 MB]. „Während die Kulturausgaben zwischen 1995 und 2007 in den Flächenländern West insgesamt um 22,3 % zunahmen, stiegen diese in den Flächenländern Ost nur um 1,4 %. In den Stadtstaaten wurden die Ausgaben hingegen im gleichen Zeitraum um 1,5 % verringert, wobei die Kulturausgaben in Hamburg (+ 62,1 %) und Bremen (+ 21,6 %) erhöht, in Berlin hingegen um 23,2 % gekürzt wurden. Zu beachten ist dabei, dass sich der Bund in einem besonderen Maße an der Finanzierung der Kultureinrichtungen in Berlin beteiligt. Die Ausgaben des Bundes erhöhten sich von 1995 bis 2007 um 10,3 %.“ Von einem übergreifenden „Kahlschlag“ vor allem für die großen Einrichtungen kann keine Rede sein, wie auch eine im September 2010 veröffentlichte repräsentative Umfrage zur „Situation der kommunalen Kulturfinanzierung“ der Kulturpolitischen Gesellschaft und des Deutschen Städtetages nochmals bestätigte. Doch derlei mag man nicht hören – das passt nicht zum eigenen Weltbild.

Zur Einschätzung der kommunalen Kulturausgaben sei an dieser Stelle ergänzend vermerkt, dass etwa in Nordrhein-Westfalen jede dritte der dortigen insgesamt 396 Kommunen mit einem Nothaushalt arbeitet und nur acht einen ausgeglichenen Haushalt verweisen können.
Kaum thematisiert wird auch, dass seit den 1970er Jahren die kulturelle Infrastruktur stark ausgeweitet worden ist – die Zahl der Museen etwa ist um ein gutes Drittel gewachsen. Trotzdem hat das Interesse der potentiellen NutzerInnen nicht auch nur ansatzweise im gleichen Ausmaß zugenommen. Auch die gestiegene Freizeit und die Zunahme der höheren Bildungsabschlüsse haben sich hier nicht signifikant ausgewirkt. Etwa die Hälfte der Bevölkerung interessiert sich nach wie vor überhaupt nicht für Kultur. Je nach Umfrage nutzt eine Minderheit von 5 bis 8 Prozent die öffentlichen Einrichtungen „intensiv“ (mehrere Besuche im Jahr), wobei das in der Regel Besserverdienende und Bessergebildete sind. Ein Fünftel ist gelegentlich interessiert. (Diese Trends lassen sich übrigens auch in den USA und Frankreich feststellen, obwohl dort die Kultursysteme ganz unterschiedlich aufgestellt sind.)

Beim „Stadttheater“ – dem größten Posten der Kulturausgaben – stagnieren die Besucherzahlen seit Jahren auf hohem Niveau, deutlich gestiegen ist hier die Zahl der Spielstätten und der Inszenierungen – ein Hinweis darauf, dass dem gleichen Publikum mehr Abwechslung im Programm geboten werden muss, weil sonst wohl die Zahlen sinken würden. Zugenommen haben die Subventionen pro Theater/Opernbesuch. Die Städtischen Bühnen Köln etwa verzeichneten hier zwischen 2005 und 2010 eine Steigerungsrate von knapp einem Viertel (von 123 auf 164,18 Euro). Im Bundesdurchschnitt wurde 2009/2010 jede Theaterkarte mit 109,47 Euro bezuschusst, gegenüber der Vorsaison eine Steigerung von rund 10 Prozent. Diese Entwicklung ist nicht neu – die entsprechenden Zuschüsse steigen seit Jahrzehnten kontinuierlich, ohne dass ein Ende absehbar wäre.

Blick in die Zukunft
Traditionell tragen die Gemeinden mit rund 45 % den größten Teil der Kulturausgaben. Es folgen die Ländern mit rund 43 % und der Bund mit rund 12 %. Es gibt eine Reihe gesamtgesellschaftliche Trends, die die bisher betriebene Kulturförderung auf allen Ebenen in Frage oder mindestens vor große Probleme stellen und die nach neuen Antworten und anderen Orientierungen verlangen. Ob das nur in öffentlicher Trägerschaft erfolgen kann und soll, ist längst nicht geklärt.

Seit einigen Jahren nimmt in Deutschland die Bevölkerung ab. Wir werden weniger, älter und bunter. Das hat erhebliche Konsequenzen für die Infrastruktur insgesamt, zumal diese Entwicklung nicht gleichmäßig, sondern regional unterschiedlich verlaufen wird. Neben Ballungszentren wird es bevölkerungsarme Regionen geben. Um 2030 herum dürften sich die Bevölkerungszahlen wieder dem Stand der 1970er Jahre angenähert haben. Was bedeutet das für die kulturelle Infrastruktur? Dass überall im Land Kirchen aufgegeben werden, gehört längst zum Alltag.

„Kultur“ ist in den letzten Jahrzehnten vielfältiger geworden und schon lange nicht mehr auf öffentliche Angebote beschränkt. Qualität und Markt widersprechen sich nicht. Warum Klassische Musik stärker gefördert wird als Jazz, Theater mehr als Film ist nicht immer nachvollziehbar.
Das Kulturpublikum wird sich weiter ausdifferenzieren. Die öffentlichen Kulturinstitute haben kaum auf die neue Interkulturalität der deutschen Gesellschaft reagiert – weder in ihren Programmen noch beim Personal noch bei den Besuchern. Kaum zur Kenntnis genommen wird auch, dass Kulturangebote überproportional viel von Frauen genutzt werden.

Das Zeitbudget der Erwerbstätigen wird voraussichtlich weiter eingeschränkt, wenn die derzeitige Arbeitsmarktpolitik fortgesetzt wird. Der Slogan von der »Kultur für alle« wurde zu einer Zeit in Angriff genommen, als die 35-Stunden-Woche und angemessene Stundenlöhne auf dem Programm standen. Inzwischen verändert sich die Arbeitswelt fundamental. Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit bis zur Rente mit 67 ist fest vorgesehen, die Erhöhung der wöchentlichen Erwerbsarbeitszeit bei gleichzeitiger Intensivierung ist unübersehbar.

Zugleich stagnieren seit Jahren die Arbeitseinkommen der Mehrheit, die soziale Spaltung der Gesellschaft nimmt zu. Nach dem letzten Armutsbericht der Bundesregierung ist die Armutsquote zwischen 1998 und 2005 um 50 Prozent gestiegen. Während das obere Drittel der Gesellschaft über ein Vermögen von ca. 6,6 Billionen Euro verfügt, kann der Rest so gut wie gar nichts vorweisen. Schlechte Zeiten für „Breitenkultur“.
Hohe Kulturbudgets sagen wenig über das Einkommen der einzelnen Künstler. Kulturförderung zielt bisher vor allem auf Institutionen. Einschlägige Untersuchungen belegen immer wieder auf das durchschnittlich niedrige Einkommen von Künstlern und Kreativen.

Last not least erleben wir derzeit mit der Digitalisierung einen tiefgreifenden Umbruch der Gesellschaft mit entsprechenden Veränderungen für Kulturproduktion, -vertrieb und –nutzung. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht absehbar. Das trifft auch und gerade den Kulturbetrieb. Vielleicht macht die Forderung „Jedem Kind ein iPad“ mehr Sinn als „Jedem Kind ein Instrument“, wie ein Blogger formuliert hat.

Wenn sich denn Kulturpolitik noch als Gesellschaftspolitik versteht und nicht einem Mainstream-Institutionenlobbyismus betreiben will, wird sie sich diesen Fragen auch jenseits der Fachzirkel und Hinterzimmer stellen müssen. Die Aufregung über den »Kulturinfarkt« wird sich absehbar legen. Die Probleme, die die vier Autoren angesprochen haben, werden bleiben, ob man es denn mag oder nicht.

*Wolfgang Hippe hat Rechtswissenschaften und Pädagogik in Köln studiert; erwar in der Jugendarbeit und der Umweltbewegung täotg; Redakteur der StadtRevue Köln; freier Journalist; A.R.T. – Agentur für Recherche und Text mit Schwerpunkten Kultur- und Medienwirtschaft und Kultur- und Medienpolitik, seit 2001 freie Mitarbeit beim IfK. Autor mehrerer kulturpolitischer Bücher.

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