Ein SPIEGEL unserer Zeit?

Ein Artikel von Heiner Flassbeck

Von Heiner Flassbeck.

Würde man deutsche Journalisten bitten, die Geschichte, die der SPIEGEL diese Woche über Deutschland erzählt, über die USA und über Großbritannien zu schreiben, ein wahres Katastrophenszenario wäre das Ergebnis. Zwei wirtschaftliche Super-Mächte im rasenden Zerfall, einst das Zentrum der industriellen Entwicklung der Welt, nun de-industrialisiert bis auf die Knochen, überflutet von Produkten aus Billigländern auf der einen Seite, unfähig, bei Hochtechnologieprodukten mit den anderen Hoch-Lohn-Ländern mitzuhalten auf der anderen. Beide Staaten hoch verschuldet gegenüber dem Ausland, Spielball fremder Interessen, weil große Teile der noch vorhandenen Industrie, selbst industrielle Ikonen wie Rolls Royce und Chrysler, längst den erfolgreichen Ausländern gehören.

Niemand könnte und würde das bestreiten. Die Geschichte der angelsächsischen De-Industrialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg ist hinlänglich bekannt und hundertmal bewiesen. Auch die Tatsache, dass vor allem die USA, immer stärker seit den 90er Jahren aber auch England, von ausländischen Investoren beherrscht werden, ist angesichts einer langen Geschichte horrender Leistungsbilanzdefizite und der damit zwingend einhergehenden Auslandsverschuldung nicht mehr umstritten.

Einen kleinen Schönheitsfehler hätte die Geschichte allerdings. Genau die beiden Länder, die in Sachen Industrie und internationaler Wettbewerbsfähigkeit total abgewirtschaftet haben, weisen in den letzten zehn Jahren die höchsten Wachstumsraten aller Industrienationen des Westens auf und haben mit Abstand die geringste Arbeitslosigkeit. Die anderen aber, die Sieger im Wettkampf der Nationen um die höchste Industriedichte, diejenigen, die die halbe Welt aufkaufen, um das Kapital, das sie durch ihre Leistungsbilanzüberschüsse auftürmen, halbwegs wirtschaftlich zu verwenden, die haben in Sachen Wachstum und Arbeitslosigkeit eindeutig verloren.

Ist das Zufall? Ist es Zufall, dass Deutschland und Japan, die beiden Länder, die seit Jahrzehnten vor allem auf die Industrie setzen, die in Sachen Exporterfolg alle anderen Hochlohnländer weit aus dem Feld schlagen, die seit Beginn der achtziger Jahre schon von den Weltwirtschaftsgipfeln regelmäßig zum weltweiten Störenfried ernannt werden, weil sie alle anderen Länder mit ihrer aggressiven Exportpolitik in die Verschuldung treiben, am Ende als die großen Verlierer dastehen? Ist es Zufall, dass in diesen beiden Ländern am meisten über die Verlagerung von Arbeitsplätzen in Billiglohnländer geredet wird? Ist es Zufall, dass die beiden Länder vom Internationalen Währungsfonds zu den am meisten von Deflation gefährdeten Nationen erklärt wurden?

Nichts davon ist Zufall, doch wie sollten das Journalisten einer Zeitung, die sich zum Ziel gesetzt hat, Deutschland reformfähig zu schreiben, wissen oder wissen dürfen?

Deutschland wird 2004, nach Schätzung des internationalen Währungsfonds und der Wirtschaftsforschungsinstitute, einen Leistungsbilanzüberschuss von 85 Mrd. Euro, das sind mehr als vier Prozent seines Bruttoinlandsprodukts, aufweisen. Der deutsche Handelsbilanzüberschuss, der Wert, um den die Exporte von Gütern und Dienstleistungen die Importe übertreffen, wird phantastische 180 Mrd. Euro erreichen. Das ist im internationalen Vergleich ein unglaublich großer Saldo in der Außenhandelsbilanz. Der deutsche Überschuss in der Leistungsbilanz, die alle relevanten Transaktionen außer dem reinen Kapitalverkehr erfasst, ist größer als der Japans und Chinas und bildet den wichtigsten Gegenposten zum Defizit in der amerikanischen Leistungsbilanz, das in diesem Jahr sage und schreibe 600 Mrd. US-Dollar betragen wird.

Doch das ist noch nicht einmal die ganze Wahrheit. Wer über Deutschland redet, redet über Gesamtdeutschland und vergisst geflissentlich, dass Deutschland wirtschaftlich immer noch geteilt ist. Zwar gibt es keine getrennte Außenhandelsstatistik mehr, doch wir wissen, wie uns vor allem Professor Sinn aus München immer wieder bestätigt, dass Ostdeutschland ein riesiges Leistungsbilanzdefizit aufweist, also eine Lücke zwischen der eigenen Produktion und dem eigenen Verbrauch von Gütern und Leistungen. Ostdeutschland lebt weit über seinen Verhältnissen und zwar, wegen der westdeutschen Transferleistungen, in einer Größenordnung die historisch einmalig ist.

Nehmen wir einmal an, das ostdeutsche Defizit gegenüber Westdeutschland läge nur in der Nähe der westdeutschen Transferleistungen, dann wären das etwa vier Prozent des westdeutschen Bruttoinlandsprodukts. Dann hätte Westdeutschland nicht einen Leistungsbilanzüberschuss von vier Prozent, sondern von acht Prozent. Das heißt, die Region Westdeutschland muss zwingend Jahr für Jahr eine Summe von schätzungsweise 300 Mrd. Euro, die acht Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts entspricht, nach Ostdeutschland und in den Rest der Welt transferieren, um ihre Exporte verkaufen zu können. Wohlgemerkt, die Zahlen sind nicht im Einzelnen zu belegen, die Größenordnung aber ist unstreitig und die Logik dieser Überlegungen ist absolut zwingend, da sie nicht auf einer Theorie beruhen, sondern auf unbestreitbaren buchhalterischen Zusammenhängen.

Ein Land aber, das per Saldo Kapital exportiert, und nicht, wie die USA und England importiert, muss natürlich günstige Anlagemöglichkeiten für diese Kapital im Ausland suchen. Was bietet sich an? Ein Unternehmen, das erfolgreich in Osteuropa wirtschaftet und hohe Gewinne erzielt, kann natürlich direkt polnische und ungarische Staatsanleihen kaufen. Es kann aber den Gewinn auch zu Hause zur Bank tragen, die es dann wieder an osteuropäische Investoren verleiht. Das Geld kann auch zuerst in die USA fließen und von dort an osteuropäische Kunden weitergegeben werden. Nur eines ist klar: Jeder Überschuss, der von deutschen Exporteuren erzielt wird, muss einen genau entsprechenden Kapitaltransfer nach sich ziehen.

Warum nun, muss man an dieser Stelle natürlich fragen, sollten die in Osteuropa und in Asien äußerst erfolgreichen deutschen Unternehmen ihre Überschüsse nicht direkt im Ausland anlegen, um ihre Marktposition zu festigen oder neue Aktivitäten zu starten? Die Antwort ist für jeden verständigen Menschen, der nicht auf Teufel komm raus Deutschland reformfähig schreiben will, sonnenklar: Das ist in der Tat die nahe liegende Art und Weise mit den deutschen Überschüssen umzugehen. Wer erfolgreich ist, versucht noch erfolgreicher zu werden, indem er mit seinen Gewinnen aus dem Auslandsgeschäft neue Fabriken in den Ländern baut, wo er seine größten Erfolge erzielt hat.

Dass dabei auch direkt Produktion vom Hochlohnland in ein Niedriglohnland verlagert wird, ist nicht erstaunlich und kein Grund an der Wettbewerbsfähigkeit des Hochlohnlandes zu zweifeln. Da einfache Arbeit fast überall auf der Welt gleich gut verrichtet werden kann, verlagern die Unternehmen natürlich arbeitsintensive Produktionen dorthin, wo die Arbeitsstunde nur ein Zehntel oder gar nur ein Zwanzigstel der deutschen kostet.

Nahezu alle Produkte könnten auf diese Weise, so suggerieren es aber die Auguren der Globalisierungsangst im SPIEGEL und anderswo, von den Ländern im Süden hergestellt werden und die Arbeitslosigkeit im Norden könnte beängstigende Ausmaße annehmen, wenn nicht sofort die Löhne und der Lebensstandard im Norden Richtung Süden massiv gesenkt werden.

Zwar ist fast alles falsch an dieser schlichten Idee, sie ist aber nicht totzukriegen, weil die herrschende neoklassische Lehre in der Ökonomie sie mit Pauken und Trompeten immer wieder aus der Versenkung hervorholt, sobald sie durch steigende Arbeitslosigkeit in den Industrieländern oder Einzelbeispiele wieder einmal eine Scheinbestätigung erfährt. Nach dieser Lehre können alle Länder der Welt praktisch alle Produkte, die global gehandelt werden, ohne weiteres herstellen, weil, erstens, alle Technologien überall zur Verfügung stehen, und weil zweitens, so unterstellt es diese Lehre, man mit viel Arbeit und wenig Kapital einen Computerchip genauso gut herstellen kann, wie mit wenig Arbeit und viel Kapital.

Ersteres ist falsch, weil fast alle Technologien nicht einfach verfügbar sind, sondern nur abgerufen werden können in einen komplexen Prozess des Zusammenwirkens von Arbeit und Kapital, der auf einer großen Menge von praktischem Erfahrungswissen beruht, das nirgendwohin – über Nacht gewissermaßen – transportiert werden kann. Wie sollte es sonst zu erklären sein, dass, um ein sehr deutsches und sicher unfaires Beispiel zu wählen, General Motors genauso wie Mercedes schon weit über hundert Jahre Autos baut, aber noch immer keinen einzigen Mercedes zustande gekriegt hat.

Auch die zweite Annahme ist falsch. Technologien zur Herstellung moderner weltmarktfähiger Produkte, die mit großem Aufwand an Forschung und auf der Basis der oben genannten komplexen Prozesse entstanden sind, kann man nicht einfach wider zurückverwandeln in Technologien, die mit sehr viel weniger Kapital und sehr viel mehr Arbeit funktionieren. Wie sonst wäre es zu erklären, dass bei Direktinvestitionen in Niedriglohnländer nicht andere Fabriken exportiert werden als die, die auch zu Hause gut und mit viel Kapitaleinsatz gearbeitet haben. Man kann mit der Technologie der fünfziger Jahre und viel Arbeit eben keine Mobiltelefone bauen, und eine andere Technik zu erfinden, die es erlauben würde, die gleichen Telefone mit mehr Arbeit und weniger Kapital herzustellen, wäre extrem teuer und, schlimmer noch, sinnlos.

Das eigentliche Motiv derjenigen, die solche Investitionen in armen Ländern tätigen, ist ja nicht, wie die traditionelle Theorie vermutet, Kapital zu sparen bei gleichen Gewinnen, sondern höhere Gewinne zu machen, temporäre Monopolstellungen zu erreichen, die sich aus der Kombination hoher Produktivität mit niedrigen Löhnen realisieren lassen. Das kommt freilich in der Theorie nicht vor, weil ja der perfekte Wettbewerb regiert und das Entstehen von Monopolen und Vorsprüngen von vorneherein ausgeschlossen ist.

Daraus folgt: Arme Länder sind arm, weil sie nur über einen kleinen Kapitalstock verfügen und, außer Rohstoffen, nur ganz wenige Produkte herstellen können, die sich am Weltmarkt mit Gewinn verkaufen lassen. Reiche Länder sind reich, weil sie einen großen Kapitalstock besitzen und sehr viele weltmarktfähige Produkte mit Gewinn produzieren können. Selbst wenn nun also via Direktinvestition aus dem Überschussland Deutschland das eine oder andere Produkt oder Vorprodukt zusätzlich in den Entwicklungsländern hergestellt wird, dann dreht dies doch nicht kurzfristig die Verhältnisse um, sondern trägt nur dazu bei, dass manche arme Länder eine Chance zum langfristigen Aufholen haben.

Im Ergebnis ist es ganz einfach: Die Geschichte des SPIEGEL musste für Deutschland geschrieben werden, weil sich nur aus der Kombination von extremer Exportorientierung und deflationärer Wirtschaftspolitik ein Ausmaß an „Arbeitsplatzverlust“ und gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit ergeben konnte, das scheinbar so gut zu der Globalisierungsphobie passt, die wir „brauchen“, um Deutschland reformfähig zu schreiben. Dass dabei die Einordnung der Fakten vergessen und die Zusammenhänge auf den Kopf gestellt werden, gehört zu den Kleinigkeiten, die unsere Medien uns jeden Tag in wirtschaftlichen Fragen zumuten.