Ein Jahr russische Protestbewegung – Was hat es gebracht?

Ulrich Heyden
Ein Artikel von Ulrich Heyden

Nur etwa 3.000 Menschen kamen am Sonnabend zu einem „Marsch der Freiheit“ vor die Zentrale des russischen Geheimdienstes. Von Ulrich Heyden, Moskau[*]

An einem Gedenkstein für die Opfer der Repression während der Sowjet-Zeit legten Hunderte von Demonstranten weiße Nelken und Rosen nieder. Der mannshohe Stein aus einem Gulag-Arbeitslager im Norden Russlands steht in Sichtweite der Zentrale des russischen Inland-Geheimdienstes, FSB.

Doch mit etwa 3.000 Teilnehmern, die Polizei sprach von nur 700 Teilnehmern, war die Kundgebung nur schwach besucht. Dabei sollte die Veranstaltung eigentlich an den Start der Protestbewegung vor exakt einem Jahr erinnern, als sich wegen offensichtlicher Wahlfälschungen bei der Duma-Wahl über 100.000 Menschen auf dem Bolotnaja-Platz versammelten.

Festnahmen der „Rädelsführer“
Die Protestaktion am Sonnabend richtete sich vor allem gegen Festnahmen und Haftstrafen von Oppositionellen, gegen die Verschärfung des Demonstrationsrechtes und die Untersuchungsverfahren gegen die Koordinatoren der Protestbewegung, Aleksej Nawalni und Sergej Udalzow. Beide wurden gegen Ende Kundgebung zusammen mit etwa 40 anderen Demonstranten festgenommen aber am Abend wieder freigelassen wurden.

Die Kälte war mit zwölf Grad Minus unerbittlich. Unerbittlich waren auch die Parolen einiger Demonstranten, die riefen, „Putin, nimm Gift“. Andere riefen „Tahrir, Majdan, Bengasi“ und „Freiheit für die politischen Gefangenen“.

Die Polizei hatte den Platz mit einem dichten Kordon umzingelt und griff gezielt Demonstranten aus der Menge. So wurde ein Mann festgenommen, auf dessen Schal stand, der russische Präsident sei ein Dieb. Immer wieder gab es Durchsagen der Polizei, die Demonstranten sollten den Platz verlassen, „damit andere Bürger Blumen niederlegen können“.

Der Koordinationsrat der Protestbewegung hatte alle Angebote der Stadtverwaltung abgelehnt, auf einem anderen Platz in der Innenstadt zu demonstrieren. Angesichts der Tatsache, dass zahlreiche Putin-Gegner im Gefängnis sitzen, sei die Geheimdienst-Zentrale der einzige passende Ort für eine Kundgebung.

Dass der Koordinationsrat nicht auf die Angebote der Stadtverwaltung einging, schränkte die Zahl der Kundgebungsteilnehmer deutlich ein. Denn nur ein harter Kern von Demonstranten ist bereit, eine Festnahme und eine Ordnungsstrafe zu riskieren, insbesondere wenn die Neujahrsferien kurz bevor stehen.

Das Protestpotential ist weiter hoch
Die geringe Beteiligung an der Kundgebung vor der Geheimdienst-Zentrale sagt aber nichts aus über das Protestpotential in Russland. Das ist nach einer Ende November durchgeführten Umfrage des Lewada-Meinungsforschungsinstituts weiter hoch. 40 Prozent der Bevölkerung unterstützen die Protestaktionen „für ehrliche Wahlen“. 22 Prozent der Bürger sind bereit, sich an Protestaktionen zu beteiligen. 22 Prozent der Befragten, meinen, dass die Proteste bereits Erfolge gebracht haben. Diese Meinung bezieht sich offenbar auf die unter Dmitri Medwedew begonnene Wahlrechtsreformen, wie die Zulassung neuer Parteien und die Wiedereinführung der Direktwahl von Gouverneuren. Diese Reformen werden von Präsident Wladimir Putin jetzt fortgeführt.

Das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung unter Dmitri Medwedew ist nicht besonders hoch. 69 Prozent der Bürger sind nach der Lewada-Umfrage der Meinung, dass die Regierung nicht effektiv arbeitet. Insbesondere wird beanstandet, dass die Regierung nicht in der Lage ist, den Preisanstieg zu bremsen (52 Prozent) und Arbeitsplätze zu schaffen (33 Prozent). 32 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass korrumpierte Personen – gemeint sind Beamte und andere Funktionsträger – vor allem „in ihrem eigenen Interesse handeln“.

Die Russen haben Angst vor radikalen Lösungen
Doch obwohl die Unzufriedenheit der Russen groß ist und sogar 25 Prozent die Losung „Putin muss abtreten“ unterstützen, gibt es keine Unterstützung für radikale Lösungen. Die Erinnerung an die chaotischen Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion steckt den Menschen immer noch in den Knochen. Die Popularitätsrate scharfer Kreml-Kritiker wie Blogger Aleksej Nawalny und Links-Front-Koordinator Sergej Udalzow liegt bei nur zwei bzw. ein Prozent. Nur die Popularitätsrate des gemäßigten Kreml-Kritikers, Milliardärs, und ex-Präsidentschaftskandidaten Michail Prochorow liegt mit acht Prozent beachtlich hoch. Prochorow nahm auch schon an Demonstrationen der Protestbewegung teil, trat aber bisher nicht als Redner auf.

Dass die aktive Unterstützung der Protestbewegung zurückgeht hat auch damit zu tun, dass sich die unterschiedlichen Flügel der Bewegung – Liberale, Linke und Rechtsradikale – bisher nur auf ein Minimalprogramm einigen konnten, die Gegnerschaft zu Putin und die Forderung nach der Freilassung der politischen Gefangenen. Forderungen gegen die Kommerzialisierung des Bildungs- und Gesundheitswesens werden zwar von der Sprechern der Linken auf Kundgebungen vorgetragen, finden aber keine Unterstützung bei den Sprechern der Liberalen.

Wie am Sonntag bekannt wurde, hat Links-Front-Koordinator, Sergej Udalzow, vorgeschlagen, die nächste Großdemonstration gegen Putin erst im Frühjahr durchzuführen.


[«*] Ulrich Heyden, Journalist und Buchautor, ist seit 1992 freier Korrespondent für deutschsprachige Medien in Moskau. Ulrich Heyden/Ute Weinmann, Opposition gegen das System Putin, Herrschaft und Widerstand im modernen Russland, Rotpunktverlag 2009.

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