Lackierte Kampfhunde – Der Straßenverkehr als Ventilsitte

Götz Eisenberg
Ein Artikel von Götz Eisenberg

„Wer bremst, verliert!“, lautet das Motto des Lebens unter den Bedingungen entfesselter Konkurrenz. Der andere ist der Feind – Glück ist, wenn der Pfeil den Nebenmann trifft. Nirgends zeigen sich die Folgen einer systematisch betriebenen Entgesellschaftung und Entsolidarisierung so deutlich wie im Straßenverkehr. Von Götz Eisenberg.

In Thomas Pynchons Roman Vineland begegnen wir einem Burschen namens Frenesi. Er ist Aushilfsarbeiter, Biertrinker, Wellenreiter und spielt am Wochenende in einer Band, die Corvairs heißen. „Neben der gemeinsamen Vorliebe für Bier teilten die Anhänger beider Subkulturen, ob sie auf dem Surfbrett standen oder hinter dem Steuer eines 409ers saßen, den Nervenkitzel und die Ekstase der passiven Bewegung, des AusgeliefertseinsNach ihren Auftritten zog es die Corvairs ruhelos nach draußen, wo sie in den ländlichen Nebeln das Roulette der Motorfreaks spielten. … Das Spiel bestand darin, mit einem Tempo, das deutlich über dem erlaubten Limit lag, in die bleiche Mauer des Nebels hineinzurasen und seinen Kopf darauf zu setzen, dass der weiße Tunnel keine anderen Fahrzeuge, keine Kurven und keine Baustellen enthielt, nur ein glattes, ebenes, leeres Stück Straße, das sich in die Unendlichkeit erstreckte – die Motorfreak-Version eines Surfertraums.“

Dieses Vabanque-Spiel, das eine kleine exzentrische Subkultur von Surfern und Rockmusikern in den 80er Jahren des 20. Jahrhundert in der amerikanischen Provinz als Nervenkitzel betrieb, hat sich bei uns zum Volkssport verallgemeinert, der die Nebelbänke des nächtlichen Kaliforniens durch rote Ampeln ersetzt. Mehrfach am Tag erlebt man folgende Szene: Man fährt auf eine Ampel zu, die gerade auf Gelb umspringt. Eigentlich müsste man jetzt bremsen, aber man fährt noch durch. „Puh, gerade nochmal gut gegangen“, denkt man, und sieht dann im Rückspiegel, dass die beiden Wagen hinter einem auch noch die Ampel passieren, die inzwischen längst auf Rot umgeschaltet haben muss. Aus der anderen Perspektive sieht das so aus: Man wartet, dass die Ampel, vor der man steht, über Gelb auf Grün schaltet, fährt los und merkt mit Schrecken, dass von der Seite noch Autos vorüberschießen, die in die Rotphase ihrer Ampel hineingefahren sein müssen. Inzwischen riskiert, wer bei Gelb bremst, einen Auffahrunfall. Unlängst habe ich vor einer auf Gelb umgesprungenen Ampel gebremst, da schert der hinter mir Fahrende aus und überholt mich, wobei er noch Zeit fand, mir einen Vogel zu zeigen und damit zu bedeuten, dass er mich für einen Spinner und ein Weichei hält.

„Irgendwann wird es krachen“, dachte ich in den letzten Jahren immer häufiger. Inzwischen hat es gekracht und mein Freund Michael hätte um ein Haar sein Leben verloren, weil ihm eine Frau, die bei Rot über eine Kreuzung fuhr, in die Seite gerast ist. Sie hätte es eilig gehabt, weil sie ihre kleine Tochter vor der Arbeit in den Kindergarten bringen wollte, ließ sie später verlauten. Michael ist noch einmal glimpflich davongekommen: Nach einem Tag konnte er das Krankenhaus wieder verlassen. Er trug Stauchungen, Prellungen und ein Schleudertrauma davon. Auch Mutter und Tochter sind inzwischen wieder wohlauf.

Vier Wochen später fuhr ein paar hundert Meter weiter im Morgengrauen ein mit zwei Personen besetztes Auto bei Rot über eine Ampel, wurde von einem Bus erfasst und mitgeschleift. Noch an der Unfallstelle starb der Fahrer des PKWs, sein Beifahrer wurde mit schweren Verletzungen in ein Krankenhaus eingeliefert. Der Busfahrer und zwei Passagiere erlitten leichte Verletzungen. Nach diesem Unfall fuhr Michael der Schreck noch einmal in die inzwischen wieder einigermaßen funktionstüchtigen Glieder. Der plötzliche Einbruch des Unvertrauten ins Reich des Vertrauten war ein Schock, der ein Trauma hinterlassen hat. Sein Urvertrauen darauf, dass man sich grundsätzlich auf das richtige Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer verlassen kann, ist irreparabel beschädigt. Ohne diesen sogenannten Vertrauensgrundsatz ist aber der moderne Verkehr nicht denkbar. Denn ein Gebot, jedes mögliche verkehrswidrige Verhalten der anderen zu berücksichtigen, würde den Verkehr lahmlegen, ja verunmöglichen. Daher hat die Rechtsprechung den Vertrauensgrundsatz geschaffen: Es ist nur mit solchen Fehlern zu rechnen, die erfahrungsgemäß vorkommen können. Das systematische Überfahren roter Ampeln gehört sicher nicht zu den erwartbaren Ereignissen.

Wolfgang Herrndorf, in dessen Kopf sich ein bösartiger Tumor eingenistet hat und für den der Gedanke an den Selbstmord sicher keine intellektuelle Koketterie ist, hat am 11. Februar 2013 in seinem Blog Arbeit und Struktur geschrieben: „Und Selbstmord ist doch nicht so schwierig, wie ich lange dachte. Es reicht, die Föhrer Straße bei Grün zu überqueren. Weder Linksabbieger noch Geradeausfahrer erkennen in den verschieden bunten Lichtern etwas anderes als einen unverbindlichen Vorschlag der Behörden.“

Die sogenannte Räum- oder Schutzzeit, die in die Ampelschaltung als Sicherheitsmarge eingebaut ist, wird gnadenlos genutzt, um einen kleinen zeitlichen Vorteil im täglichen Rattenrennen zu erzielen. Dabei trifft man sich dann eh an der nächsten Ampel oder im Stau wieder. Geht es, wie bei den Corvairs, um den Kick, den Nervenkitzel, der darin besteht herauszufinden, ob es auch heute gerade noch einmal gut geht? Eine Art von russischem Roulette im Straßenverkehr? Oder ist es eine Facette der universalen Schnäppchenjagd, hier bezogen auf kleinste Zeitvorteile? Oder liefert uns dieses Verhalten lediglich ein Beispiel für die Wirksamkeit des Mitnahmeeffekts?

Ich kenne Leute, die das geschilderte Phänomen als einen Akt zivilen Ungehorsams und gewissermaßen Einzug italienischer Zustände in den deutschen Verkehrs-Alltag betrachten und feiern. Freilich könnte man es begrüßen, wenn Formen blinden Gehorsams sich zurückbildeten und die Seele der Deutschen nicht mehr ausschließlich aus verinnerlichtem Staat bestünde.

Max Horkheimer stand die Ampel symbolisch für einen neuen, gleichsam nachbürgerlichen Modus der Verhaltenssteuerung: Die Subjekte sollen sich von autonomen Denk- und Ich-Funktionen verabschieden und nicht mehr selber kritisch prüfen, ob man die Straße gefahrlos überqueren kann, sondern blind auf Zeichen reagieren: Bei Grün stehen bleiben, bei Rot marschieren! Ein Automatismus ersetzt die geistige Spontaneität, Reflexe treten an die Stelle von Reflexion.

Ist der Modus des bewusstlosen Reflexes und des prompten Reagierens auf Zeichen einmal gesellschaftlich etabliert, muss man sich im Grunde blind darauf verlassen können, dass alle Verkehrsteilnehmer sich mit absoluter Zuverlässigkeit an ihn halten. Die massenhafte Aufkündigung die Farbenlehre der Ampeln ist schlichtweg lebensgefährlich, es sei denn, wir würden zur Praxis eigener Urteilsbildung zurückkehren und vor jeder Ampelüberquerung kritisch prüfen, ob von links und rechts nicht jemand heranrast. Einmal außer Kraft gesetzt und nicht länger eingeübt, lassen sich gewisse abgestorbene menschliche Fähigkeiten aber nicht nach Belieben wiederbeleben.

Zunächst, und daran kann mich noch gut erinnern, haben leibhaftige Schutzmänner in weißer Kleidung den Verkehr mit tai-chi-artigen Bewegungen geregelt. Solchen Polizisten begegnete man in Deutschland mit einer Haltung, die Heinrich Mann in seinem Roman Der Untertan geschildert hat: „Ecke Meisestraße hinwieder musste man an einem Polizisten vorüber, der, wenn er wollte, ins Gefängnis abführen konnte! Diederichs Herz klopfte beweglich; wie gern hätte er einen weiten Bogen gemacht! Aber dann würde der Polizist sein schlechtes Gewissen erkannt und ihn aufgegriffen haben. Es war vielmehr geboten, zu beweisen, dass man sich rein und ohne Schuld fühlte – und mit zitternder Stimme fragte Diederich den Schutzmann nach der Uhr.“

Das bürgerlich-autoritäre Zeitalter beruhte auf der bruchlosen Verzahnung von innerer und äußerer Polizei, von Gewissen und Herrschaftsstruktur. Das Über-Ich des Untertanen war verinnerlichter Staat und der Staat war die Externalisierung seines Über-Ichs, und das Zusammenspiel beider bewirkte die freiwillige Fügsamkeit und Unterwerfung, welche die gesellschaftliche Praxis in einem so erstaunlichen Maße kennzeichneten.

Später hat man über großen Kreuzungen sogenannte Verkehrslüster aufgehängt, die von einem inzwischen auf dem Gehsteig postierten Polizisten von Hand gesteuert wurden. Erst nach und nach hat sich die Technik von der polizeilichen Anwesenheit emanzipiert, aber ihre Autorität hat sie lange noch von dieser geerbt und bezogen. Die Ampel galt als eine Art stählerner Polizist, dem man genauso Gehorsam schuldete wie einem Polizisten aus Fleisch und Blut. Die äußere Polizei konnte sich in die Kulissen des Alltags zurückziehen, für den Normalfall durfte man sich über weite Strecken der jüngsten Geschichte auf die Wirksamkeit des Über-Ichs verlassen, das den seelischen Innenraum beobachtete und eingriff, wenn sich Impulse bemerkbar machten, die das Verhalten in eine gesellschaftlich nicht lizenzierte Richtung lenken wollten. Eine Facette des Über-Ichs ist das Verkehrs-Über-Ich, ohne dessen Herausbildung und Funktionieren der moderne Massenverkehr nicht denkbar wäre. Es sorgte dafür, dass die Menschen sich im Regelfall verkehrsgerecht verhielten.

Um auf die eingangs geschilderten Phänomene zurückzukommen, so liefern sie uns Hinweise darauf, dass die Ära des „innengeleiteten Charakters“ (David Riesman) ihrem Ende entgegengeht. Das Über-Ich bildete sich im Rahmen der patriarchalisch strukturierten Traditionsfamilie dadurch aus, dass sich das Kind – zunächst aus Furcht vor Strafe, später im günstigsten Fall aus Einsicht und freien Stücken – mit den Eltern identifizierte und ihre Ge- und Verbote in sich hineinnahm. In der Folge wurde das Über-Ich auf andere Personen und Instanzen wie Lehrer, Schule, Vorgesetzte, Fabrik und die Inhaber politischer Macht übertragen, die von der familialen Vorunterwerfung profitierten und sie beerbten.

Irgendwann geht die gesellschaftliche Entwicklung über die traditionelle Familie hinweg und überantwortet sie einem galoppierenden Funktionsverlust und Erosionsprozess. Mit dem Anbruch des konsumistischen Zeitalters, vollends aber mit dem Übergang zum System des “flexiblen Kapitalismus” (Sennett) erweisen sich ihre Produkte als dysfunktional. Dem geprägten und mit einem Charakter ausgestatteten Mensch mangelt es an Konsumlust und Wendigkeit. Der autoritäre Untertan mit seiner zwanghaften Neigung zu Sparsamkeit und Routine war der erwünschte Sozialcharakter des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Massenabsatz von Waren und die veränderten Verhaltensanforderungen der Industrie verlangen nun nach einem Menschentyp, der süchtig konsumiert und offen ist für ständige berufliche und örtliche Veränderungen. Der charakterlich geprägte und lebensgeschichtlich an ein Bündel fester Eigenschaften fixierte Mensch musste durch den “flexiblen Menschen” abgelöst werden, der sich im Gleitflug – Sennett spricht von Drift – wechselnden Marktwinden überlässt und seine Bindungen an Menschen und Orte aufzugeben bereit ist.

Die Markt- und Kapitallogik räumt nicht nur alle ihren expansiven Drang behindernden äußeren Barrieren und Kontrollen beiseite, sondern auch die im Inneren der Menschen. Der flexible Mensch soll alle Bindungen und Hemmungen ablegen, damit er zu allem fähig werde. So ist es denn auch. Man kann offensichtlich nicht beides zugleich haben: den hochflexiblen, wendigen, allseits anschlussfähigen Menschen und einen Fundus von in der Person fest verankerten handlungsleitenden Normen und Werten. Wer unter der Ägide des losgelassenen Marktes aufwächst, lernt, Normforderungen auf jenes Minimum zu reduzieren, das gerade noch vor strafrechtlicher Verfolgung schützt. Wer im Kampf um Erfolg sittlichen und moralischen Normen gerecht werden möchte, muss private Standortnachteile und einen rapiden Verfall des Kurswerts seiner Ich-Aktien in Kauf nehmen.

Deswegen darf man sich nicht wundern, wenn an die Innenlenkung gebundene und auf sie angewiesene Regelungen nicht mehr eingehalten werden und es vermehrt zu unkontrollierten Impulsdurchbrüchen und Regelverletzungen kommt.

Wenn die innere Polizei des Gewissens das Verhalten der Menschen nicht mehr mit ausreichender Zuverlässigkeit reguliert, muss die äußere Polizei verstärkt in Erscheinung treten. Die Disziplinargesellschaft entwickelt sich zur Kontrollgesellschaft. Flankiert wird die verstärkte Präsenz der uniformierten Polizei in Fußgängerzonen, auf Straßen und Plätzen durch neuartige Kontroll- und Überwachungstechniken. Die Moral und andere synthetisierende und einheitsstiftende Fähigkeiten des Ichs wandern aus den Subjekten aus und in technische Geräte ein, die das menschliche Verhalten flächendeckend und lückenlos steuern, überwachen und kontrollieren. Der in den Einkaufswagen gesteckte Euro steigert die Bereitschaft, den Wagen zurückzubringen, die elektronische Diebstahls-Überwachung fördert die Neigung, zu bezahlen.

Die Apparate werden immer intelligenter, die Menschen im gleichen Maß dümmer. Wie die Navigationsgeräte den geographischen Orientierungssinn verkümmern lassen, die Internet-Suchmaschinen das Erinnerungsvermögen obsolet werden lassen, so untergräbt die Apparate-Moral das kritische Urteilsvermögen und die moralische Substanz im Menschen. In verschiedenen Konzernen wird an der Entwicklung einer satellitengesteuerten Bremse gearbeitet. Verstößt ein Fahrer gegen ein Tempolimit, setzt die Bremse automatisch ein. Big-Brother-Stopper wird dieses GPS-System bezeichnenderweise genannt, das eines Tages serienmäßig in die PKWs eingebaut werden wird. So wird man auch das Verhalten an Ampeln steuern können: bei Rot werden die Wagen automatisch lahm gelegt, die Bremsen setzen ein, das Gas wird weggenommen. Die niederländische Straßenverkehrsbehörde hat eine Alcoholslot genannte Wegfahrsperre für Fahrzeuge zugelassen. In das am Fahrzeug angebrachte Messgerät muss vor jeder Fahrt geblasen werden – bei mehr als 0,2 Promille Alkohol im Blut springt der Wagen nicht an.

Immer mehr einstmals autonome Ich-Leistungen und Gewissensentscheidungen werden quasi outgesourct und an Apparate delegiert. Ursache ist meist eine vorangegangene Schwächung der verhaltenssteuernden Kraft des Über-Ichs, dann aber arbeiten die Apparate, wenn sie erst einmal das Kommando übernommen haben, an seiner weiteren Entmachtung und fördern seine Erosion und Abdankung. Warum soll ich mich mühsam selbst orientieren, wenn ich mich von Geräten orientieren lassen kann? Warum soll ich einen Handlungsimpuls an verinnerlichten Normen prüfen, wenn Apparate mir sagen, was das Richtige ist, das ich zu tun, und was das Falsche, das ich zu unterlassen habe? Das menschliche Bewusstsein wird als bloßes Durchgangsmoment in die Schaltung von verselbständigten Apparaten eingespannt und damit ein Stück weit entbehrlich. Die weitgehend bewusstseinsferne, technokratische Organisation des sozialen Lebens enteignet die Subjekte und lässt sie verarmen – ihre Erfahrungswelt, heißt es in der Dialektik der Aufklärung, ähnelt sich „tendenziell wieder der der Lurche an“.

„Mit solchen Leuten wird man niemals den Sozialismus aufbauen“, sagte angesichts des Pariser Straßenverkehrs ein Freund aus Ostdeutschland zu André Gorz. Wenn es wahr ist, „dass man eine Nation erst dann wirklich kennt, wenn man in ihren Gefängnissen gewesen ist“, wie Nelson Mandela gesagt hat, so könnte man auch den Straßenverkehr zum Gradmesser dafür machen, wie es um die Zivilisiertheit einer Gesellschaft bestellt und wie hoch ihr Aggressionspegel ist.

Autos sind keine Fortbewegungsmittel, sondern „lackierte Kampfhunde“ (Norbert Kostede), die ihre Besitzer aufeinander loslassen. Das Auto ist das nach außen verlagerte Aggressionspotenzial seines Besitzers, dient als Entlastungsmittel von inneren Spannungen und Konflikten. Das Gaspedal ist der einzige Hebel, den der heutige Mensch noch betätigen kann. Hier kann er sich als Herr der Lage empfinden, hier übt er die Kontrolle über die Maschine aus, die seinen Befehlen gehorcht. Im Rausch der Geschwindigkeit vergessen Männer ihre reale Schwäche. Ein Machtgefühl schlagen sie daraus, einer Maschine zu befehlen oder mit einer Maschine zu verschmelzen. Das Auto selbst ist eine Waffe, die es im Konfliktfall erlaubt, missliebige Rivalen abzuschütteln oder sich ihrer durch eine leichte Drehung der Servolenkung zu entledigen. Das automobile Cockpit bildet eine göttliche Machtzentrale, und die Lust, die auf allen Bedienungselementen blinkt und aus dem Display springt, ist kaum noch zu steigern. Nirgends wird so viel geflucht wie hinter dem Steuer, die Nerven liegen blank, die Stimmung ist aggressiv aufgeladen und gereizt. Wenn wir wegen unserer hinter dem Steuer ausgesprochenen Verwünschungen, Flüche und Drohungen vor Gericht müssten, landeten wir alle im Gefängnis.

„Längst ist der PKW zu einem gesellschaftlich akzeptierten Instrument der Realisierung homocidaler und suizidaler Tendenzen geworden“, heißt es bei Peter Brückner. Mord und Selbstmord liegen oft dicht beieinander, für einen Moment ist in der Schwebe, in welche Richtung die destruktiven Energien sich wenden. Das Auto erlaubt die Verknüpfung beider in Gestalt einer spezifischen Form des erweiterten Suizids. Wie vollzogene Selbstmorde eine Tendenz aufweisen, eine Epidemie auszulösen, so zieht auch der erweiterte Suizid mittels Auto Nachahmungstaten nach sich. Bundesweit gab es im Herbst 2012 immer wieder Geisterfahrer-Kollisionen mit mehreren Toten. So starben allein im Oktober 2012 mindestens 13 Menschen durch Falschfahrer. Es mag unter den sogenannten Geisterfahrten auch Irrfahrten älterer oder berauschter Menschen geben, aber im Kern geht es dem Geisterfahrer darum, in den beschlossenen eigenen Untergang andere Menschen mitzureißen. Der Geisterfahrer ist ein Amoktäter, der zur Realisierung seiner Absichten das Automobil als Waffe einsetzt.

Dass der Straßenverkehr zu einer Form des Krieges geworden ist, zeigt unter anderem der Siegeszug der Geländewagen, der SUVs und Humers, die vom militärischen Bereich, für den sie entwickelt worden sind, in den zivilen Straßenverkehr eingedrungen sind und mit Slogans wie diesem beworben werden: „Man kann seine Natur ignorieren, oder sie einfach ausleben.“

Auf der Autobahn: Die Heckscheibe verfinstert sich und der Kühlergrill eines SUV (Sports Utility Vehicle) schiebt sich wie eine aggressive Pitbull-Schnauze bis auf Zentimeter an die Stoßstange meines Kleinwagens heran und wird mich wegbeißen. Statt zu bellen oder zu knurren, werden gleich die Scheinwerfer aufflammen und mir signalisieren, dass ich gefälligst zu weichen habe.

Statt an der Entbrutalisierung des Verkehrs zu arbeiten, rüsten die Leute auf. Man will eine möglichst große Knautschzone vor sich haben. Gleichzeitig wird gerast wie nie. Dort oben, im Cockpit eines SUV, wähnt man sich sicher. Man fährt mit Licht, statt die wechselseitige Aufmerksamkeit zu schärfen. Wenn die Aufmerksamkeit auf Licht eingestellt ist, wird alles Unbeleuchtete – Radfahrer, Fußgänger – umso weniger wahrgenommen.

Man klettert an Bord, sinkt in die Ledersitze und lässt die Tür ins Schloss fallen. Alle Geräusche verebben, nichts kann einem mehr etwas anhaben. SUV-Fahrer haben das Gefühl, in einer Burg zu sitzen. Je höher man sitzt, desto eher unterschätzt man die Geschwindigkeit und man neigt dazu, riskanter zu fahren. Ein kleiner Druck aufs Gaspedal und schon bewegt man sich mit 160 oder 180 Stundenkilometern auf der Autobahn fort. Der Wind macht einen großen Bogen um die Karosse. Der starke Motor brummt, umsichtige Assistenzsysteme warnen vor Geschwindigkeits- und Spurüberschreitungen – und werden ignoriert. Klein- und Mittelklassewagen weichen vor der schieren Masse dieser Wagen erschrocken aus. Man ist Herr der Lage. Man reitet eine Kanonenkugel. Man ist der King. Scheiß auf die anderen!

Die eingangs geschilderten Phänomene haben sich uns im Laufe unserer Überlegungen als Erscheinungsformen der Erosion des Verkehrs-Über-Ichs erschlossen. Diese haben nicht nur eine erfreulich-heitere, gleichsam italienische Seite, die man begrüßen könnte, sondern auch eine weniger erfreulich düstere. Der entfesselte Egoismus zersetzt die Rücksichtnahme und das Gefühl des wechselseitigen Aufeinander-Angewiesen-Seins. Jeder Dritte telefoniert während der Fahrt mit dem Handy oder hat sein Smartphone, das auch als Navi fungiert, auf dem Oberschenkel liegen und wischt mit dem Finger über den Touchscreen. Man könnte sonst ja womöglich den Eingang einer Nachricht verpassen. Immer weniger Autofahrer zeigen eine Richtungsänderung noch durch Setzen des Blinkers an. Es wird abgebogen, ein- und ausgeparkt, überholt und die Spur gewechselt ohne jedes Signal an die anderen. Immer mehr Autofahrer verfahren nach dem Motto: „Was geht es die anderen an, wenn ich vorhabe abzubiegen oder zu überholen!“ Was drückt sich darin aus? Eine Aufkündigung gesellschaftlicher Bezogenheit, ein Schwund der Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, eine Entsolidarisierung. Das Blinken ist ja ein Signal an den Anderen, dem ich auf diese Weise meine Absichten kundtue, damit er sie in seine Handlungsperspektiven einbeziehen und berücksichtigen kann. Der Moral ist wesenseigen die Beziehung zum anderen und die Einnahme von dessen Perspektive, die Einfühlung in ihn. Das verbreitete Ignorieren von Regeln und das Roulette an den Ampeln ist Ausdruck einer moralverzehrenden Enthemmungstendenz. Es ist neoliberale Deregulierung – angewandt auf den Straßenverkehr. Der „flexible Mensch“ (Richard Sennett) empfindet die Regulierung des Verkehrs durch Ampeln und Verkehrszeichen als unzulässige und lästige Beschränkung seiner Freiheit. „Wer bremst, verliert!“, lautet das Motto des Lebens unter den Bedingungen entfesselter Konkurrenz. Der andere ist der Feind – Glück ist, wenn der Pfeil den Nebenmann trifft. Nirgends zeigen sich die Folgen der systematisch betriebenen Entgesellschaftung und asozialen Individualisierung so deutlich wie im Straßenverkehr.

So darf es uns eigentlich nicht wundern, dass die Zahl der Verkehrstoten in Deutschland zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder gestiegen ist. Im Jahr 2011 starben – trotz der ganzen in die PKWs eingebauten Sicherheitstechnik – 4009 Menschen bei Verkehrsunfällen. Das entspricht einem Anstieg von fast 10 Prozent. Besonders die Lage der Radfahrer ist prekär. Laut Süddeutscher Zeitung vom 6. September 2012 kamen im Jahr 2011 614 Menschen mit ihren Fahrrädern ums Leben. An fast jedem siebten Verkehrsunfall, bei dem ein Mensch verletzt wurde, war ein Radfahrer beteiligt, zwanzig Jahre zuvor nur an jedem zehnten. An drei Vierteln der Fahrradunfälle ist ein Auto beteiligt und an drei Vierteln dieser Zusammenstöße sind die Autofahrer schuld. Diese Zahlen sind ein Indikator dafür, dass Aggressivität und Rücksichtslosigkeit zunehmen und sich über das Auto einen Weg der Entäußerung suchen. Dass für viele Radfahrer rote Ampeln nur Schmuckleuchten und Verkehrszeichen allenfalls unverbindliche Empfehlungen sind, wird in dem Artikel der Süddeutschen Zeitung allerdings auch erwähnt.

Der Verkehr ist neben dem Sport zu einer wichtigen Ventilsitte geworden, die diese Kultur ihren Mitgliedern zur Verfügung stellt. Ventilsitten führen Wut und Aggression auf eine Weise ab, die den Fortbestand des herrschenden Systems nicht gefährdet, sondern es noch in seiner scheinbaren Negation am Leben erhält. Sie dienen der Aufrechterhaltung inhumaner gesellschaftlicher Zustände, indem man die Menschen im Krieg auf fremde Völker loslässt. Da man sich nicht immer schlagen kann, haben klassengespaltenen Herrschaftskulturen für die Friedenszeiten innenpolitische Entlastungsmechanismen ersonnen. Man lenkt die gestaute Wut der anständigen Bürger auf die „Bösen“, die Verbrecher, und gegen Minderheiten. Der Rest der destruktiven und aggressiven Energien wird von Arbeit und Konsum absorbiert oder entweicht durch gesellschaftlich lizenzierte Ventile wie den Stadionbesuch am Wochenende oder das Autofahren. Im Auto steckt die gestaute Aggression der Unmündigkeit und des ungelebten Lebens.

Viele Zeitgenossen favorisieren ein Leben auf der Überholspur, finden Bremsen extrem „uncool“ und etwas für „Loser“. Wer Zeichen von Müdigkeit und Depression zeigt, fliegt aus dem Rennen, dessen Ziel und Sinn niemand kennt: Rasend schnell nach Nirgendwo! Mit Thomas Pynchon habe ich meine Überlegungen zum Straßenverkehr begonnen und ich lasse sie auch mit ihm ausklingen. In seinem 1973 erschienenen Buch Die Enden der Parabel hat er die Hochgeschwindigkeits- und Spaßgesellschaft der Gegenwart und ihren wahrheitsvergessenen Aktivismus bereits kühn vorweggenommen: „Innerhalb des Systems zu leben ist wie eine Überlandfahrt in einem Bus, der von einem Wahnsinnigen gesteuert wird, der seinen Selbstmord plant … obwohl er ein netter Kerl ist und ständig Witze über den Lautsprecher lässt.“

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