Demographie – eine ziemlich nutzlose und vielfach missbrauchte Wissenschaft

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Das Statistische Bundesamt hat auf der Basis des Zensus 2011 die bisherigen Ziffern zu den Einwohnern in Deutschland und ihrer Altersstruktur korrigiert. Siehe hier.
Auf das Ergebnis sind wir im Hinweis Nr. 1 vom 3.6.2013 schon eingegangen: Es leben rund 1,5 Millionen Menschen weniger Deutschland als bisher angenommen; es gibt weniger Ältere als bisher vermutet und auch die Zahl der Ausländer ist geringer. Diese Erkenntnisse reizen zu einigen Anmerkungen über die in den letzten fünfzehn Jahren modisch gewordene demographische Debatte. In dieser Debatte über den so genannten demographischen Wandel musste man den Eindruck gewinnen, die Wissenschaft von der Demographie habe eine zentrale Bedeutung. Das ist eine bemerkenswerte Fehleinschätzung. Ihre Bedeutung ist vergleichsweise unbedeutend; umso größer ist die Bereitschaft von Demographen, sich für private Interessen einspannen zu lassen und zu diesem Zweck die Entwicklung maßlos zu übertreiben. Albrecht Müller.

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  1. Der systematische Missbrauch des so genannten demographischen Wandels zur Durchsetzung von Einzelinteressen

    50 Jahre lang lebten die Menschen in Deutschland und auch die Politik ohne große demographische Debatte. Wir lebten vergleichsweise gut damit. Seit Ende der Neunziger Jahre ist diese Ruhe zu Ende. Seit dem kommt keine große Politikerin und kein bedeutender Politiker mehr aus, ohne von der großen Herausforderung des demographischen Wandels zu sprechen. Den gab es auch früher. Aber die Politik hatte damals erkannt, dass sie an diesem Wandel wenig ändern kann und außerdem dieser Wandel wie etwa die Zuwanderung, die niedrige Geburtenrate oder der Anstieg der Lebenserwartung keine dramatischen Folgen hat.

    Den Anstoß zu einer wahren Orgie der demographischen Diskussion mit unendlichen Folgen von Fernsehwochen zum demographischen Wandel, immer neuen Studien und Foren der diversen Stiftungen, mit der Gründung von Initiativen zur Rettung der jungen Generation vor der Überforderung durch die Alten und unzähligen Sitzungen von Gemeinderäten über die Folgen des demographischen Wandels für ihre Kommune und und und gaben nach meiner Erinnerung die interessierte Versicherungswirtschaft und die Banken. Sie intervenierten im Wahlkampf 1998 mit vielen ganzseitigen Anzeigen und paralleler Lobbyarbeit zu Gunsten einer Umstellung bzw. Ergänzung der sozialen Sicherungssysteme durch Privatvorsorge.

    Das Studium der demographischen Veränderungen kann eine gewisse Bedeutung haben. Das wird hier nicht bestritten. Wenn junge Leute aus einer Region wie aus Teilen von Mecklenburg-Vorpommern oder aus dem nördlichen Ruhrgebiet oder aus der Westpfalz abwandern, dann folgen daraus demographische Veränderungen, weil infolgedessen auch weniger Kinder geboren werden und zur Schule gehen wollen. Da können demographische Studien helfen.
    Es ist auch ganz nett zu prognostizieren, wie die Lebenserwartung steigt.
    Aber diese Veränderungen sind langsamer Natur. Und oft sind – wie im Falle der Abwanderung junger Menschen aus Regionen jenseits der Metropolen – andere Faktoren wie etwa die wirtschaftliche Strukturpolitik oder die Konjunkturentwicklung entscheidendere Einflussfaktoren.
    Für die wenigen relevanten Erkenntnisse der Demographie brauchen wir jedenfalls kein Heer von Demographen und schon gar nicht die medialen Schlachten, die seit gut zehn Jahren in Deutschland veranstaltet werden.

    Der eigentliche Zweck der demographischen Debatte und der zu Grunde liegenden demographischen Studien ist offensichtlich die Durchsetzung ökonomischer Interessen und die parallel verlaufende Profilierung von Politikern und Politikerinnen. Dazu drei Beispiele:

    1. Die demographische Debatte ist angeschoben worden, um die solidarischen Sicherungssysteme zu schwächen und um Platz zu schaffen für Privatvorsorge.
      Die Hauptbotschaft der Strategen der Versicherungswirtschaft war und ist: „Wir werden immer älter. Immer weniger Arbeitsfähige der jungen Generation müssen für immer mehr Ältere sorgen. Die gesetzliche Rente vermag die Probleme nicht mehr zu lösen. Wir brauchen die Privatvorsorge.“
      Diese Botschaft ist mit propagandistischer Gewalt in die Köpfe und Herzen der Menschen gehämmert worden. Das ist so massiv geschehen, dass jede Hinterfragung der Logik dieser Argumentation schon nicht mehr möglich ist. Versuchen Sie es einmal, stellen Sie Journalisten und Politikern und anderen von der Demographie verleitete Mitmenschen nur eine Frage:
      Werden aufgrund der Teilumstellung auf Privatvorsorge mehr Menschen geboren oder sind die Vorhandenen plötzlich sehr viel leistungsfähiger? Ihr Gegenüber wird stottern und keine Antwort finden, dafür aber vielleicht auf die allgemeine Meinung verweisen.
    2. Zur Durchsetzung des Elterngeldes wurde eine demographische Erkenntnis erfunden: die überdurchschnittlich hohe Kinderlosigkeit der Akademikerinnen.
      Im Vorfeld der politischen Entscheidung für das Elterngeld wurde penetrant die Behauptung verbreitet, Akademikerinnen seien mit 40 oder gar 43 % weit überdurchschnittlich kinderlos. Deshalb müsse man etwas tun, um ihrem Kinderwunsch Raum zu geben. Also wurde das Elterngeld, bei dem sich die Höhe der Unterstützung für die Kinder nach dem Gehalt der Eltern richtet eingeführt. Hinterher wurde dann festgestellt, dass die Behauptung der Demographen nicht stimmt. Im Spiegel gab es damals eine fast schon lustige Einlassung der heutigen Familienministerin Kristina Schröder. Sie bezog sich auf eine neue Studie darüber, dass die Akademikerinnen-Kinderlosigkeit bei ungefähr 25 % läge und stellte fest, man sei offenbar einem Phantom aufgesessen. (Siehe Anlage 1 mit einschlägigen Abbildungen aus meiner PowerPoint Präsentation) Aber das Phantom der Demographen hatte seine politische Wirkung dann schon erzielt.
    3. Die Anhebung des Renteneintrittsalters wurde mit spektakulären Erkenntnissen über die Vergreisung unterfüttert.
      Zum Beispiel: Franz Müntefering sprach, um die von ihm propagierte Erhöhung des Renteneintrittsalters besonders dringlich erscheinen zu lassen, von einem dramatischen Anstieg der Zahl der Hundertjährigen.
      Wie wir jetzt aus der Revision der Zahlen durch das statistische Bundesamt sehen, ist die Zunahme der Lebenserwartung bisher überschätzt worden.
  2. Die Debatte um den demographischen Wandel ist gespickt von primitiven Vorurteilen. Sie werden auch an der benutzten Sprache sichtbar:

    Zum Beispiel: jung ist gut, alt ist bedrohlich. Deshalb das Jammern über den
    Anstieg der Lebenserwartung, wir würden immer älter, klagte man. Und man nutzte gerne Begriffe wie Überalterung und Vergreisung. Gäbe es eine Neuauflage des Wörterbuchs des Unmenschen, die Demographiedebatte wäre eine ergiebige Quelle.

    Zum Beispiel: Rücksichtslos wird suggeriert, die Alten lebten auf Kosten der Jungen, und man heizt gewissenlos den Generationenkonflikt an. Die Bild-Zeitung mobilisiert in diese Richtung schon seit 2006. (Siehe Anlage)

    Zum Beispiel: Mehr ist nach den Vorstellungen jener, die sich in der demographischen Debatte tummeln, immer besser als weniger oder gleich viel.
    Es wurde darüber gejammert, wir würden immer weniger. Ja einige der Diskutanten steigerten sich in die Behauptung, die Deutschen stürben aus. Wir seien ein Sterbendes Volk. „Der letzte Deutsche“ lautete der Spiegeltitel vom 5.1.2004. Abgedruckt war ein kleiner Junge, der eine Stange hoch stemmt, auf der eine Gruppe von Alten bequem Platz genommen hat. (Siehe Anlage 1)

    Der Wandel der Vorurteile

    Die Nazis machten mobil für den Krieg mit der Behauptung, wir seien ein Volk ohne Raum. Der Spiegel macht mobil für die Dramatisierung der demographischen Entwicklung mit der Behauptung, hier gäbe es „Raum ohne Volk“. (Siehe Anlage) . Diese Geschichte stammt schon vom Oktober 2000, ein Indiz dafür, wie früh dieses angebliche Informationsmagazin schon in die Kampagne zum demographischen Wandel eingespannt war.

  3. Was Demographen und den mit ihnen zusammen spielenden Politikern und Journalisten nicht passt, weil es beruhigt statt zu dramatisieren, wird nicht behandelt.

    Haben Sie in der allgegenwärtigen Debatte zur Bevölkerungsentwicklung und der wegen der Geburtenentwicklung angeblich so dramatischen Situation schon einmal vergleichende Studien über die Bevölkerungsdichte gesehen? Wahrscheinlich nicht
    Deutschland ist mit etwas unter 230 Bewohnern pro Quadratkilometer fast doppelt so dicht besiedelt wie Frankreich (118).

    Darüber spricht man nicht, weil der Vergleich der Bevölkerungsdichte die Dramatik aus der Debatte um das Schrumpfen nehmen würde.

    Andere Veränderungen in unserem Land sind um vieles wichtiger als der demographische Wandel.

    Dazu ein paar Beispiele, stichwortartig:

    • die immer einseitiger werdende Einkommensverteilung
    • die immer einseitiger werdende Vermögensverteilung
    • der Anstieg der Zahl junger Menschen, die nie eine Chance hatten, einen Beruf zu erlernen und geregelter Arbeit nach zu gehen
    • der Anstieg der Zahl von Menschen ohne gesichertes Arbeitsverhältnis
    • die gewollte und betriebene Verringerung der sozialen Sicherheit und die parallel verlaufende Verunsicherung vieler Menschen – bis hin zur Lebensangst und seelischen Krankheiten.
    • die Veränderung des Verhältnisses von Chefs zu ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
    • der Schwund von Mitgliederzahlen und Macht der Gewerkschaften
    • die Gewaltbereitschaft auf deutschen Straßen

    Sie, liebe Leserinnen und Leser könnten diese Liste ohne Schwierigkeiten verlängern. Auch ihnen werden viele Entwicklungen und Probleme einfallen, die um vieles gefährlicher und problematischer sind als der demographische Wandel. Und dennoch beherrscht dieses Thema neben einigen anderen die öffentliche Debatte.

Anlage 1 – Abbildungen aus der Debatte zum demographischen Wandel:





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