Eurozonen-Finanzminister lassen Griechen am Abgrund taumeln

Ein Artikel von Niels Kadritzke

Die Süddeutsche Zeitung trifft den Nagel auf den Kopf: „Zoff statt Zaster“ lautet der Titel des Berichts über die vergeblichen Bemühungen der Eurozone, sich mit dem IMF auf ein gemeinsames Rezept für Griechenland zu einigen. Für Athen ist das ein bitteres Resultat, schreibt die Zeitung: „Am Ende bleibt nur die Wut der Griechen und ein neuer Termin. Geld bekommt Griechenland vorerst nicht.“ Dabei drängt die Zeit, denn spätestens bis Anfang Dezember muss Griechenland die zugesagten 31,5 Milliarden Euro (bis Jahresende sogar 44 Milliarden) aus dem EFSF-„Rettungsprogramm“ erhalten, um Gehälter und Renten auszahlen zu können.
Von Niels Kadritzke.

Ein Grundsatzstreit zwischen Eurozone und IWF

Ob die Finanzminister der Eurozone am kommenden Montag endlich ein verbindliches Konzept und damit die Auszahlung beschließen werden, ist derzeit offen. Denn nach einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters rührt die Verzögerung keineswegs von „technischen“ Schwierigkeiten, wie Eurozonen-Chef Juncker beschönigend meinte. Vielmehr gibt es grundsätzliche Differenzen zwischen der Eurozone (bzw. ihren dominierenden Kräften) und dem IWF, was die „Tragfähigkeit“ (viability) des griechischen Schuldenabbauprogramms betrifft (diese Differenzen habe ich mehrfach in meinen letzten Beiträgen dargestellt).

Die 15-seitige Vorlage für die Euro-Finanzminister, auf die sich Reuters bezieht, geht von einer klaren Prämisse aus: Das ursprüngliche Kriterium für die Tragfähigkeit, nämlich die Reduzierung der griechischen Gesamtverschuldung auf 120 Prozent des BIP bis zum Jahr 2020, ist unmöglich zu erreichen – es sei denn die Staaten der Eurozone und die EZB „schreiben einen Teil ihrer Kredite an Griechenland ab“. Das aber wird von Deutschland und anderen Nordländern strikt abgelehnt bzw. ist nach dem EZB-Statut rechtlich nicht möglich (siehe dazu auch Jens Berger vom 7. November). In der Vorlage heißt es dazu (nach Reuters), ohne weitere Maßnahmen würde die griechische Verschuldung 2020 immer noch bei 144 Prozent des BIP liegen. Diesen Schuldenstand weiter zu senken, erfordere Maßnahmen, die auf Einbußen an Kapital oder an öffentlichen Geldern der Gläubigerstaaten hinauslaufen würden. Das aber würde „zumindest in einigen Mitgliedsstaaten, die politische und öffentliche Unterstützung für die Gewährung von Finanzhilfen gefährden“.

Das Papier geht davon aus, dass das 120-Prozent-Ziel erst 2022 erreicht werden kann – und auch das nur mit zusätzlichen Maßnahmen, über die man sich noch nicht einigen konnte. Der IWF dagegen hält diese Verschiebung um zwei Jahre für Augenwischerei und bezweifelt grundsätzlich die „Tragfähigkeit“ des ganzen Programms ohne einen Schuldenschnitt auch für die „offiziellen“ Gläubiger Griechenlands. Ohne ein „tragfähiges“ Konzept aber hat der IWF analoge Probleme wie die Eurozone und die EZB: Zum einen verbietet in diesem Fall das IWF-Statut, weitere Kredite zu gewähren, zum anderen sind innerhalb der Organisation die nicht-europäischen Länder immer weniger bereit, im Fall Griechenland ein Auge zuzudrücken.

Griechenland schleppt sich zur Ziellinie, die keine war

Bei der griechischen Regierung ist die Enttäuschung über den Ausgang des Brüsseler Treffens natürlich groß. Denn die Eurozonen-Finanzminister haben ihr bescheinigt, dass sie mit der Verabschiedung des neuen „Sparprogramms“ und neuer massiver Haushaltskürzungen für 2013 „ihren Teil der Arbeit“ durchaus erledigt habe. In Athen hat man deshalb das Gefühl, dass sich die Regierung Samaras abermals über eine Ziellinie geschleppt, die keine ist. Ein gewisses Mitgefühl für die Regierung lässt sogar die oppositionelle linke Syriza erkennen, die das Ergebnis von Brüssel mit dem Satz kommentiert: „Die Regierung erfüllt alle Wünsche (der Eurogruppe), und wird als Belohnung nur gedemütigt.“

Der griechische Sparmarathon geht also weiter, und die Distanz, die noch zu bewältigen ist, bleibt auf längere Zeit unbekannt. Derweil spitzt sich die ökonomische und soziale Krise weiter zu. Im dritten Quartal 2012 ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 7.2 Prozent eingebrochen, damit hat sich die Rezession noch vertieft und wird für das gesamte Jahr 2012 deutlich über 7 Prozent liegen. Das bedeutet zugleich, dass der für 2013 erwartete Rückgang des BIP um 5 Prozent aus heutiger Sicht eine zu optimistische Annahme ist. Die Arbeitslosenrate ist bei 25 Prozent angelangt – und diese Zahl wurde für den August, einen vom Tourismus belebten Ferienmonat ermittelt. Ende dieses Jahres wird sich die Quote der 30 Prozent-Grenze nähern. Zudem hat heute mindestens die Hälfte aller noch Beschäftigten lediglich einen Teilzeitjob oder aber eine nicht reguläre also unversicherte Arbeit.

Die parlamentarische Mehrheit der Regierung Samaras ist weiter geschrumpft. Nach den neuesten Umfragen gehen drei Viertel Prozent der Bevölkerung davon aus, dass die Dreier-Koalition (ND, Pasok, Dimar) die volle Legislaturperiode nicht überleben wird. Und 60 Prozent der Befragten rechnen im Fall von Neuwahlen mit einem Sieg der linkssozialistischen Oppositionspartei Syriza. Deshalb will ich im folgenden Beitrag nicht nur den Hintergrund und die Folgen der jüngsten Haushaltsbeschlüsse darstellen, sondern auch die Überlebenschancen der Regierung Samaras untersuchen, und – damit verbunden – die Perspektiven und das Dilemma der sozialistischen Opposition.

Neue Kosten für den griechischen Haushalt

Am 7. November verabschiedete das griechische Parlament ein Gesetzespaket, das die rechtlichen Voraussetzungen für ein neues „Sparprogramm“ schaffen sollte, mit dem die Regierung Samaras das öffentliche Defizit in den Haushaltsjahren 2013 und 2014 um 13,5 Milliarden Euro reduzieren will. Vier Tage später folgte die Abstimmung über den Staatshaushalt 2013, mit dem die erste Etappe dieses neuen „Sparprogramms“ umgesetzt wird. Dieses Programm ist das dritte, das seit Mai 2010 auf Geheiß der Troika (EU, EZB, IWF) beschlossen wurde, und zwar nach monatelangen Verhandlungen mit vielen Unterbrechungen und Konflikten, sowohl zwischen der Troika und Athen als auch innerhalb der griechischen Regierungskoalition. Da die Auflagen der Troika wieder in einem „Memorandum“ (griechisch: mnimónio) formuliert wurden, wird das neue Sparpaket allgemein als „Memorandum 3“ bezeichnet.

Aber selbst mit den beiden Abstimmungs-„Siegen“ im 300-sitzigen Parlament – der erste mit der extrem knappen Mehrheit von 153 Stimmen, der zweite mit 167 Stimmen – hat die Regierung Samaras ihr Etappenziel noch nicht erreicht. Das ist erst erreicht, wenn die Finanzminister der Euro-Zone die 31,5 Milliarden Euro aus dem ESFS-Rettungsprogramm freigeben, die Griechenland eigentlich schon für Juli zugesagt waren. Zudem sind Athen nach dem 2. Memorandum (vom März 2012) bis Ende des Jahres weitere 13,3 Milliarden Euro zugesagt. In Athen geht man trotz der Konflikte zwischen Eurozone und IWF immer noch davon aus, dass die Gesamtsumme von fast 45 Milliarden Euro spätestens am 5. Dezember ausgezahlt werden kann.

Allerdings hat die Verzögerung für den griechischen Haushalt schon jetzt bittere Konsequenzen. Um Gehälter und Renten bis Ende des Jahres auszahlen zu können, musste die staatliche Schuldenverwaltung PDMA am 13. und 15. November neue kurzfristige Staatspapiere (sog. T-bills von ein- bzw. dreimonatiger Laufzeit) im Wert von 5 Milliarden Euro per Auktion verkaufen, wobei die Zinsbelastung von etwas über 4 Prozent natürlich wieder den Haushalt belastet (zum Vergleich: in derselben Woche verkaufte die Bundesrepublik T-Bills im Wert von 4.3 Milliarden Euro zu einem negativen Zinssatz von 0,02 Prozent). Eine weitere Folge ist, dass ohne die Milliarden aus dem Rettungsschirm weder die Banken rekapitalisiert noch die Schulden der Regierung gegenüber dem privaten Wirtschaftssektor (schätzungsweise 7 bis 8 Milliarden Euro) bezahlt werden können.

Die fälligen 44 Milliarden Euro werden also dringend gebraucht, um akute Löcher zu stopfen. Sie sind noch keineswegs das viel beschworene Konjunkturprogramm, sondern erlauben es dem griechischen Staat lediglich, sich zum nächsten Zwischenziel zu schleppen, das bezeichnenderweise nur negativ zu definieren ist: als abermaliges Hinausschieben der Zahlungsunfähigkeit, sprich des offenen Staatsbankrotts.

Aber auch dies wäre nicht möglich gewesen ohne die „Streckung“ des Schuldenabbau-Programms um zwei Jahre, also bis Ende 2016. Offiziell hat die Troika diese Fristverlängerung erst eine Woche vor der Verabschiedung des 3. Memorandums bewilligt, obwohl allen Beteiligten seit Monaten klar war, dass diese „Entlastung“ der griechischen Seite unabdingbar ist. Der Poker um die Verlängerung, der von Berlin und vor allem von Finanzminister Schäuble inszeniert wurde, sollte die Athener Regierung unter Druck setzen, hatte aber tatsächlich vor allem zur Folge, die Popularität der Regierung Samaras und die Plausibilität ihrer „Sparpolitik“ noch weiter zu untergraben (siehe dazu meine Darstellung auf den NachDenkSeiten vom 30. August und vom 24. September).

Durch die Fristverlängerung entsteht allerdings eine weitere Finanzlücke, die von EZB-Seite auf über 30 Milliarden Euro geschätzt wird. Wie diese Lücke gefüllt werden soll, muss noch innerhalb der Eurozone entschieden werden. Die Debatte darüber hat wesentlich dazu beigetragen, die Bewilligung der nächsten griechischen „Rettungsrate“ weiter hinauszuzögern, zumal wegen des erhöhten Finanzbedarfs auch noch die nationalen Parlamente zustimmen müssen.

Ein drittes „Sparprogramm“ – aber kein Plan für die Zukunft

Was also wurde mit den beiden Parlamentsbeschlüssen in Athen erreicht? Ein Kommentar in der Tageszeitung Ta Nea bringt es auf den Punkt: „Wir haben ein neues Sparprogramm, aber keinen Plan für die Zukunft.“ Das dritte Sparpaket besiegelt in der Tat nur eine Politik, deren Scheitern nicht mehr bezweifelt werden kann. Der Kommentator Nikos Markoutsis schrieb am 7. November in der Kathimerini: „Es gibt wohl niemanden, der im Ernst glaubt, dass die 13,5 Milliarden an Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen, die für die nächsten beiden Jahre beschlossen wurden, dazu beitragen werden, den unaufhaltsamen wirtschaftlichen Niedergang Griechenlands aufzuhalten.“ Was die Troika den Griechen abverlangt, sei demnach kein Rettungsplan, sondern vielmehr „die Ankündigung eines ökonomischen Suizids“. Wobei Markoutzis darauf verweist, dass die für 2013 geforderten Sparmaßnahmen – in Höhe von 9,5 Milliarden Euro, was 4,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) entspricht – inzwischen nicht nur von führenden Wirtschaftswissenschaftlern, sondern auch vom IWF als „nicht nur kontraproduktiv, sondern sogar als destruktiv eingeschätzt werden“.

Man kann diesen Hinweis noch ergänzen: Es sind nicht nur der IWF bzw. IWF-Chefin Christine Lagarde und und dessen Chefökonom, Olivier Blanchard, die sich seit einiger Zeit dem von Berlin dominierten Diskurs der EU-Retter widersetzen (siehe dazu Jens Berger auf den NachdenkSeiten vom 7. November). Ähnlich sieht es Charles Dallara, Geschäftsführer des internationalen Bankenverbands IIF (Institute of International Finance), der im Frühjahr 2012 federführend den haircut der griechischen Schulden gegenüber dem privaten Sektor (PSI) ausgehandelt hat. In einem Interview mit der Kathimerini vom 11. November erklärte der IIF-Chef: „Geschwächte Männer und Frauen, die gerade aus dem Krankenhaus entlassen wurden, mögen versuchen, einen Marathonlauf zu bestreiten, aber sie werden ihn nicht gewinnen.“ Die den Griechen auferlegten Sparziele seien unmöglich zu realisieren gewesen. Der Teufelskreis immer wieder „verfehlter Ziele“ müsse ein Ende haben. Daraus ergeben sich für Dallara drei Schlussfolgerungen:

  1. Die von Griechenland geforderten „Reformen“ sind nicht in wenigen Monaten umzusetzen: „Die Schaffung einer effizienteren und dynamischeren Wirtschaft wird fünf bis zehn Jahre in Anspruch nehmen. Ich sage nicht, dass Griechenland nicht bald wieder zu Wachstum zurückfinden kann, aber ich sage, dass wir Geduld haben müssen.“
  2. Um die Rate der Staatsverschuldung – also das Verhältnis von Schuldensumme zu Wirtschaftsleistung (BIP) – zu senken, darf man nicht nur auf den Zähler (die Schulden) starren, man muss vor allem den Nenner (das BIP) beeinflussen: „Der Schlüssel zu einem nachhaltigen Schuldenabbau liegt im Nenner, das heißt: wir brauchen wirtschaftliches Wachstum.“
  3. Für die Rückkehr zum Wachstum sind drei Dinge erforderlich: Kredite, Investitionen und Zuversicht. Den letzten Faktor hält Dallara für besonders wichtig: „Die Europäer müssen sich unisono und eisern zu dem Ziel bekennen, dass Griechenland in Europa, in der Eurozone bleiben muss, dass also nicht stets aufs Neue jene zweifelnden und ambivalenten Stimmen aufkommen, die immer wieder die Stimmung auf den (Finanz-) Märkten überschattet haben.“
  4. Letzten Endes brauchen wir einen „klarer Plan für die Zukunft der Eurozone“: Der Fall Griechenland sei nicht nur ein „griechisches Problem“, sondern resultiere aus „einer Reihe von strukturellen Ungewissheiten in der Eurozone“.

In einem Vortrag in Athen am letzten Mittwoch warnte Dallara noch einmal: „Wir müssen uns bewusst werden, dass eine nur auf Sparen versessene Politik nicht nur Griechenland, sondern die ganze Eurozone zu einer längeren Periode eines geringen oder eines Null-Wachstums verurteilt“ (zitiert nach Kathimerini vom 14. November).

Ein Ausweg aus der griechischen Schuldenfalle?

Dallara bietet allerdings noch kein alternatives Rezept für die vordringlichste Aufgabe: die Bewältigung des kurzfristigen griechischen Schuldenproblems. Wichtige Überlegungen zu dieser Frage wurden in letzter Zeit auf den NachdenkSeiten dokumentiert, zum Beispiel von Jens Berger (7. November), von Rudolf Hickel (12. November) und von Ulrike Hermann (taz-Kommentar vom 13. November). Bedenkenswert ist in diesem Kontext auch ein detaillierter Vorschlag, der vom Brüsseler Think-Tank Bruegel am 7. November veröffentlicht wurde. Unter dem Titel „The Greek debt trap: an escape plan“ trägt Zsolt Darvas ein Konzept vor, das den von Jens Berger benannten Einwänden gegen einen haircut für die Kredite des offiziellen Sektors Rechnung trägt (das sogenannte Official Sector Involvement oder OSI würde griechische Bonds im Besitz der EZB und der nationalen Zentralbanken betreffen). Darvas schlägt keinen glatten OSI- Schuldenschnitt vor, sondern drei anderweitige Schritte zur Reduzierung der Belastung:

  • eine „Absenkung der Zinsrate für die offiziellen Kredite auf 0 Prozent bis 2020“;
  • eine „Verlängerung der Fälligkeitsfristen für alle offiziellen Kredite“;
  • die „Bindung des Nominalwert aller offiziellen Kredite an den Index des griechischen BIP“.

Darvas geht davon aus, dass man damit die griechische Verschuldungsquote bis 2020 unter die Grenze von 100 Prozent des BIP drücken kann. Und er verweist auf einen weiteren Vorteil: „Sollte sich die Wirtschaftslage weiter verschlechtern, werden keine neuen Regelungen nötig werden. Wenn jedoch das Wachstum über Erwarten zulegt, werden die offiziellen Gläubiger davon profitieren.“ (der gesamte Text ist nachzulesen hier)

Kann die griechische Staatsverschuldung auf mittlere Sicht nicht unter 120 Prozent des BIP gedrückt werden, sieht Darvas keine Hoffnung: „Wenn Griechenland so weitermacht wie bisher, steuert es auf eine Katastrophe zu. Die Verschuldungsrate wird innerhalb der nächsten Jahre die Marke von 190 Prozent des BIP übersteigen, die Wirtschaft wird gegenüber dem Vorkrisen-Niveau um fast ein Viertel geschrumpft sein, und die Zahl der beschäftigten Griechen wird nächstes Jahr unter das Niveau von 1980 fallen.“ Vor allem aber sieht Darvas massive politische Risiken voraus, wenn die hohe Verschuldungsrate und die ökonomische Rezession sich weiterhin gegenseitig aufschaukeln, zumal dies auch die Grexit-Phantasien weiter nähren wird: „Wenn ein Sparpaket auf das andere folgt, könnte es so weit kommen, dass die Regierung und das Parlament nicht mehr fähig oder willens sind, neue Maßnahmen zu beschließen, weil sie mit gesellschaftlichem Gegendruck und politischen Unruhen rechnen müssen. Das kann zum Zusammenbruch der Regierung, zu innenpolitischer Lähmung und zur Beendigung der externen finanziellen Hilfsprogramme führen.“

Hat die Regierung Samaras noch eine politische Zukunft?

Bei der Diskussion um das Memorandum 3 im Parlament hat Regierungschef Samaras feierlich versichert, dieses Sparprogramm werde das letzte sein. Nach der neusten Umfrage (des Instituts GOP für den Sender Mega-TV), die nach den Parlamentsbeschlüssen gemacht wurde, nehmen ihm nur 13 Prozent diese Versicherung ab, während 83 Prozent nicht daran glauben. Und knapp zwei Drittel der Befragten sind der Meinung, dass die ganze Politik der Regierung in die falsche Richtung führt. Zugleich gehen über zwei Drittel der Wähler davon aus, dass der „Sieg“ bei den Abstimmungen der letzten Woche das Ende der Koalitionsregierung näher gerückt hat.

In der Tat zeigen die Abstimmungen, dass die parlamentarische Mehrheit der Regierung deutlich geschrumpft ist. Bei der Verabschiedung des Memorandums 3 stimmten zwei Abgeordnete der Nea Dimokratia und sechs der Pasok nicht mit ihrer Fraktion und wurden anschließend ausgeschlossen. Insgesamt haben die Regierungsparteien seit den Wahlen vom Juni bereits 12 Abgeordnete verloren: 4 der ND und 7 der Pasok, die heute als unabhängige Abgeordnete im Parlament sitzen; ein Abgeordneter der linkssozialdemokratischen Dimar ist zur Syriza-Fraktion übergetreten. Die Dimar verzeichneten bei den Abstimmungen der letzten Woche drei weitere „Abweichler“, die Partei hat allerdings bislang noch nicht – wie ihre beiden Koalitionspartner – mit Ausschlüssen reagiert.

Damit ist die Koalitionsmehrheit seit Juni von 179 auf 167 Sitze geschrumpft. Bei der Abstimmung vom 7. November brachte es die Regierung Samaras sogar nur auf 153 Stimmen. Die Dimar-Fraktion hatte Stimmenthaltung beschlossen, weil sie nicht den tiefgreifenden Eingriffen ins Arbeitsrecht zustimmen wollte, die als Teil des Gesamtspakets „Memorandum 3“ verabschiedet wurden. In einem „normalen“ parlamentarischen System würde die Enthaltung einer Koalitionspartei in einer so wichtigen Frage zum Platzen der Koalition führen. Aber davon ist in Athen nicht die Rede, weil die Regierung Samaras ohne die Dimar auf ihr bloßes „Existenzminimum“ reduziert wäre, sodass ihr bei jeder kritischen Abstimmung eine Niederlage drohen würde.

Pasok im freien Fall

Ungeachtet des formalen Fortbestands der Koalition geben die meisten Beobachter der Regierung Samaras allerdings keine lange Lebensdauer mehr. Das hat vor allem mit den unsicheren Perspektiven der beiden kleinen Koalitionsparteien dazu – wobei das Wort „unsicher“ im Fall der Pasok eher zu harmlos ist. Die meisten Beobachter in Athen sehen die Partei nur noch als politischen Leichnam, der wie ein geköpftes Huhn noch eine Weile in der politischen Arena herumtaumelt. Die ehemals so selbstbewusste und machtarrogante „Panhellenische Sozialistische Bewegung“ wird spätestens nach den nächsten Wahlen zerbröseln. In den letzten Umfragen liegt die Pasok nur noch bei 5 bis 7 Prozent, gegenüber 12,3 Prozent bei den letzten Wahlen im Juni 2012. Damit würde sie nicht einmal mehr drittstärkste Partei werden, sondern auf die vierte oder fünfte Stelle zurückfallen (und in jedem Fall hinter die faschistische Partei Chrysi Avgi, die bei den Umfragen inzwischen die Zehn-Prozent-Grenze durchbrochen hat).

Noch signifikanter erscheint, dass die Pasok heute unter den sieben im Parlament vertretenen Partei die unpopulärste ist, und dass ihr Vorsitzender Venizelos in der Popularitätstabelle unter den Führern der demokratischen Parteien an letzter Stelle liegt. Die Tragödie der Pasok, deren letzte historische Mission sich ironischerweise in der Rolle des Mehrheitsbeschaffers für die Samaras-Regierung erschöpft, gerät in ihrem Endstadium zu einer veritablen Farce. Der Niedergang der Partei hängt aufs engste mit der Krise und der seit 2009 betriebenen kontraproduktiven Krisenpolitik zusammen. Doch mit einer ernsthaften Selbstkritik und mit glaubhaftem Personal hätte sich die Partei durchaus noch als dritte Kraft der griechischen Politik behaupten können. Aber inzwischen hat sie in den Augen der Wähler ihr letztes Vertrauenskapital verspielt. Den Todeskuss hat ihr dabei ihr eigener Vorsitzender Evangelos Venizelos versetzt, der in seiner Rolle als Finanzminister systematisch zu verhindern wusste, dass steinreiche Steuerhinterzieher und Steuerschuldner erfasst und verfolgt wurden.

Was geschah mit der Lagarde-Liste?

Diese Geschichte mit der „Lagarde-Liste“ kam Anfang Oktober ans Licht, aber ihre Pointe besteht darin, dass diese Liste bereits seit Sommer 2010 in griechischen Händen war, ohne dass ihr Potential zum Aufspüren möglicher Steuersünder genutzt wurde. Die damalige französische Finanzministerin Christin Lagarde hatte das Verzeichnis von Inhabern hoher Geldbestände auf der Schweizer HSBC-Bank (das ein Bankmitarbeiter dem französischen Geheimdienst zugespielt hatte) ihrem griechischen Kollegen Papakonstaninou (bis Juni 2011 Finanzminister der Regierung Papandrou) in Form einer CD zukommen lassen. 2011 wanderte diese Liste, jetzt in Form eines USB-Stick, zu Papakonstantinous Nachfolger Venizelos weiter, der sie nach Hause mitgenommen und dann angeblich „vergessen“ hat.

Dass die Finanzpolizei niemals beauftragt wurde, die Liste systematisch nach Steuerbetrügern zu durchforschen, ist ein Skandal für sich. Zwar stehen nicht alle der über 1900 Namen auch für Steuersünder, aber die könnte man aus der Liste herausfiltern, wenn die Behörden die Kontobestände mit den deklarierten Einkommen und Vermögen der Kontoinhaber abgleichen würden. Ich habe in meinen Beiträgen wiederholt (zuletzt am 26. September) dargestellt, wie diese Aufgabe immer wieder vernachlässigt oder verschleppt wurde. Aber dass eine hochkarätige Quelle wie die Lagarde-Liste von höchster Stelle einfach weggeschlossen wurde, übersteigt alle Phantasien über die Unverfrorenheit der politischen Klasse.

Noch suspekter ist die Tatsache, dass die Liste aus Paris als CD angeliefert, von Venizelos aber als Stick aufbewahrt wurde. Das nährt den Verdacht, dass sie in der Zwischenzeit von Namen „gesäubert“ wurde, die besonders peinlich gewesen wären. Ob damit reiche Griechen (und womöglich Politiker) vor der steuerlichen Verfolgung bewahrt werden sollten, oder ob Steuersündern sogar (wie die Syriza öffentlich mutmaßte) Schutzgelder abgepresst werden sollten, ist für die Beurteilung des Falles sekundär. In den Augen der griechischen Normalbürger reicht es aus, dass Venizelos keinerlei Ehrgeiz zeigte, aus den Auslandsguthaben reicher Griechen mehrere Milliarden an ausstehenden Steuerschulden einzutreiben, während er zugleich die Lohn- und Rentenkürzungen und den Abbau der Sozialleistungen als unvermeidlich, ja als höchstes Gebot der Staatsraison darstellte.

Widersprüchliche Haltung der Demokratischen Linken (Dimar)

Das werden die griechischen Wähler – egal ob sie es als Versagen oder als Verbrechen sehen – Venizelos und seiner Partei niemals verzeihen. Ganz anderer Natur ist das Problem des zweiten kleinen Koalitionspartners, der Dimar (Demokratische Linke). Die linken Sozialdemokraten, die mit ihrem Vorsitzenden Fotis Kouvelis bei den Juniwahlen 6,25 Prozent der Stimmen und 17 Parlamentsmandate gewonnen haben, behaupten sich bei den Umfragen etwa auf demselben Niveau. Auch ist Kouvelis nach wie vor der am meisten geachtete Parteiführer, weil er als ehrlich und integer gilt, wenn auch seine Popularitätsquote im November erstmals unter 50 Prozent gesunken ist.

In gewisser Weise hat die Dimar jedoch ein größeres Problem als die Pasok, weil sie als Partei, die gegen die Sparpolitik angetreten ist, ihre Beteiligung an der Regierung Samaras immer weniger rechtfertigen kann. Von Anfang an musste sich die Partei gegen den Vorwurf ihrer ehemaligen Genossen von der Syriza wehren, sie diene nur als Feigenblatt der „Memorandums-Regierung“ und helfe damit, die Macht der langjährigen Systemparteien ND und Pasok weit über deren politisches Verfallsdatum hinaus zu konservieren. Kouvellis hat demgegenüber den Beitritt zur Koalition mit zwei Argumenten gerechtfertigt: Man wolle dafür sorgen, dass erstens das Memorandum 2 neu verhandelt, sprich abgemildert wird; und dass zweitens die sozialen Lasten des Sparens gerechter verteilt werden.

Das erste Ziel hat die Dimar glatt verfehlt: Statt das Memorandum 2 zu mildern, musste sie das noch härtere Memorandum 3 schlucken und mittragen. Umso wichtiger war es für die Partei, ihr zweites Ziel zu verteidigen. Dafür hat sie sich auch wochenlang beharrlich eingesetzt, was einer der Gründe war, warum sich die Verhandlungen über das neue Sparprogramm bis Anfang November hinzogen. Am längsten sperrten sich die Dimar und der von ihr benannten Minister gegen eine ultimative Forderung der Troika, die mit den Sparzielen eigentlich gar nichts zu tun hat: den fast vollständigen Abriss des griechischen Arbeitsrechts. Dem könne seine Partei nicht zustimmen, erklärte Kouvellis im Parlament: „Die Arbeitsrechte sind bereits verstümmelt“, jetzt wolle die Troika, „dass die letzten Reste auch noch liquidiert werden“. In diesem Punkt blieb die Dimar konsequent. Ihre Parlamentarier enthielten sich der Stimme (ein Abgeordneter stimmte entgegen der Fraktionsdisziplin mit Nein). Damit haben sie ihr Gesicht gewahrt, ohne ihre Beteiligung an der Regierung aufzukündigen. Diese widersprüchliche Politik verschafft der Dimar allerdings keine neuen Anhänger. Die erste Umfrage, die nach den beiden Parlaments-Beschlüssen durchgeführt wurde, bescheinigt ihr einen Wähleranhang von lediglich 5 Prozent.

Abriss des Arbeitsrechts im Interesse des Bankensektors

Ein kleiner, aber wichtiger Exkurs: Warum die Troika so unerbittlich auf liquidatorischen „Reformen“ des Arbeitsrechts besteht, die in zentralen Punkten geltendem europäischen Recht widersprechen, ist für die meisten Beobachter ein Rätsel geblieben. Ein Athener Ökonom hat mir allerdings erklärt, dass für dieses Projekt einen präzisen aktuellen Grund gibt: die Abfindungsansprüche bei Entlassungen, die nach dem Troika-Konzept drastisch reduziert werden. Dies liegt im ganz speziellen Interesse des griechischen Bankensektors, in dem sich ein großformatiger Fusionsprozess anbahnt. An dessen Ende wird es nur noch drei Großbanken geben: die Nationalbank oder Ethniki (Ethniki Trapeza Ellados, die selbst von Wirtschaftsjournalisten häufig mit der Zentralbank verwechselt wird), Alpha Bank und Piräus Bank (eine Übersicht über die vollzogenen und bevorstehenden Fusionen bietet.)

Dieser Konzentrationsprozess wird Zehntausende von Bankangestellten „freisetzen“. Da die Gewerkschaften des Bankensektors in der Vergangenheit ausgesprochen günstige Abfindungsregelungen durchgesetzt haben, würde die Bedienung der alten Ansprüche die Bilanzen der drei Großbanken, die ohnehin auf einen Rekapitalisierungsschub aus EFSF-Mitteln angewiesen sind, erheblich belasten. Genau das soll durch die neuen Regeln verhindert werden.

Gibt es eine Alternative zu der gescheiterten Regierung?

Das einzige Argument, das nach den Abstimmungen vom November für das Weiterbestehen der Regierung Samaras spricht, ist ein negatives: Die reduzierte Mehrheit im Parlament schweißt die Dreier-Koalition stärker zusammen als zuvor, weil sie jetzt auf die Mitwirkung der Dimar angewiesen ist. Die Sozialdemokraten um Kouvelis sind also nicht mehr nur eine „linke Dekoration“ des Bündnisses der beiden alten Systemparteien, sondern werden gebraucht. Und da die Dimar versprochen hat, alles zu tun, um Griechenlands Ausscheiden aus der Eurozone zu verhindern, wird sie diese Regierung stützen. Dabei kann sie sich sogar durch die Umfragen bestätigt sehen. Denn zum Euro bekennt sich nach wie vor eine breite Mehrheit der Griechen, wenn auch nicht mehr fast 80 Prozent (wie noch bei den Juni-Wahlen). Heute sagen nur noch 63 Prozent, dass ihr Land „um jeden Preis“ in der Eurozone bleiben müsse, während der Anteil der Euro-Skeptiker auf 34 Prozent gestiegen ist.

Ein verblüffendes Argument für die Regierung ergibt sich jedoch aus einem anderen Umfrage-Resultat: Während eine große Mehrheit die aktuelle Sparpolitik für verfehlt, ungerecht und kontraproduktiv hält, sind zugleich 62 Prozent der potentiellen Wähler der Meinung, dass eine andere Regierung auch keine bessere Lösung bieten würde. Diese Skepsis erklärt auch, dass sich über die Hälfte aller Griechen derzeit keine Neuwahlen wünscht.

Dieses Resultat verweist auf das grundsätzliche Dilemma der linken Opposition, die nach den letzten Umfragen die nächsten Wahlen knapp, aber sicher gewinnen würde. In meinem nächsten Beitrag werde ich die Perspektiven und Probleme der Syriza genauer darzustellen versuchen.