Die griechischen „Versäumnisse“ werden von Berlin maßlos übertrieben

Ein Artikel von Niels Kadritzke

Die Diskussionen über die Möglichkeit – oder Wahrscheinlichkeit – eines „Grexit“ geht weiter – auch nach dem Antrittsbesuch des griechischen Regierungschefs Samaras in Berlin und Paris. Innerhalb der deutschen Regierungskoalition reicht offenbar selbst ein Machtwort der Kanzlerin nicht aus, um geschwätzige Populisten im eigenen Lager zum Schweigen zu bringen („CSU macht Merkel lächerlich“). Zu den deutschen und vor allem bayerischen Stimmen, die den Abschied Griechenlands vom Euro als unvermeidlich und die Folgen für die gesamte Eurozone als „beherrschbar“ ansehen, gesellen sich mittlerweile gewichtige Politiker aus den Niederlanden, Finnland (Außenminister Tuomioja), Österreich (Außenminister und Vizekanzler Spindelegger), Estland und der Slowakei. Und selbst Luxemburgs Regierungschef Juncker, den man in Athen als den verlässlichsten Verbündeten im Euroraum sieht, schließt das Worst-Case-Szenario für Griechenland nicht mehr aus. Auf das bereitet man sich in Berlin, trotz der kreidebeladenen Formulierungen Merkels gegenüber ihrem Athener Gast, auch weiterhin vor. Insofern war es wohl ein kalkuliertes Signal, dass die FTD kurz vor dem Treffen Merkel-Samaras die Existenz einer bislang geheimen Arbeitsgruppe enthüllte, die seit einem Jahr die möglichen Konsequenzen eines Austritts Griechenlands aus der Eurozone prüft. Ein weiterer Lagebericht von Niels Kadritzke.

Die Debatte um die Streckung des Sparprogramms

Neu belebt wurde die ganze Debatte zehn Tage vor dem Samaras-Besuch durch Berichte über das Vorhaben der griechischen Regierung, von den Euro-Partnern eine Fristverlängerung für die nächste Stufe der Haushaltskürzungen in Höhe von 11,6 Milliarden Euro zu fordern. Die heftigen Gegenreaktionen aus Berlin haben Samaras dann aber so eingeschüchtert, dass er daraus in Berlin kein offizielles Thema machen wollte. Wie der Berlin-Korrespondent der Zeitung „To Vima“ (26. August) unter Berufung auf einen Mitarbeiter des griechischen Regierungschefs berichtet, hat Samaras gegenüber Merkel die griechische „Hauptforderung“ namens „epimikynsi“ (Verlängerung) nicht einmal am Rande erwähnt. Allerdings hinterließ die Athener Delegation in Berlin ein Memorandum mit vier Szenarien, von denen drei auf der Hypothese einer Streckung des Sparprogramms um zwei Jahre bis 2016 beruhen. Und inoffiziell verlautet aus Athen auch nach der Samaras-Reise nach Berlin und Paris, man werde die Forderung auf jeden Fall beim nächsten Euro-Gipfel am 8. Oktober auf den Tisch legen. Aus griechischer Sicht ist es in der Tat völlig unrealistisch, die geforderten Sparziele bis Ende 2014 zu erreichen. Und selbst die Streckung dieses Zeitraums bis Ende 2016 wird keine Lösung bringen, falls die Talfahrt der griechischen Konjunktur weitergehen oder sich gar noch beschleunigen sollte.

Auswirkungen einer Fristverlängerung für den Schuldenabbau

Immerhin würde die Verlängerung der Frist für den Schuldenabbau bis 2016 den jährlichen Kürzungsbedarf von 2,5 auf 1,5 Prozent des BIP absenken. Das hätte für Griechenland einen weiteren entscheidenden Vorteil: Nach Berechnungen des Athener Finanzministeriums könnte das Land ein Jahr früher aus der Rezession kommen, wenn die Masseneinkommen (Renten, Gehälter im öff. Dienst) nicht ein weiteres Mal massiv gekürzt werden müssen. Die Streckung des Sparprogramms würde allerdings für die nächsten Jahre einen weiteren Finanzierungsbedarf von mindestens 20 Milliarden Euro bedeuten (die Schätzungen gehen bis zu 30 Mrd.), den die Athener Regierung notfalls ohne die Euro-Partnern abdecken will, unter anderem durch IWF-Kredite und kurzfristige T-Bonds (über die genauen Pläne berichtete die Zeitung To Vima am 19. August).

Die Forderung nach einer Fristverlängerung ist nicht neu

Der Verlauf der Debatte um die angeblich neue „griechische Zumutung“ ist in zweifacher Hinsicht aufschlussreich:
Erstens kam die Diskussion aufgrund eines Artikels in der Financial Times vom 15. August in Gang. Dass Samaras in seinen Gesprächen mit Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Hollande um eine Verlängerung des Sparprogramms nachsuchen wolle, war allerdings bereits drei Tage zuvor in der griechischen Presse zu lesen (siehe meinen Bericht vom 15. August). Aber erst die Publikation in einem übernationalen Presseorgan wie der FT machte die Meldung zu einem Politikum auf europäischer Ebene.

Der Vorgang ist zweitens ein klassisches Beispiel für die Vergesslichkeit der öffentlichen Meinung und der Medien. Denn der Athener Vorbehalt, dass Griechenland die geforderte Haushaltssanierung nicht in der vorgesehenen Frist bewältigen kann, ist keineswegs neu. Die Forderung nach einer Verlängerung dieser Frist wurde bereits von der Regierung Papadimos erhoben. Sie war auch eines der wichtigsten Themen in den griechischen Wahlkämpfen vom Mai und Juni dieses Jahres. Dabei versprachen alle drei Parteien, die heute die Regierung Samaras stützen, eine sofortige und umfassende Neu-Verhandlung des Sparprogramms mit der Troika und dabei speziell auch die Forderung nach dessen zeitlicher Streckung um zwei Jahre. Die Pasok hat vor den Wahlen sogar behauptet, die Fristverlängerung sei der Regierung Papadimos und deren Pasok-Wirtschaftsminister Venizelos fest zugesagt worden.

Die griechischen Wähler mussten also den Eindruck gewinnen, dass ihre Stimme für die heutigen Regierungsparteien – und gegen die linke Syriza und deren Forderung, das Memorandum einseitig aufzukündigen – von den Euro-Partnern und der Troika durch eine Milderung der Sparauflagen belohnt würde.

Auch in den Koalitionsverhandlungen zwischen ND, Pasok und Dimar spielte diese Frage eine zentrale Rolle. Entsprechend lag dem mühsam ausgehandelten Regierungsprogramm ebenfalls die „Verlängerung“ des Sparprogramms zugrunde, als entscheidende Voraussetzung für die im Wahlkampf versprochene Milderung der Austeritätspolitik. Bei der Debatte im Parlament über die Regierungserklärung am 8. Juli betonten sowohl Samaras als auch sein Finanzminister Stournaras, die Streckung des Programms sei nach wie vor notwendig, weil die Rezession stärker ausgefallen sei, als von der Troika erwartet und eine krasse und schnelle Anpassung die Rezession noch vertiefen würde (Bericht in Ta Nea vom 8. Juli). Stournaras sagte wörtlich: „Über die nächsten vier Jahre – also nicht zwei Jahre, wie die (bisherige) Vereinbarung es vorsieht – muss das Land eine weitere Minderung der Ausgaben des Primärhaushalts um 12 Milliarden Euro planen“. Explizit erklärte auch der Regierungschef: „Wenn das Programm erneut aufgrund der Rezession entgleisen sollte, darf dies nicht als Anlass dienen, um weitere Sparmassnahmen zu beschließen.“

Der Vorbehalt einer Rezession war Bestandteil des Memorandums

Samaras nahm damit auf eine Klausel Bezug, die in dem zweiten Memorandum der Troika vom Frühjahr dieses Jahres steht. Sie erlaubt eine zeitliche Streckung der Sparziele explizit für den Fall, dass die Rezession in Griechenland „signifikant tiefer“ ausfällt als angenommen. Diese Klausel wurde allerdings letzte Woche vom deutschen Finanzministerium als „rechtlich nicht bindend“ abqualifiziert, besagt eine Reuters-Analyse vom 27. Oktober.
Der Pasok-Vorsitzende und frühere Finanzminister Venizelos verlangt als Chef der zweitstärksten Koalitionspartei sogar eine Verlängerung des Sparprogramms um drei Jahre bis Ende 2017. Auch er beruft sich auf den Rezessions-Vorbehalt, der vom EU-Gipfel vom 29. Juni abgesegnet wurde. Dass der Fall, auf den sich dieser Vorbehalt bezieht, inzwischen eingetreten ist, kann niemand anzweifeln: Die Differenz zwischen früheren Prognosen für 2012 und dem erwarteten Minuswachstum von 7 Prozent liegt heute bei fast 3 Prozentpunkten. Und diese Differenz dürfte noch anwachsen, weil die neuen Einsparungen von 11,6 Milliarden Euro als Kaufkraftverlust voll auf die Binnenkonjunktur durchschlagen werden.

Wie aus dem Rezessionsvorbehalt ein Beweis für griechische Dreistigkeit wurde

Nicht nur in Griechenland, auch in der internationalen Presse war es bis vor drei Wochen ein Allgemeinplatz, dass die Athener Regierung für ihr Sparprogramm eine Schonfrist braucht. Noch am 13. Juli zitierte die FTD zustimmend einen Banker mit der Forderung, der „Teufelskreis aus verschärften Sparmaßnahmen und wegbrechender Konjunktur“ müsse durchbrochen werden. Deshalb müsse Griechenland die versprochenen Strukturreformen schnell umsetzen, als Gegenleistung müsse das Land aber „beim Defizitabbau mehr Zeit bekommen.“ Und am 30. Juli bezeichnete die Guardian-Korrespondentin die Forderung der Athener Regierung, das Sparprogramm bis 2016 zu strecken, als logisch und unvermeidlich: „Die zeitliche Dehnung des Prozesses wird weithin als die einzige Methode gesehen, mit der sich Griechenland aus der ökonomischen Todesspirale befreien kann.“

Wie kam es also, dass eine Forderung, die noch vor kurzem als unvermeidlich galt und im Grunde schon abgenickt war, heute als neuer Beweis griechischer Dreistigkeit wahrgenommen wird? Der Umschwung hängt sicher mit der verstärkten Bereitschaft zu einem „Grexit“ auf Seiten der Eurozonen-Partner zusammen, die vor allem in Deutschland zu beobachten ist (und die ich in meinen letzten Beitrag beschrieben habe).

Die neue Taktik des neuen griechischen Finanzministers

Die Geschichte hat aber auch eine griechische Seite. Warum hat die Regierung Samaras ihre Forderung nach Streckung der Sparziele nicht sofort und offensiv vorgebracht, wie es dem zentralen Wahlversprechen aller Regierungsparteien entsprochen hätte?

Die Antwort auf diese Frage besteht für viele Griechen aus einem einzigen Namen: Stournaras. Denn es war der neue Finanzminister, der bereits vor der Regierungserklärung innerhalb des Kabinetts eine neue Taktik in den Verhandlungen mit der Troika durchsetzte, die sich auf die Formel bringen lässt: Griechenland kann seine Gläubiger erst um Erleichterungen bitten, wenn es sein Image bei den Gläubigern verbessert hat. In diesem Sinne argumentierte er bereits am 8. Juli vor dem griechischen Parlament: Zwar wolle man nach wie vor die Gläubiger um die beiden Verlängerungsjahre bitten, aber da dies bedeute, „dass uns jemand mehr Geld geben muss“, würden die Verhandlungen mit der Troika schwierig und zeitraubend werden. Andererseits sei die nächste Rate aus dem EFSF-Programm bereits im September fällig, ohne diese Auszahlung wäre das Land bankrott. Daraus schloss Stournaras: Bevor man neue Verhandlungen über eine Milderung des „ Memorandum“ beantrage, müsse Griechenland „die Maßnahmen umsetzen, die es bereits als Teil des Haushaltsplans für 2012 beschlossen hat, um den verabredeten Zielen näher zu kommen, damit nicht noch mehr an Glaubwürdigkeit verloren geht und die nächste Tranche des Hilfsprogramms aufs Spiel gesetzt wird“.

Die Umkehrung der Reihenfolge – erst eine neue Sparrunde, dann ein Antrag auf Milderung der Sparzwänge – bedeutete einen klaren Bruch der Wahlversprechen aller drei Koalitionsparteien. Für die linke Oppositionspartei Syriza war das ein gefundenes Fressen. Sie bezeichnete die Kehrtwende als „Stournaras-Dogma“ und spricht seitdem von einer Regierung Samaras-Stournaras. Tatsächlich spielt der neue Finanzminister in der Dreier-Koalition eine so herausragende Rolle, dass ein Blick auf die Person des Finanzministers angebracht ist.

Der neue Finanzminister Yiannis Stournaras ein „europäischer Technokrat“

Yiannis Stournaras ist ohne Zweifel der beste Kenner der griechischen Wirtschaftsverhältnisse einschließlich ihrer notorischen Schwächen. Als Hochschullehrer und Chef des Wirtschaftsforschungsinstitut IOBE (Stiftung für Wirtschafts- und Industrieforschung, finanziert von der griechischen Zentralbank), verfügte er über einen Stand von Informationen, der ihn während der ganzen letzten Krisenjahre zu einem gesuchten Gesprächspartner für die griechische Regierung wie für EU-Technokraten und für ausländische Journalisten machte. Politisch zählte Stournaras stets zum „Reformer- Flügel“ der Pasok. Nach einer akademischen Karriere in Oxford (Forschung und Lehre auf dem Gebiet von Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik) wurde er zum engsten Mitarbeiter von Kostas Simitis, während dessen Regierungszeit war er in den späten 1990er-Jahre als ökonomischer Chefberater für die Strategie des griechischen Beitritts zur Eurozone verantwortlich. Dazu ein interessantes Detail nebenbei: In einem auch von der Süddeutschen Zeitung veröffentlichten Beitrag hat Stournaras im Mai 2012 zusammen mit Simitis einige überzeugende Argumenten gegen die beharrlich verbreitete Legende vorgebracht, wonach sich Griechenland den Zutritt zur Eurozone mit falschen Daten „erschummelt“ habe (nachzulesen hier).

Zu Beginn der griechischen Krise, im April 2009, hatte ich mit Stournaras ein Hintergrundsgespräch, in dem er die Probleme der sich akkumulierenden Staatsverschuldung sehr genau prognostiziert hat. Dabei vertrat er die Ansicht, dass die griechische Krise „hausgemacht“ sei und durch die internationale Finanzkrise nur verschärft wurde. Als Hauptursache nannte er „die Reformunfähigkeit der griechischen politischen Klasse“. Entsprechend sei der wichtigste Beitrag zur langfristigen Konsolidierung der Staatsfinanzen und der Wirtschaft ein entschiedener „Kampf gegen Korruption und Klientelismus und die Durchsetzung eines seriösen Steuersystems, das die Staatseinnahmen erhöht und verstetigt.“ Und er nannte auch ein Beispiel: Bereits ein kleiner Schritt wie die Einführung von beamteten Staatssekretären in den Ministerien könne dazu beitragen, den parteipolitisch geprägten Klientelismus einzudämmen, der im Staatsapparat nur eine „Beute“ der jeweiligen Regierungspartei sieht.

Auf die Frage, welche Maßnahmen er durchsetzen würde, wenn er aktiver Politiker wäre, antwortete er sofort: eine Vereinbarung mit der Türkei über eine Halbierung der Rüstungsausgaben beider Länder, die ein wichtiger Beitrag zur Konsolidierung des Staatshaushalts sein könnte. Auf die Frage, wie der Krise auf europäischer Ebene zu begegnen sei, plädierte er dafür, dass die EZB zum „lender of last resort“ (zum Kreditgeber letzter Instanz) werden müsse, während er Eurobonds für eine unrealistische Konzeption hielt, weil sie eine politische Union voraussetze. Das aber sei ein langer Prozess, auf den Griechenland nicht warten könne. Auf sein Verhältnis zu Keynes angesprochen sprach sich Stournaras im Sinne des „wahren“ Keynes für den Grundsatz aus, dass Länder mit niedriger Gesamtverschuldung ein aktiveres deficit spending gestattet sein soll, während Länder mit hoher Schuldenlast sich entsprechend zurückhalten müssten (die Zitate stammen aus meinem Beitrag zur Publikation der Friedrich-Ebert-Stiftung „Euroland auf dem Prüfstand“, Internationale Politik-Analysen, Mai 2009 [PDF – 262 KB]).

Man kann Stournaras am ehesten als „europäischen Technokraten“ begreifen (nicht nur wegen seiner Vernetzung innerhalb der EU, sondern wegen seiner „europäischen“ Kritik an den griechischen Verhältnissen). Ganz gewiss hegt er aufgrund seiner Erfahrungen und Kenntnisse keinerlei Illusionen darüber, wie schädlich und kontraproduktiv die bisherigen Sparprogramme sind (deren negative Folgen für die Konjunktur in den IOEB-Berichten der Stiftung für Wirtschafts- und Industrieforschung regelmäßig analysiert wurden); aber er hat ebenso wenig Illusionen über die Schwierigkeiten, den griechischen Klientelstaat zu überwinden, was er als wichtigste innere Voraussetzung für eine Genesung des griechischen Patienten betrachtet. Ähnlich entschieden äußert sich Stournaras seit Jahren zu einem anderen Thema: Er plädiert für ein umfassendes Privatisierungsprogramms und insbesondere für den Verkauf un- oder unterbenutzter staatlicher Immobilien; in einem IOBE-Bericht bezeichnete er solche Immobilien schon im Frühjahr 2010 als „ungehobenen Schatz“ in Höhe von 200 Milliarden Euro, mit dessen Verkauf ein Großteil der griechischen Schulden zu begleichen wäre (auf die ideologischen Voraussetzungen, die Schwierigkeiten und die Illusionen solche Privatisierungspläne werde ich später noch ausführlich eingehen).

Als Wirtschaftsforscher und versierter politischer Technokrat, der auch Erfahrungen im staatlichen Bankensektor und bei der griechischen Zentralbank gesammelt hat, ist Stournaras ähnlich gut vernetzt wie sein früherer Förderer Papadimo – und zwar im Bereich der Eurozone wie auch mit den Technokraten der OECD und des IWF. Seine Kenntnisse der Brüsseler Landschaft und ein guter Draht zu Francoise Hollande (über den in der griechischen Presse viel geschrieben wurde) gehören sicher zu den Qualitäten, die den angestammten Pasok-Mann in den Augen von Samaras zur ersten Wahl für den Posten des Finanzministers machten.

Die Wende zum „Stournaras-Dogma“

Wie ist es aber zu erklären, dass ein realistischer Kritiker des Sparprogramms und seines wachstumsfeindlichen Ansatzes, kaum dass er zum griechischen Finanzminister berufen wird, den Verzicht auf eine Forderung propagiert, die er selber entschieden vertreten hat? Und die er gewiss noch immer für unabdingbar hält, zumal eine Verlängerung der Frist von zwei auf vier Jahre für die politische Durchsetzbarkeit und die gesellschaftliche Akzeptanz des Programms entscheidend sein kann – und damit letztlich für seinen persönlichen „Erfolg“ als „Retter“ vor einem griechischen Absturz in die Drachme.

Die Wende zum „Stournaras-Dogma“ erfolgte nach den ersten Gesprächskontakten, die der neue Finanzminister in Brüssel und den Hauptstädten der wichtigsten Gläubigerländer hatte. Was aus diesen Gesprächen in die Öffentlichkeit drang, war es vor allem eine Botschaft: Offenbar hatten die Inspektoren der Troika nach Brüssel, Berlin und Paris ganz fürchterliche Eindrücke gemeldet. „Das Programm ist völlig entgleist“, lautete die Botschaft. Ob und welche Details aus diesen Berichten gegenüber Stournaras und Samaras zur Sprache kamen, ist nicht bekannt. Man kann sich aber – mit etwas Phantasie – die wichtigsten Argumentationsmuster zusammenreimen, die in diesem ungleichen Dialog vorgebracht wurden.

Ein fiktiver Schlüsseldialog im griechischen Drama

Das folgende ist ein fiktives Erkundungsgespräch, wie es zwischen Athen (A) und Brüssel/Berlin (BB) gelaufen sein könnte (gestützt auf Argumente aus griechischen „non-Papers“, die in der Athener Presse zitiert wurden):

A: Bitte begreift doch: die 11,6 Milliarden, die wir kürzen müssen, sind nicht nur brutal, da müssen auch drei Parteien zustimmen, die im Wahlkampf versprochen haben, die Folgen des Sparprogramms zu mildern. Diese 11,6 Milliarden sind mit Mühe zu schaffen, aber nicht in zwei Jahren. Also brauchen wir mehr Zeit, die habt ihr uns doch versprochen.

BB: Aber Zeit ist Geld, dass habt ihr selber durchgerechnet.

A: Das stimmt, es würde 20 Milliarden an zusätzlichen Darlehen kosten, aber es ginge auch billiger, wenn man uns längere Vakanzen für die Rückzahlung einräumen würde, zum Beispiel bis wir wieder ein Wirtschaftswachstum haben. Und wir haben hier noch was anderes durchgerechnet: Zwei Jahre mehr Zeit für den Schuldenabbau bedeutet, dass wir ein Jahr früher aus der Rezession herauskommen.

BB: Ohne „Lieferung“ gleich zwei Jahre Verlängerung – das kommt nicht in Frage. Das können wir unseren Leuten hier nicht verkaufen.

A: Aber die griechischen Parteien haben es doch den Wählern versprochen, und das hat geholfen, Tsipras zu verhindern. Oder wollt ihr jetzt eine Syriza-Regierung, damit ihr uns umso leichter aus dem Euro drängen könnt?

BB: Das ist euer Problem, was ihr vor den Wahlen gesagt habt. Außerdem: Wegen der Wahlen habt ihr ohnehin alle Reformen verschleppt. Und jetzt sagen uns die Troika-Inspektoren, dass die Zahlen nicht aufgehen, dass ihr bei allen Reformen zurückhängt. Da können wir doch jetzt nicht einfach noch einen Rabatt geben.

A: Klar, die Reformen sind steckengeblieben, das kritisiere ich ja auch ständig. Aber die Zahlen gehen vor allem deshalb nicht auf, weil die Konjunktur eingebrochen ist. Da bleiben eben die Steuereinnahmen zurück; mit denen sind wir im Minus, aber bei den Kürzungen sind wir sogar über Plan. Das Sparprogramm hat bei uns jedoch die Rezession verschärft. Dass dies der Hauptgrund ist, und nicht die verzögerten Reformen, wisst ihr so gut wir.

BB: Das wissen wir, aber unsere Wähler wissen es nicht. Und schließlich wollen ja auch wir wieder gewählt werden.

A: Dann erklärt das doch euren Wählern dieses Dilemma, wir müssen das ja auch seit drei Jahren versuchen.

BB: Nach allem, was wir bisher den Wählern erklärt haben, können wir die Wähler nicht mehr aufklären, sondern wir brauchen ihre Stimmen. Das ist doch ein Problem, das müsstet ihr aus eigener Erfahrung kennen.

A: Kennen wir auch. Aber die Gesellschaft steht am Abgrund, wenn wir noch mehr Einkommen und Renten kürzen müssen. Und für die Konjunktur ist das zusätzliches Gift. Wenn die Rezession so weiter geht, haben wir 2013 gegenüber 2009 ein BIP-Minus von fast 30 Prozent. Die zwei Jahre Verlängerung müssen wir einfach haben. Außerdem fragen uns die Wähler auch, wo der berühmte Marshall-Plan bleibt, von dem ihr geredet habt. Da ist bis jetzt noch nichts rüber gekommen.

BB: Eben weil ihr keine Reformen gebacken bekommt. Wo bleibt denn euer eigener Beitrag zur Wirtschaftsbelebung? Was ist mit den Privatisierungen, die ihr versprochen habt? 50 Milliarden Euro Erlöse bis 2015, davon sehen wir noch gar nichts.

A: Den Grund kennt ihr doch genau: Wer interessiert sich für unsere Privatisierungsprojekte, wenn eure Politiker ständig darüber spekulieren, wann wir aus dem Euro rausfliegen? Wir finden hier keine Investoren, wenn alle denken, mit der Drachme kostet uns das Ganze im nächsten Jahr nur noch die Hälfte.

BB: Das Gerede über die Rückkehr zur Drachme stört uns auch, das sind einzelne Populisten, die ihren Wählern nach dem Munde reden, und ihr wisst ja, wie die Stimmung hier in Deutschland ist. Die kann man nur verändern, wenn die deutschen Steuerzahler überzeugt sind: Die Griechen tun was, da ändert sich was in Griechenland. Und dafür müsst ihr Beweise liefern, damit die Leute anfangen, euch wieder zu vertrauen.

A: Das wissen wir wohl, dass wir die antigriechische Stimmung verändern müssen. Vertrauen ist entscheidend, da habt ihr Recht, aber das gilt aber auch umgekehrt. In Griechenland glauben jetzt die meisten Leute, dass uns die Deutschen, Holländer und Finnen sowieso loswerden wollen. Wie können wir darauf vertrauen, dass ihr uns nicht doch aus dem Euro rausschmeißt, sobald ihr überzeugt seid, dass Spanien und Italien über dem Berg sind? Für uns stellt sich doch die existentielle Frage so: Wollt ihr uns wirklich helfen und im Euro halten oder wollt ihr nur eine Kettenreaktion verhindern, die den Euro zerstören würde? Und wenn ihr dieses Ansteckungsrisiko unter Kontrolle habt, dann werden wir geopfert! Das nennt man hier in Griechenland das „Iphigenie-Szenario“. Und daran glauben die Leute.

BB: Eure Frage ist unfair. Aber um ehrlich zu antworten: Eine Kettenreaktion ist umso unwahrscheinlicher, je härter wir euch anfassen. Und ob ihr euch im Euro halten könnt, hängt unter diesen Umständen allein von euch selber ab. Deshalb brauchen wir die Beweise, dass ihr was verändern wollt. Mag ja sein, dass die Reformen nicht gleich helfen. Aber wir brauchen die Symbolik. Und wir brauchen ein paar positive Punkte für den nächsten Troika-Bericht. Davor kann es keine Diskussionen um Erleichterungen geben. Basta.

A.: Und danach können wir diskutieren?

BB: Mal sehn. Macht erst mal eure Arbeit!

Das Echo der Sondierungsgespräche in der griechischen Presse

Das Ergebnis der Sondierungsgespräche zwischen der neuen Athener Regierung und den Vertretern der Troika (bzw. dem Chefbüro der Troika in Berlin) hat ein Kommentator der Zeitung Kathimerini (am 10. Juli) so zusammengefasst:

„Samaras und Stournaras finden sich jetzt in derselben Lage wie ihr Vorgänger, nachdem sie in die leere Staatskasse und in die Gesichter ihrer Kollegen von der Eurogruppe gestarrt haben. Wenn sie etwas von den Europäern wollen – mehr Zeit, mehr Liquidität, mehr Schuldenerlass – werden sie zuerst demonstrieren müssen, dass sie imstande sind, Fortschritte bei den strukturellen Reformen, bei Privatisierungen und Haushaltskürzungen zu liefern.“

Das Schlüsselwort „liefern“ betonte auch EU-Kommisionspräsident Barroso, als er Ende Juli in Athen vorsprach. Dabei soll er nach griechischen Presseberichten der Regierung Samaras die Warnung übermittelt haben: „Seht euch vor, es gibt Leute, die euch schon abgeschrieben haben.“ Bei solchen Äußerungen stellt sich aus Athener Sicht immer die Frage, ob sie als freundliche Warnung oder als aggressive Drohung gemeint sind. In jedem Fall sind Hinweise wie diese geeignet, der griechischen Seite den Ernst der Lage – aber vor allem auch ihre eigene Ohnmacht – vor Augen zu führen.

Die unverhandelbaren Vorbedingungen für Neuverhandlungen über das Sparprogramm

Für ihre mögliche Bereitschaft zu Neuverhandlungen über das Sparprogramm stellen die Gläubiger Griechenlands zwei unverhandelbare Vorbedingungen, die bis zum nächsten Troika-Bericht (Anfang Oktober) erfüllt sein müssen.

  1. Kürzungen in Höhe von 11,6 Milliarden Euro im Haushaltsansatz für 2013 und 2014;
  2. Fortschritte bei Maßnahmen und Reformen, zu denen sich Griechenland großenteils schon früher verpflichtet hat. Zu diesen Maßnahmen gehören:
    • strukturelle Reformen im öffentlichen Dienst (sprich: Lohnsenkungen und Entlassungen);
    • Fortschritte im Hinblick auf die Effizienz der steuerlichen Erfassung und der Steuereinnahmen, einschließlich der Beschleunigung einschlägiger juristischer Verfahren.
    • Beschleunigung des Privatisierungsprogramms und Steigerung der Privatisierungsgewinne.

Der Vorwurf der verschleppten Reformen

Betrachten wir zunächst die zweite Vorbedingung, also die von Athen geforderten Maßnahmen und Reformen. Hier stellen sich zwei Fragen, die man auseinanderhalten muss:

  1. Ist der Vorwurf der verschleppten Reformen und nicht eingelösten Zusagen berechtigt?
  2. Sind die griechischen Versäumnisse die wichtigste Ursache für das Scheitern der Sparprogramme, wie die Troika behauptet?

Auf die erste Frage gibt es eine klare Antwort: Sieht man einmal davon ab, ob die „Reformen“ sinnvoll sind, ist der Vorwurf berechtigt. Es gibt in der Tat massive und teilweise skandalöse Versäumnisse. Fast alle von der Troika eingeforderten Maßnahmen stellen Verpflichtungen dar, die Athen schon im Rahmen des ersten und des zweiten Memorandums (vom November 2011 und März 2012) eingegangen ist (oder eingehen musste), die teilweise aber sogar bis zum Mai 2010 zurückreichen. Auf einigen Gebieten wurde die gesetzliche Voraussetzung für die zugesagten Reformen geschaffen, die Umsetzung jedoch verzögert oder noch gar nicht angegangen. Für die Verschleppung der Maßnahmen war zum Teil das Parlament, zum größeren Teil aber das Versagen – oder die Obstruktion – der Bürokratie verantwortlich. Insbesondere wurden fast alle Zusagen, die von griechischer Seite im zweiten Memorandum gemacht wurden, während der Wahlkampfperiode (April bis Juni 2012) verschleppt oder boykottiert, weil die Parteien (voran ND und Pasok) ihren speziellen Wählergruppen bestimmte Zumutungen ersparen wollten. Besonders spürbar war diese Verschleppungstaktik bei den Steuereinnahmen, weil bestimmte Zahlungsfristen (auch für zurückliegende Steuerschulden) in die Nachwahlzeit verschoben wurden.

Wegen der Wahlen wurde zum Beispiel die Erstellung eines Informationssystem verschoben, in dem die Angehörigen des öffentlichen Dienstes (mit ihren Qualifikationen und ihrer beruflichen Laufbahn) zentral erfasst werden sollen. Man wollte die beamtete Klientel nicht verschrecken, die darin (zurecht) ein Instrument zur Rationalisierung der staatlichen Bürokratien gesehen hätte. In diesem Kontext sei daran erinnert, dass die Regierung Papandreou im Frühjahr 2010 die Zahl der öffentlichen Bediensteten erst einmal mittels eines „Zensus“ erfassen musste, um die ersten Troika-Inspektoren über den personellen Umfang der eigenen Bürokratie unterrichten zu können. Aber der Krebsschaden dieser Bürokratie ist bis heute nicht behoben: Es gibt keine zentralisierten Informationssysteme jenseits der einzelnen Ministerien, die sich der Kontrolle von oben möglichst entziehen und Informationen mit anderen Ministerien nur ungern teilen. Und auch innerhalb der Ministerien gibt es nur schwache vertikale Kontrollen, sodass Vorgänge auf unterer Ebene leicht blockiert werden können. Zudem arbeiten viele öffentliche Ämter noch mit Handakten und Papierformularen; ein Besuch in einer griechischen Behörde gleicht nach wie vor einer Exkursion in ein Museum des vorindustriellen Zeitalters. Einen Überblick und eine soziologische Erklärung dieser und anderer Eigenheiten des griechischen Staatsapparates – die den viel beklagten Betrug der öffentlichen Bediensteten am Bürger begünstigen – bietet ein Text von Robert H. Wade, der im Juli 2012 in der englischen Ausgabe von Le Monde diplomatique erschienen ist. Ohne Informationen, wie sie Wade bietet, ist das komplexe Problem namens Griechenland nicht zu erfassen.

Am Rückstand der griechischen „Reformen“ gibt es nichts zu beschönigen. Seit Beginn der Krise ist aus den vielen Ankündigungen in der Realität wenig erfolgt. Die Evaluierung des öffentlichen Dienstes zum Beispiel, die langfristig den (unvermeidlichen) Personalabbau nach qualitativen Kriterien ermöglichen soll, setzt Reformen und Verfahren voraus, die bereits vor zwei Jahren hätten angepackt werden können. Allerdings ist es völlig erklärlich, dass es gegen solche Reformen gerade in einem Klientelstaat viel Widerstand gibt, weil in einem solchen System mehr Personen dank persönlicher Beziehungen und nicht dank ihrer Qualifikationen oder nach Bedarf eingestellt wurden. Aufgrund solcher Widerstände ist in vielen Sektoren und auf vielen Ebenen viel Zeit verloren gegangen. Das beklagt nicht nur die Troika, sondern mittlerweile auch eine Mehrheit der Bevölkerung, die kapiert hat, dass ohne Reformen im öffentlichen Sektor die „griechischen Krankheit“ nicht überwunden werden kann.

Man darf das Übel des Klientilismus nicht verharmlosen

An dieser Stelle muss – auch wenn das in manchen Kreisen nicht gerne gehört wird – noch einmal deutlich gesagt werden: Eine „linke“ Griechenland-Solidarität, die von den eingefleischten Übeln des Klientelstaats absieht, nützt weder den Griechen noch dem Verständnis der Realität (das gilt auch für Analysen wie die von Karlheinz Roth, die unter dem ambitionierten Titel „Griechenland – was tun?“ im VSA-Verlag erschienen ist). Viele – aber keineswegs alle – der von der Troika eingeforderten Reformen sind einfach überfällig, und wenn sie früher angepackt worden wären, hätte das Land nicht die Probleme, die es heute unter extrem harten Bedingungen zu bewältigen hat. Das heißt umgekehrt, dass jeder Zeitverlust bei der Überwindung des Klientelismus die Heilung der griechischen Krankheit verzögert, also die Leiden des Patienten verlängert und seine Schmerzen ins Unerträgliche steigert. Die Härten der Einkommensverluste und des Sozialabbaus – speziell für die Ärmsten der griechische Gesellschaft – sind nur in dem Maße zu mildern, in dem es gelingt, den Klientelstaat zu überwinden. Dass der Klientelstaat der größte Feind des Sozialstaats ist, haben die Griechen mühsam zu lernen begonnen. Die „Freunde Griechenlands“ sollten ihre Freunde in Griechenland bei diesem Lernprozess unterstützen, statt ihnen lediglich zu bestätigen, dass sie hilflose Opfer der Troika und der internationalen Finanzmärkte sind.

In welche Maße haben Versäumnisse zum Scheitern des Sparprogramms beigetragen?

Das beantwortet aber noch nicht die zweite Frage, in welchem Maße diese Versäumnisse zum Scheitern des Sparprogramms beigetragen haben. Hier ist die Antwort weit weniger eindeutig. Zwar gibt es einen Zusammenhang zwischen Reformstau und Verfehlung der Sparziele, aber den müsste man jeweils im Einzelfall untersuchen. Klar zutage liegt der Zusammenhang, wenn man die Versäumnisse bei der Steuererfassung betrachtet, die unmittelbar zu Defiziten bei den Staatseinnahmen führen. Seit 2010 wurde Lawinen von immer neuen Plänen durch die Etagen des Finanzministeriums gewälzt, von denen bislang kein einziger in die Praxis umgesetzt wurde. Fast jeden Monat tauchen neue Listen von erwiesenen oder mutmaßlichen Steuerschuldnern auf, deren deklarierte Einkommen mit ihren Vermögensverhältnissen abgeglichen werden sollen. Die „Rambos“ der Polizeitruppe zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität sind rastlos unterwegs und nehmen immer wieder Steuersünder fest. Aber die juristischen Voraussetzungen für fast-track-Verfahren, um erwiesene Steuerschulden einzutreiben, sind immer noch nicht geschaffen. Die Summe der ausstehenden Steuerbeträge von Großschuldnern liegt nach wie vor bei über 40 Milliarden Euro.

Für den griechischen Haushalt zählen jedoch nicht nur die großen Steuergangster. Kleinvieh macht auch Mist: Die geschätzten Verluste des Fiskus, die durch Schwarzarbeit und nicht abgeführte Mehrwertsteuer entstehen, belaufen sich jährlich auf zweistellige Milliardensummen, Tendenz steigend. Der Rückstand bei den Steuereinnahmen, der allein im ersten Halbjahr 2012 bereits auf 2,5 Milliarden Euro aufgelaufen ist, erklärt sich nahezu vollständig aus unterschlagenen Mehrwertsteuerbeträgen. Bei ihren Inspektionen auf griechischen Inseln hat die Steuerpolizei diesen Sommer festgestellt, dass zwischen 60 und 90 Prozent der kontrollierten Restaurants und Geschäfte keine Quittungen ausstellten, auf Grund derer die MWS-Beträge erfasst werden könnten (Besonders hohe Hinterziehungsquoten erzielten dabei einige Bezirke in Kreta und von Touristen viel frequentierte Inseln wie Rhodos, Kos und Kerkyra). Das hat natürlich auch mit der Krise zu tun, die viele Geschäfte tatsächlich nur mit betrügerischen Methoden überleben können. Zudem will sich ein Tavernenbesitzer, der damit rechnen muss, dass er nächste Saison nur noch Drachmen kassiert, diesen Sommer keinen Euro entgehen lassen. Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie schwer es ist, unter Bedingungen einer schweren Rezession ein Mindestmaß von Steuerehrlichkeit durchzusetzen. Auch das relativiert den Vorwurf der Troika, dass allein die Versäumnisse der Athener Politiker für das Scheitern der Sparziele verantwortlich seien.

Privatisierungen scheitern an der Rezession und an der Spekulation

Ganz falsch sind die Versäumnis-Vorwürfe im Hinblick auf die ausbleibenden Privatisierungserlöse. Dafür, dass sich die Erwartungen nicht erfüllt haben, sind ganz andere Ursachen maßgeblich: nämlich die Rezession und vor allem die Spekulation auf die Rückkehr der Drachme (die Privatisierungspolitik werde ich ausführlich in meinem nächsten Beitrag analysieren).

Alles in allem gilt für die Vorwürfe der Troika an die Athener Adresse: Die Bedeutung der griechischen Versäumnisse für das bisherige Scheitern der Sparprogramme wird stark übertrieben. Das Motiv dafür liegt auf der Hand: Mit den – auf vielen Feldern berechtigten – Vorwürfen will man kritischen Fragen nach den offensichtlichen Strukturdefekten des ganzen Programms ausweichen. Darauf hat der Kolumnis Nick Markoutzis in der Kathimerini vom 22. August hingewiesen: „Wenn man die Tatsache, dass Griechenland den fiskalischen Zielvorgaben der Troika ständig hinterher hechelt, mit der griechischen Laxheit erklären will, ist das nichts als ein Trick.“ Die eigentlichen Ursachen sieht Markoutzis zurecht in der „unaufhörliche Verschlechterung der Wirtschaftsdaten und in den politischen Schwierigkeiten bei der Durchsetzung einer Austeritätspolitik, die für ein Euroland beispiellos ist.“

Was bedeuten die neuen Haushaltskürzungen?

Zum Schluss noch ein Blick auf die erste Bedingung, die von der Regierung Samaras bis Mitte September erfüllt sein muss: die Verabschiedung von neuen Haushaltskürzungen in Höhe von 11, 6 Milliarden Euro. Über die Details des neuen, insgesamt dritten Sparprogramms, wollte ich eigentlich schon vor längerer Zeit berichten. Die Regierung hatte mehrfach angekündigt, sie werde die Details der Einsparungen auf jeden Fall vor der Samaras-Reise nach Berlin und Paris beschlossen haben. Das ist ihr aber nicht gelungen, weil sich weder die einzelnen Ministerien noch die drei Koalitionsparteien auf eine gemeinsame Streichliste verständigen konnten. Der sogenannte „Sparstab“, der im Finanzministerium unter Leitung des Vize-Finanzministers Staikouras arbeitet, hat nach wochenlangen Berechnungen und Verhandlungen mit den Ministerien als Diskussionsgrundlage eine Liste von Sparmaßnahmen vorgelegt, die eine Gesamtsumme von fast 14 Milliarden Euro ausmachten. Unklar ist, ob der Stab damit bereits auf Berichte reagiert hat, wonach die Troika eine zusätzliche Etatlücke identifiziert habe (die je nach Quelle auf 2,5 bis 4 Milliarden Euro beziffert wird). Jedenfalls hat Samaras diese erweiterte Streichliste in Berlin und Paris vorgezeigt, um die flexible Sparbereitschaft seiner Regierung unter Beweis zu stellen. Das ersparte ihm zugleich die Antwort auf die Frage, auf welche Maßnahmen sich die Regierung konkret geeinigt hat.

Aber eine Einigung steht immer noch aus. Die Athener Regierung muss aus der Streichliste der Spartechnokraten innerhalb der nächsten zehn Tage einen Mix destillieren, der Akzeptanz auf drei Ebenen finden soll:

  • im Kabinett und im Parlament bei den drei Regierungsparteien;
  • bei den Vertretern der Troika, die jeden Vorschlag auf seinen Spareffekt und seine „Nachhaltigkeit“ überprüfen werden;
  • auf der Ebene der Gesellschaft und bei den durch die Kürzungen betroffenen Gruppen.

Im Grundsatz steht bereits fest, dass die endgültige Streichliste unter anderem die laufenden Ausgaben (v.a. Sachmittel) aller Ministerien und weitere Kürzungen im Rüstungsprogramm (von bis zu einer Milliarde Euro) vorsieht. Die größten Einsparungen erfolgen jedoch auf Kosten von drei Gruppen:

  1. Rentner mit mittleren und höheren Bezügen;
  2. Solche öffentlich Bedienstete, die bislang relativ verschont wurden;
  3. Beschäftigte im „erweiterten öffentlichen Sektor“, also bei staatlichen und halbstaatlichen Unternehmen.

Zu 1: Bei den Renten sollen allein mindestens 2,6 Milliarden Euro eingespart werden; die Kürzungen sind gestaffelt, nach neuesten Berichten von 3 % für Renten zwischen 700 und 1000 Euro bis 15 oder 20 % für Renten über 2000 Euro Ta Nea vom 29. August), betreffen aber auch Zusatzrenten und staatliche Beihilfen, die Mini-Renten aufbessern sollen.

Zu 2: Die Kürzungen betreffen erstmals auch die sogenannten „besonderen Gehaltsgruppen“, also Militär, Polizei und Feuerwehr, Ärzte an staatlichen Krankenhäusern, Universitätspersonal und den diplomatischen und Justizdienst (Richter, Staatsanwälte). Dabei sind nicht alle Gruppen gleich betroffen, die größten Gehaltseinbußen sind bei Diplmaten und Richtern und bei den Universitäten vorgesehen, die geringsten bei den „uniformierten Bediensteten“.

Zu 3: Die Beschäftigten bei staatlichen und halbstaatlichen Betrieben, die bislang die geringsten Gehaltseinbußen hatten, werden jetzt prozentual am stärksten belastet: Ihre Bezüge sollen um 30 bis 35 Prozent zusammengestrichen werden.

Neue Konflikte bei der Durchsetzung eines weiteren Sparprogramms

Konkrete Beispiele für die Einkommensverluste bestimmter Gruppen werde ich geben, wenn das Paket der neuen Maßnahmen endgültig beschlossen ist. Dem werden noch heftige Konflikte vorausgehen, die sogar den Fortbestand der Troika-Koalition in Frage stellen könnten. Als wichtigste Konfliktpunkte zeichnen sich heute schon ab:

  1. Die Kürzungen bei den „besonderen Gehaltsgruppen“ und insbesondere bei Polizei und Militär. Diese Bereiche waren schon immer die Domäne der konservativen Nea Dimokratia. Die zuständigen Minister in der Samaras-Regierung stellt selbstredend die ND. Deshalb wollte die konservative Regierungspartei ihre Schutzbefohlenen zu Beginn der Streichdebatten vor jeder Gehaltskürzung schützen. Dabei bediente sie sich nicht nur der üblichen Klischees von den „Wächtern der Nation“ und der besonderen „patriotischen Verantwortung“ der Uniformträger. Intern verwies sie auch auf die Gefahr, dass in Zukunft noch mehr frustrierte Polizisten die rechtsradikale Partei Chrysi Avgi wählen könnten (seit längerem geäußerte Vermutungen, dass v.a. bei der Bereitschaftspolizei MAT starke Sympathien für die Neonazis herrschen, haben sich nach den letzten Wahlen deutlich verstärkt). Die Pasok und die Dimar drängten von Anfang an darauf, die besonderen Berufsgruppen nicht länger zu schonen. Sie werden sich aber wohl auf den Kompromiss einlassen, den die ND-Minister anstreben: den Uniformierten nur geringe Kürzungen (unter 5 Prozent) zuzumuten und vor allem die niedrigen Gehaltsgruppen ganz zu verschonen. Die Schonung entspringt gewiss auch der Überlegung, dass ein junger Bereitschaftspolizist, den die Regierung gegen protestierende Menschenmassen einsetzen will, mit einem Nettolohn von 650 Euro womöglich kein besonders loyaler Staatsdiener sein dürfte. In der Gesellschaft wird diese Sonderbehandlung der Uniformierten aber nicht gut ankommen. „Die Waffenträger werden gerettet, die Rentner werden getunkt“ lautet die gestrige Schlagzeile in Ta Nea.
  2. Die erheblichen Einschnitte in die Gehälter und Bezüge von öffentlichen Unternehmen wie dem Stromversorger DEI oder kommunalen Verkehrsbetrieben (die Gruppe läuft unter dem Namen DEKO, also „öffentliche Unternehmen und Organisationen“). Hier muss die Regierung mit besonders heftigen Reaktionen rechnen, weil die Gewerkschaften im öffentlichen Bereich sehr stark und ohnehin bereits mobilisiert sind, um gegen die angekündigten Privatisierungspläne zu protestieren und im Ernstfall zu streiken. Dennoch ist damit zu rechnen, dass alle drei Regierungsparteien gerade gegenüber diesen Gruppen hart bleiben. Und zwar auch deshalb, weil sie einen Großteil der Öffentlichkeit – und die Mehrheit der Beschäftigten des privaten Sektors – auf ihrer Seite wissen, weil die Bezüge bei den bislang verschonten DEKOs ganz erheblich über den Durchschnittslöhnen des privaten Sektors liegen.
  3. Die weiteren personellen Kürzungen im engeren „öffentlichen Dienst“: Auf diesem Gebiet sind die härtesten Konflikte nicht innerhalb der Koalition, sondern mit der Troika zu erwarten. Im ersten Entwurf des Sparprogramms wollte die Regierung jeden Personalabbau vermeiden, der über das Ausscheiden bei Rentenalter hinausgeht, wie es alle drei Parteien vor der Wahl versprochen hatten. Auf Einspruch der Troika-Vertreter sah man sich gezwungen, doch wieder auf das von der Regierung Papadimos praktizierte Modell der „Arbeitsreserve“ zurück zu greifen. In diesem Bereich sollen „überflüssige“ öffentliche Bedienstete, die man nicht mit einer verfrühten Pensionierung locken kann, bei reduzierten Bezügen abgeladen werden. Der Zeitraum dieser Bezüge (von ca. 60 Prozent) soll allerdings auf drei Jahre (statt zuvor einem Jahr) erweitert werden. Der Plan wird auf heftigen Widerstand der Gewerkschaften treffen, was für Pasok und Dimar ein größeres Problem darstellen könnte.

Im nächsten Bericht werde ich Details zu diesem Sparprogramm nachliefern und über die ersten absehbaren Reaktionen aus der Gesellschaft berichten. Zudem will ich über die Privatisierungspläne berichten, die von der Bevölkerung zum Teil begrüßt, zum Teil akzeptiert, zum Teil aber auch heftig abgelehnt werden. Und ich werde die Haltung – und das Dilemma – der linken Oppositionspartei Syriza beschreiben, die bereits ihren aktiven Widerstand gegen die Privatisierungen angekündigt hat.

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