Leidet Wolfgang Schäuble unter Realitätsverlust?

Jens Berger
Ein Artikel von:

Glaubt man dem deutschen Finanzminister hat „die Eurozone den schlimmsten Teil der Krise [bereits] überstanden“. Dies ist eine höchst erstaunliche Aussage, wenn man bedenkt, dass uns nahezu täglich neue Hiobsbotschaften aus ganz Europa erreichen. Wenn Schäuble wirklich meint, was er sagt, leider er unter einem fortgeschrittenen Realitätsverlust. Von Jens Berger

Wenn Wolfgang Schäuble sich einen Eindruck von der düsteren Realität verschaffen will, sollte sich nur einmal die Januar-Überschriften des Blogs „Querschuesse“ zu Gemüte führen:

  • Portugal: reale Einzelhandelsumsätze mit -5,2% zum Vorjahresmonat
  • Italien: mieseste PKW-Neuzulassungen seit 1979!
  • Portugal: Industrieproduktion mit -4,1% zum Vorjahresmonat
  • Portugal: schwächste PKW-Neuzulassungen seit 27 Jahren
  • Deutschland: PKW-Neuzulassungen mit -16,4%
  • Griechenland: Kreditkontraktion ist ungebrochen
  • Irland: Industrieproduktion mit -6,6% zum Vorjahresmonat
  • Griechenland: Industrieproduktion auf dem Level von 1978
  • Griechenland: Allzeithoch bei der Arbeitslosenquote mit 26,8%
  • Spanien: Industrieproduktion mit -7,3% zum Vorjahresmonat
  • Italien: Industrieproduktion mit -7,6% zum Vorjahresmonat
  • EU27: PKW-Neuzulassungen mit -16,3% zum Vorjahresmonat
  • Italien: Bau und Industrie in der Abwärtsspirale

Die Liste ließe sich nahezu endlos fortführen. Wenn dies Schäuble nicht reicht, sei ihm auch ein Blick in den „Sozial- und Beschäftigungsbericht“ empfohlen, den EU-Sozialkommissar László Andor am Dienstag der Öffentlichkeit vorgestellt hat. 2012 war für Andor „ein weiteres miserables Jahr für Europa“ und es sei „unwahrscheinlich, dass sich die sozialökonomische Lage in Europa 2013 wesentlich verbessern wird“, die Entwicklung sei „besorgniserregend“. Das klingt alles ganz und gar nicht danach, dass wir den schlimmsten Teil der Krise bereits überstanden hätten. Im Gegenteil.

Schäubles Parallelwelt

Um Schäubles Äußerung wenigsten im Ansatz verstehen zu können, muss man seinen Blick von der realen Welt abwenden und sich einen Moment den Finanzmärkten zuwenden. Es ist in der Tat so, dass sich die Lage am Anleihenmarkt in den letzten Monaten deutlich entspannt hat und die Krisenstaaten (Griechenland ausgenommen) ihre frischen Anleihen zu deutlich niedrigeren Zinskosten am Markt platzieren konnten. Diese Entspannung ist nicht wegen, sondern trotz der „Rettungsprogramme“ der EU eingetreten. Maßgeblich verantwortlich für die positive Entwicklung ist vielmehr die Interventionspolitik der EZB. Dies ist wohlgemerkt die Notenbankpolitik, die von den deutschen Medien, der schwarz-gelben Bundesregierung, der Bundesbank und den ordnungspolitischen Hardlinern unter den deutschen Ökonomen aufs Schärfste kritisiert wurde und wird. Was nutzen aber die niedrigsten Zinsen – die freilich immer noch weit über den deutschen Zinsen liegen -, wenn die Volkswirtschaften sich im freien Fall befinden, die Arbeitslosigkeit monatlich neue Rekordwerte erreicht und damit die Basis für die Steuereinnahmen der Staaten wegbricht?

Von der Staatsanleihen- in die Austeritätskrise

Die (zu) hohen Zinsen an den Anleihenmärkten sind längst nicht mehr das drängendste Problem der Eurozone. Doch selbst das ist nur die halbe Wahrheit. Diese Zinsen waren als solche auch nie das drängendste Problem, sondern das, was die Politik daraus gemacht hat. Hätte die EZB beispielsweise von Anfang an eine Carte blanche für Interventionen am Sekundärmarkt bekommen, hätte es die „Staatsanleihenkrise“ nie gegeben.

Für Wolfgang Schäuble stand jedoch stets die „Staatsanleihenkrise“ im Fokus, war sie doch das Einfallstor, durch das man unseren Nachbarn die deutsche neoliberale Agenda aufzwingen konnte. Die aktuelle Krise ist eine direkte Folge dieser Agenda. Die NachDenkSeiten haben in zahllosen Artikeln und Hinweisen auf diese Problematik hingewiesen. Stellvertretend seien hier die Artikel „Wenn Theorie und Realität einfach nicht zusammenfinden wollen“ und „Der Irrtum der Euroretter und das Schweigen im Blätterwalde“ genannt. Heute können wir das Ergebnis dieser Agenda in Echtzeit beobachten und niemand kann behaupten, dass dieses Ergebnis in irgendeiner Form überraschend wäre.

Rückabwicklung des europäischen Projekts

Eine erste Folge der selbstmörderischen Austeritätspolitik ist die soziale, ökonomische und finanzielle Spaltung Europas. Zeichneten sich die letzten Jahrzehnte vor der Krise vor allem dadurch aus, dass sich die soziökonomischen Bedingungen in den EU-Staaten langsam anglichen, hat die Krise dazu geführt, dass der Aufholprozess von Staaten wie Griechenland, Portugal, Spanien, Italien und Irland in Windeseile rückabgewickelt wird. Diese Länder lagen in den 70ern und 80ern in nahezu allen Disziplinen weit hinter dem im Vergleich hochindustrialisierten und wohlhabenden Westdeutschland. Die Angleichung der Lebensverhältnisse war stets Kern des europäischen Projekts. Heute sind wir jedoch auf dem besten Weg, die historischen Erfolge aufs Spiel zu setzen.

Wenn Wolfgang Schäuble die Krisenfolgen bagatellisiert, verdrängt er nicht nur die Realität, sondern setzt damit auch das europäische Projekt aufs Spiel. Er hinterlässt dabei mehr Scherben, als jeder Elefant im Porzellanladen es je tun könnte. Man stelle sich nur für einen Moment einmal vor, wie Schäubles Worte in den Krisenländern aufgenommen werden. Wie kommt es bei den Opfern an, wenn sie vom Täter verhöhnt werden?

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