Kurt Becks Programm

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Kurt Beck ist schwer zu packen. Wenn er redet oder schreibt, lässt er bei jeder Aussage, die er macht, ein oder manchmal sogar mehrere Hintertürchen offen, um wieder entwischen zu können, sobald man sich darauf einlässt. Das ist vermutlich der Grund, warum sich vom „Seeheimer Kreis“, über die „Netzwerker“ bis hin zu den „Jusos“ alle in seinem als programmatisch erklärten Beitrag (bezeichnenderweise) in der „Welt am Sonntag“ wieder finden können.

„Leistung muss sich wieder lohnen“, so lautet etwa die Überschrift auf der parteiamtlichen Website der SPD, unter der auf einen Namensbeitrag von Kurt Beck für die „Welt am Sonntag“ vom 20.8.06 hingewiesen wird. Diese Überschrift findet sich in dem langen Beitrag jedoch gar nicht wieder. Der Kernsatz lautet in der Langfassung vielmehr: „Leistung muss sich lohnen, durch Anerkennung und Respekt ebenso wie durch gerechten Lohn, durch materielle Sicherheit ebenso wie durch eine Perspektive, die eigene soziale Lage zu verbessern.“

Wer wollte bestreiten, dass Leistung anerkannt, respektiert, gerecht entlohnt, Sicherheit geben soll und eine soziale Aufstiegsperspektive haben sollte?

Das ist etwas anderes, als wenn Guido Westerwelle mit dieser Parole nur an die Besserverdienenden denkt und diese von Steuern und Gesetzen befreien will, weil sie, die angeblichen „Leistungsträger“ der Gesellschaft, sich noch mehr durchsetzen können sollen. Das hört sich auch anders an, als wenn Helmut Kohl schon im Wahlkampf 1983 mit dieser Formel vor allem solche Menschen ins Visier nehmen wollte, die es sich in der angeblichen „sozialen Hängematte“ gemütlich gemacht hätten.
Dennoch bestreitet Beck gar nicht, dass er sozusagen das Copyright für diesen Spruch von Kohl und Westerwelle übernommen hat, aber er habe diese Formulierung als „Appetitmacher“ verwendet, sagte er im Stern-Interview.
Appetitmacher? Also doch nur eine Provokation oder ein Werbungsversuch an die Wählerklientel von CDU und FDP?

Auffallend in seinem programmatischen Namensartikel ist der lange verbale Anlauf bis Beck auf den Begriff „Leistung“ zu sprechen kommt. Da wird zunächst in populistischer Manier über die Diskrepanz zwischen exorbitanten Millionengehältern bei gleichzeitigen Entlassungen geredet. Es wird auf die knappen Lohnsteigerungen verwiesen, auf die Widersprüche zwischen den Erfolgen der Wirtschaft und der Tatsache, dass viele von diesen Erfolgen ausgeschlossen bleiben. Beck kritisiert die “Winner-takes-it-all-Gesellschaft” und klagt über die wachsende Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern. Er spricht die ungleichen Bildungschancen an, und stellt fest, dass „der soziale Aufstieg in Deutschland…blockiert“ ist.

Die meisten dieser durchaus kritischen Realitätsbeschreibungen könnte man ja unterschreiben, sucht man aber nach Antworten, wie diese Entwicklung umzukehren wäre, erfährt man nichts, außer einem uneingeschränkten Lob auf die SPD-geführten Bundesregierungen, kulminierend in dem Satz: „Als radikale Stimmen ein Ende der sozialen Marktwirtschaft forderten, haben wir hart daran gearbeitet, das Modell Deutschland zu erneuern.“

Wie kommt es bei derart harter Arbeit an der Erneuerung des Modells Deutschland dazu, dass – wie Beck schreibt – „konfrontiert mit Reformen und Veränderungen, das zeigen uns neue Umfragen, … zwei von drei Deutschen (sagen), das mache ihnen Angst. Sie empfinden ihr Leben als permanenten Kampf“?

Wo hat sich denn von 1998 bis 2005 unter den Regierungen Schröder, an den von Beck zurecht kritisierten Zuständen etwas geändert, sind die Bildungschancen besser geworden, sind die Managergehälter nicht weiter explodiert, gab es nicht Lohnstagnation, ist die Kluft zwischen Arm und Reich nicht weiter gewachsen? All das kann er doch wohl mit der „Erneuerung des Modells Deutschland“ nicht gemeint haben. Und er schreibt auch nichts zur Mitwirkung der Regierungen Schröder und Merkel, also unter Mitbeteiligung von Becks Partei, an der Verschlechterung der Lage und der Perspektiven der Mehrheit der Menschen.

Statt einer Analyse der Ursachen für diese von ihm beschriebene kritische „Entwicklung“ oder statt auch nur Teilantworten darauf zu geben, flüchtet sich Beck in eine weitere Beschreibung der vorgefundenen Gesellschaft. Im zweiten Anlauf etwas abstrakter mit der vom verstorbenen Peter Glotz in die die politische Debatte eingeführten „Dreidrittelgesellschaft“, einer Gesellschaft der „die Mitte zerbricht“.

Peter Glotz, der ja bis zu seinem Tod, als Theoretiker der SPD galt, hat diese dreigeteilte Gesellschaft in seinem Aufsatz „Rückblick auf das 21. Jahrhundert“ wie folgt beschrieben: „Oben der “produktivistische Block”, der sich als Weltoberschicht konstituiert, darunter das weite Feld der “Gemeinwirtschaft”, schließlich die Verweigerer und Verächter der Arbeitsgesellschaft, die man durchzufüttern sich entschlossen hat.“

So brutal formuliert das Kurt Beck natürlich nicht. Er meint vielmehr damit eine Gesellschaft „in der das Oben und das Unten immer schärfer auseinander treten und gerade auch die Mitte von dauerhafter Verunsicherung betroffen ist.“

Nach Beck gibt es in unserer Gesellschaft drei Hauptgruppen: „Erstens die Gesicherten und Chancenreichen in stabiler Beschäftigung bis hin zu den Spitzenverdienern. Zweitens die Menschen, die in Unsicherheit leben, die nur befristet und schlecht bezahlt Anstellung finden; junge Leute, die sich – vor allem auch in den neuen kreativen Berufen – von einem “Projekt” zum nächsten hangeln und deshalb auch lange zögern, Kinder zu bekommen; Ältere, die nach langjähriger Arbeit für ihren Betrieb ihre Stellung verlieren. Drittens die Ausgeschlossenen, die glauben, dass sie keine Chance mehr bekommen.“

Korrekterweise hätte Beck allerdings hinzufügen müssen, dass die Gruppe der Ausgeschlossenen in den letzten beiden Jahrzehnten zahlenmäßig dramatisch angestiegen ist und die Gruppe der in prekären Arbeitsverhältnissen lebenden ständig wächst und dass die Verunsicherung und die Sorge gesellschaftlich und beruflich abzustürzen, inzwischen weit in die soziale Mitte der Gesellschaft hinein reichen. Siehe dazu unseren Eintrag vom 4.9.2006.

Wenn man dieser neuen Schichteneinteilung der Gesellschaft überhaupt eine Aussage- und Unterscheidungskraft zubilligen kann, so vielleicht die, dass sich Beck mit der „Dreidrittelgesellschaft“ erstens vom etablierten Begriff der „Zweidrittelgesellschaft“ abwendet und dass ihm offenbar zweitens die „neue Mitte“, um die sein Vorgänger kämpfte, abhanden gekommen zu sein scheint. (Wenn es sie denn jemals gegeben haben sollte.)

Der von Beck jetzt ersetzte Begriff der „Zweidrittelgesellschaft“ wiederum hatte im Zusammenhang mit der aufkommenden „neuen Armut“ Eingang in die politische Debatte gefunden. Damit sollte ausgedrückt werden, dass zwei Drittel der Gesellschaft am Wohlstand der Gesellschaft und am Wachstum der Wirtschaft mehr oder weniger partizipierten und das untere Drittel eine soziale Unterschicht bildet, die zunehmend und dauerhaft von Erwerbsarbeit ausgeschlossen und aktuell oder perspektivisch unter die Armutsgrenze absinkt.
Bis zu den Hartz-Gesetzen galt es als wichtiges Motiv gerade auch sozialdemokratischer Politik, dieses untere Drittel solidarisch über den Sozialstaat aufzufangen und in die Gesellschaft zu integrieren und in jedem Falle die „Exklusion“ aus der Gesellschaft durch die Garantie eines „soziokulturelles Existenzminimum“ abzuwehren.

Von diesem Drittel ist in dem als programmatisch bezeichneten Beitrag von Kurt Beck nicht mehr die Rede und im Stern-Interview findet sich darüber auch nur noch die Floskel: „Dass die Hilfsbedürftigen dabei nicht zur Seite geschoben werden, ist selbstverständlich.“

Beck spricht nicht vom „Skandal der Armut“ in unserer Gesellschaft, sondern für ihn ist es der „Skandal“, wenn der „individuelle Lebenslauf nicht mehr durch individuelle Leistung zum Besseren zu wenden ist“. Diesen Skandal – und nicht die Armut – will er „keinesfalls auf sich beruhen lassen“. Im Stern-Interview fügte er noch hinzu: „Ich fürchte, wir haben diesen Teil der Menschen zu wenig beachtet“. Soll das heißen, dass man das untere Drittel zu viel beachtet hat? Noch deutlicher wird die Hinwendung zum mittleren Drittel durch den Satz: „Der erfolgreiche Facharbeiter oder Angestellte ist genauso Leistungsträger wie der Selbstständige oder der Ingenieur. Das ist auch unser Klientel, um die müssen wir uns wieder stärker kümmern.“ Das sind nach seiner Einschätzung 40 bis 50 Prozent in der Mitte der Gesellschaft und aus dieser Mitte erhofft er sich „35 plus ein dickes X“ der Wählerstimmen für seine SPD.

Lassen wir einmal dahingestellt, ob ein Parteivorsitzender, der ja seine Partei an die Regierung führen soll, klug beraten ist, nicht für eine eigene Mehrheit zu kämpfen, sondern sich mit „35 plus x“ von vorneherein nur als möglicher Koalitionspartner anzudienen. Eine „linke Volkspartei“ müsste sich jedenfalls, wenn sie noch den Namen „Volkspartei“ beanspruchen möchte und wenn man schon von einer „Dreidrittelgesellschaft“ spricht, mindestens um die unteren zwei Dritteln kümmern und sogar darüber hinaus auch denjenigen vom oberen Drittel ein Angebot machen, die bereit wären, Solidarität gegenüber den „Ausgeschlossenen“ und gegenüber den „in Unsicherheit“ Lebenden, zu üben.

Kurt Beck will dagegen, dass die SPD vor allem die „beachten“ und sich um die „kümmern“ soll, wofür der jetzige Finanzminister Steinbrück schon im Jahre 2003 warb, als er in einem Zeit-Interview sein Verständnis von sozialer Gerechtigkeit zum Besten gegeben hat: „Soziale Gerechtigkeit muss künftig heißen, eine Politik für jene zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun: die lernen und sich qualifizieren, die arbeiten, die Kinder bekommen und erziehen, die etwas unternehmen und Arbeitsplätze schaffen, kurzum, die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Um die – und nur um sie – muss sich Politik kümmern.“

Wohin eine auf diese „Leistungsträger“ ausgerichtete Politik die SPD bringt, das haben wir schon empirisch erhärtet: Steinbrück ist 2005 mit seiner SPD in NRW um 5,7% abgesackt und hat mit 37,5% der Stimmen das schlechteste Wahlergebnis in Nordrhein-Westfalen seit 50 Jahren erzielt.

Aber es soll hier nicht um die vorhersagbaren weiteren Wahlniederlagen der SPD, sondern um das Selbstverständnis der SPD gehen.
Beck behauptet keck: „Die Leistungsgesellschaft ist ein traditionelles Leitbild der SPD.“

Das wagt nicht einmal mehr die CSU so platt zu postulieren: Sie spricht immerhin, von der „solidarischen“ Leistungsgesellschaft als Alternative zum Wohlfahrtsstaat und der Ellbogengesellschaft [PDF – 146 KB].
Man kann die Programme der SPD herauf und herunter buchstabieren, von der „Leistungsgesellschaft“, gar als Leitbild findet sich darin jedenfalls nichts. Das immer noch geltende Berliner Grundsatzprogramm spricht von einer „freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft“. Leistungsgesellschaft kommt als Begriff darin nicht vor. Auch Willy Brandts Vision einer Gesellschaft, die mehr Freiheit bietet, mehr Mitverantwortung und Mitbestimmung (Teilhabe) fordert, hat mit dem Leitbild einer Leistungsgesellschaft kaum etwas zu tun.
Schon der Gründervater und Theoretiker der sozialen Demokratie hat darauf hingewiesen, „dass die ungehinderte freie Betätigung der individuellen Kräfte durch das Individuum für sich alleine noch nicht ausreiche, sondern dass zu ihr in einem sittlich geordneten Gemeinwesen noch hinzutreten müssen: die Solidarität der Interessen, die Gemeinsamkeit und Gegenseitigkeit der Entwicklung.

Aber auch um Textexegese soll es hier nicht gehen, denn seit die SPD von einer Programm- zu einem Basta-Kanzler-Wahlverein mutiert ist, und die Regierungspraxis das Grundsatzprogramm ersetzt, haben programmatische Aussagen ohnehin kaum noch einen Wert.
Dennoch, so naiv und neu auf der Welt kann doch wohl auch Kurt Beck nicht sein, dass er nicht wissen könnte, dass der Begriff der „Leistungsgesellschaft“ doch längst von denjenigen besetzt ist, denen es im Kern um nichts anderes als eine Legitimierung der großen sozialen Unterschiede und einem grundlegenden Umbau des Bildungssystems zu ihren Gunsten geht. (Vgl. etwa Michael Hartman (2002): Der Mythos der Leistungseliten).

Kurt Beck möchte, dass sich die SPD vor allem um die kümmert, die „leistungsfähig sind und zufassen wollen, aber kein Pack-Ende finden.“
Wenn er schon dem Drittel der „Ausgeschlossenen“ kein anderes Angebot mehr machen kann, als dass sie „nicht zur Seite geschoben“ werden, kann er dann wenigstens den „Leistungsträgern“ ein Pack-Ende bieten? Was für eine Antwort hat er auf die Frage, warum „ein Kernversprechen der sozialen Marktwirtschaft, Sicherheit und Aufstieg durch Arbeitsleistung zu bieten, immer wieder gebrochen wird“ und warum das „die Moral unserer gesamten Gesellschaft ruiniert“.

Das einzige, was Kurt Beck als Antwort darauf bietet, ist: Es seien „neuartige, anonyme Risikomärkte entstanden, auf denen die Leistung eines Menschen Lohn, Erfolg und Sicherheit weniger als früher bestimmt.“

„Neuartige, anonyme Risikomärkte“, sind die Wurzel des Übels. Das ist also das analytische Niveau auf dem die SPD gelandet ist. Wenn schon keine Analyse der Probleme mehr vorhanden ist, kein Wunder, dass man nur noch an Symptomen kuriert und dem Zeitgeist hinterher läuft.
Wenn der programmatische Beitrag Kurt Becks Programm der SPD wird, kann man sich ein neues Grundsatzprogramm auch ersparen.

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