Wozu Spitzenkandidaten?

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Nach dem Grundgesetz werden bei der Bundestagswahl keine Spitzenkandidaten gewählt, sondern die Abgeordneten des Deutschen Bundestags (Art. 38 Abs. 1 GG). Und die Kandidaten werden in der Regel von den Parteien ausgewählt. Warum ziehen aber die meisten Parteien mit Spitzenkandidaten in den Wahlkampf?
Darin spiegelt sich die zunehmende Personalisierung von Politik wider, die seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, vor allem mit dem Aufkommen des Fernsehens zu beobachten ist. Von Wolfgang Lieb

Bei der CDU/CSU ist es ohnehin klar, wer uns im Bundestagswahlkampf von den Plakaten entgegenlächeln wird. Außer Angela Merkel haben die sich christlich nennenden Parteien ohnehin kein Gesicht, das sie vorzeigen könnten. Bei der SPD hat sich der „Kanzlerkandidat“ Peer Steinbrück erst nach einem längeren Versteckspiel der „Troika“ durch eine Indiskretion eher ungewollt herausgestellt. Die Grünen haben in einer Mitgliederbefragung Katrin Göring-Eckardt und Jürgen Trittin zu ihren „Spitzenkandidaten“ gewählt. Bei der FDP hat Philipp Rösler Rainer Brüderle die Spitzenkandidatur angeboten, um sein Amt als Parteivorsitzender zu retten. Nur DIE LINKE konnten sich nicht auf ein Solo von Gregor Gysi oder ein Duo zusammen mit Sahra Wagenknecht verständigen und präsentierten ein achtköpfiges Spitzenteam und wollten das als eine „neue Kultur der kollektiven und kooperativen Führung der Partei“ darstellen. Wie sich die Piraten Partei öffentlich präsentieren wird, muss sich erst noch zeigen.

Nach dem Grundgesetz werden jedoch bei der Bundestagswahl keine Spitzenkandidaten gewählt, sondern die Abgeordneten des Deutschen Bundestags (Art. 38 Abs. 1 GG) und die Kandidaten werden in der Regel von den Parteien ausgewählt. Warum ziehen aber die meisten Parteien mit Spitzenkandidaten in den Wahlkampf?

Angela Merkel tritt im Wahlkampf als amtierende Kanzlerin an und weder die CDU noch die CSU stellen sie in dieser Rolle in Frage und mangels einer wirklichen Alternative werden, die dann in den Bundestag gewählten Abgeordneten ihr auch ihre Stimme geben. Auch dass die SPD eine personelle Alternative zu Merkel anbieten möchte, kann man noch nachvollziehen. Sie will damit ein Zeichen setzen, dass sie einen Wechsel im Amt des Bundeskanzlers anstreben möchte. Aber wozu brauchen FDP und Grüne Spitzenkandidaten, da sie sich doch keine realistische Chance ausrechnen können, den künftigen Regierungschef oder die Regierungschefin zu stellen?

Bei dem Kult, der um die Nominierung von Spitzenkandidaten betrieben wird, spiegelt sich die zunehmende Personalisierung von Politik wider, die seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, vor allem mit dem Aufkommen des Fernsehens dramatisch zugenommen hat. Mehr und mehr orientierten sich die Wahlkämpfer an den amerikanischen Wahlkampagnen mit ihren “personality shows“ und dem absoluten Vorrang des Kandidaten vor seiner jeweiligen Partei. Was bei einer Präsidentenwahl, wo es tatsächlich um die Wahl einer personellen Alternative geht, durchaus angelegt ist, widerspricht dem Prinzip der Parlamentswahl, wo einzelne Abgeordnete und mit der Zweitstimme einzelne Parteien und deren Wahlliste gewählt werden, die dann je nach parteipolitischer Mehrheit wiederum die Regierung wählen.

Die Benennung von Kanzler- oder Spitzenkandidatinnen und –kandidaten charakterisiert den vom Soziologen Max Weber schon vor hundert Jahren herausgearbeiteten Gegensatz von „rationaler und charismatischer Herrschaft“. Personalisierung heißt Entsachlichung der Politik. Die tatsächlichen politischen Vorgänge und politische Konzepte verschwinden hinter der Darstellung einer Persönlichkeit vor allem über die Medien.

Statt dass die Medien die Bürgerinnen und Bürger instand setzen, komplexe politische Vorgänge zu durchschauen und ihre Interessen in die öffentliche Meinungsbildung einzubringen und ihnen damit das Gefühl vermitteln, dass sie eine aktive Rolle im politischen Prozess einnehmen, stürzen sie sich auf die Selbstdarstellung von Politikern und machen Jagd auf deren persönliche Marotten und Verfehlungen.

Die Personalisierung der Politik bedeutet, dass die komplexe, von vielfältigen Motivationen und Einstellungen geprägte Wahlentscheidung reduziert wird auf eine Entscheidung zwischen den Spitzenkandidaten. Es findet somit eine Vereinfachung politischer und demokratischer Prozesse statt. Die mediale Inszenierung verlangt nach starken Sprüchen und einfachen Lösungen. Die Symbolik steht weit vor den Inhalten.
Es geht nicht so sehr um die Sache, sondern ums Image, das den Spitzenkandidaten in der veröffentlichten Meinung zugeschrieben wird. Es geht vor allem um „Wer gegen Wen“. Wahlen werden geradezu zu einer Fernsehshow à la „Deutschland sucht den Superstar“.

Das ist das Einfallstor der PR-Agenturen und der sog. Spin-Doktoren. Nicht Parteien und deren Programme konkurrieren um Wählerstimmen, sondern miteinander konkurrierende professionelle PR-Berater. Was diese als werbewirksam in ihren Wahlkampagnen entwickeln, leitet sich nahezu ausschließlich aus Meinungsumfragen und Marketingstrategien ab und nicht aus der Programmatik der Parteien deren Imageträger die Spitzenkandidaten sein sollen. Die Debatte über vorhandene Probleme und deren Lösung wird ausgeblendet und die Scheinwerfer werden geschönte Phantombilder gerichtet. Es geht um Inszenierung, Performance und Wahrnehmungsbeeinflussung. Wie bei jeder beliebigen Markenwerbung geht es um die Verkaufe des Produkts, also um die Manipulation des Publikums.

Die Nominierung von Peer Steinbrück erfolgte nicht etwa deshalb, weil er die Politik seiner Partei am besten verkörperte, sondern weil ihm unter den personellen Alternativen damals in Meinungsumfragen die höheren Popularitätswerte gegenüber Gabriel und Steinmeier zufielen. Steinbrücks dramatischer Absturz in nahezu allen Sympathie- und Kompetenzmessungen zeigt, wie irrational, anspruchslos und von kurzer Dauer solche rein auf die Person bezogenen Auswahlentscheidungen sind. Bei keinem „Fettnäpfchen“ in das Steinbrück getreten ist, handelte es sich um ein konkretes politisches Thema und schon gar nicht um eine Kritik an irgendwelchen alternativen Lösungsvorschlägen gegenüber der Politik der Bundesregierung. Es ging um die Höhe von Honoraren, um das Kanzlergehalt und um einen „Frauenbonus“ seiner Gegenkandidatin. Als ob wir sonst keine Probleme hätten.

Noch kürzer lagen „Hosianna“ und „kreuzige ihn“ beim Spitzenkandidaten der FDP beieinander. Seit Monaten wurde Rainer Brüderle von seiner Entourage und von den Medien zum Vorsitzenden seiner Partei hochgejubelt. Als der amtierende Vorsitzende Philipp Rösler ihn überraschend vor die Entscheidung stellte, verließ ihn der Mut, er wich zurück und ließ sich in der Rolle des „Spitzenkandidaten“ feiern. Brüderle und nicht etwa der Vorsitzende seiner Partei soll nun die FDP im Wahlkampf verkörpern. Doch kaum war ihm der Titel Spitzenkandidat zuerkannt, reichte ein einziger Zeitungsartikel über eine lange zurückliegende Zote aus, damit sich der gesamte Medienbetrieb über den Sexismus im Allgemeinen und speziell Brüderles hermachte. Die existenziellen Probleme Europas und der deutschen Politik waren vollständig in den Hintergrund geraten. Über die politischen Zoten, die Brüderle in nahezu jeder seiner Reden reißt, hat sich allerdings noch kaum jemand aufgeregt.

Die Personalisierung von Politik in den Medien ganz allgemein hat dazu geführt, dass ein immer größerer Teil der Bürgerinnen und Bürger Politik nur noch als eine zu Skandalen erhobene Abfolge von persönlichem Fehlverhalten von Politikern erlebt. Das politische Engagement der Bürgerinnen und Bürger, wird auf das Tadeln, auf das Schimpfen, auf Rücktrittsforderungen aufgrund solcher privaten Fehltritte verengt. Die Menschen werden in eine passive Zuschauerrolle gedrängt und dürfen, wie im römischen Zirkus nur über das Verbleiben der Politiker in der Arena noch den Daumen heben oder senken.

Ein Empörungskult verlangt, dass Köpfe rollen sollen. Ein Rücktritt wird nicht etwa gefordert, wenn von Politikern die Interessen breiter gesellschaftlicher Kreise gröblich verletzt werden, wenn sie eine ungerechte oder gemeinschädliche Politik vertreten.

Jedenfalls gibt es da keinen derartigen Medienwirbel. Zu Guttenberg musste nicht deswegen als Verteidigungsminister zurücktreten, weil die Mehrheit der Bevölkerung gegen den Afghanistan-Krieg ist. Die Medien ließen ihren Liebling fallen, weil er bei seiner Doktorarbeit plagiiert hat. Man kann die Rücktritte der letzten Jahre durchgehen: Otto Graf Lambsdorff musste als Bundeswirtschaftsminister wegen der Flick-Spenden-Affäre gehen; Max Streibl musste wegen einer Amigo-Geschichte als bayerischer Ministerpräsident zurücktreten; Bundesverkehrsminister Günther Krause (wer kennt ihn noch?) wurde zum Verhängnis, dass seine Frau ein Putzhilfe teilweise aus Fördermittel des Arbeitsamtes bezahlte. Christian Wulff oder Anette Schavan sind nur die aktuellsten Beispiele: Die allermeisten Rücktritte von Politikern in der Nachkriegszeit, wenn sie nicht aus eigener Entscheidung ihren Platz räumten, wurden wegen persönlichen Verfehlungen und nicht wegen ihrer verfehlten Politik erzwungen.

Dabei sollte das Gefühl einer demokratischen Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger doch nicht auf den Applaus oder auf Buhrufe gegenüber einzelnen Personen beschränkt sein, sondern eine lebendige Demokratie ist gerade umgekehrt von der aktiven Artikulation von Interessen und sachlichen Forderungen aus den unterschiedlichsten Gruppen und von Kontroversen um einen vernünftigen Interessenausgleich abhängig.

Mit der Nominierung von Spitzenkandidaten wird die Personalisierung der Politik auf die Spitze getrieben. Damit wird suggeriert, dass Politik vor allem eine Angelegenheit der Eliten oder einzelner herausgehobener Führer ist. Eine Stimmung von „ihr da oben und „wir da unten“ breitet sich aus. Damit wird gerade in unsicheren Zeiten einem weit verbreiteten Gefühl Vorschub geleistet, es komme nur auf einen starken Mann oder eine starke Frau an der Spitze an.

Eine personelle Zuspitzung hat nichts mit Aufklärung über politische Sachverhalte zu tun, sondern stellt im Gegenteil einen Verfall der politischen Debatte und einen Verlust demokratischer Diskussionskultur über politische Inhalte dar. In einer Demokratie sollte es vor allem um den Wettbewerb unterschiedlicher Konzepte um politisch vernünftige Lösungen gehen. Das verlangt eher eine Entpersonalisierung von politischer Macht. Es verwundert nicht, dass ein starke Zuspitzung auf einzelne Personen eher ein Kennzeichen von autoritären Regimen oder gar Diktaturen und eher Ausdruck von schwachen Demokratien ist.

Die Landtagswahl von Niedersachsen hat jedoch gezeigt, dass ein noch so populärer Spitzenkandidat und ein noch so perfekt gestylter Wahlkampf keine Garantie für einen Wahlsieg sind, wenn die Wählerinnen und Wähler spüren, dass die Wahlpropaganda an den Problemen und Themen vorbeigeht, die die Menschen ganz persönlich betreffen. Es kommt vielleicht doch weniger auf die Spitzenkandidaten an, als die Wahlkampfmanager vermuten. Empirische Studien haben gezeigt, dass sich Wählerinnen und Wähler vor allem dann an Personen orientieren, wenn die Unterschiede zwischen den Parteien gering sind [PDF – 540 KB].
Das sollten auch die Spitzenkandidaten und ihre Wahlkampfmanager zur Kenntnis nehmen.

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