Aus Fehlern kann man lernen – Das vollständige Scheitern neoklassischer Wirtschaftspolitik in der EU bietet die Basis für emanzipatorische Alternativen.

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Die neoklassische Wirtschaftstheorie steht am Beginn fehlender Regulierung der Finanzmärkte, hat die Politik bezüglich der Folgen der Sparpolitik völlig falsch beraten und kann keine sinnvollen Lösungsvorschläge für die Verringerung der Ungleichgewichte in der Währungsunion bieten. Ihr Scheitern führte zu enormen Wohlfahrtsverlusten in der EU. Es bietet aber auch die Chance für Alternativen. Die Ansatzpunkte für emanzipatorische Wirtschaftspolitik liegen auf der Hand. Von Markus Marterbauer[*].

Die Grundsätze der Wirtschaftspolitik der Europäischen Union sind klar ausformuliert und in sich konsistent. Sie basieren auf drei Rahmenbedingungen: Erstens, auf der vollständigen Verwirklichung des Binnenmarktes für Güter, Dienstleistungen, Arbeitskräften und Kapital; diese Angebotspolitik setzt auf die Funktionsfähigkeit freier Märkte. Zweitens, auf einem hohen Stellenwert für das Ziel der Preisstabilität; dafür wurde mit der Europäischen Zentralbank eine eigene mächtige Institution eingerichtet. Drittens, auf einem ausgeglichenen Staatshaushalt und einer Verringerung der Staatsschulden; das soll durch das strenge Korsett des Stabilitätspaktes erreicht werden.

In der Eurokrise der letzten Jahre wurde das Regelwerk der wirtschaftspolitischen Koordination sukzessive enger gezurrt, vor allem durch striktere Vorgaben für die Mitgliedsstaaten. Zunächst indem im Rahmen des „Europäischen Semesters“ ein genauer zeitlicher Ablaufplan für die Empfehlungen der Kommission und Reformvorhaben der Nationalstaaten festgelegt, die Vorgaben für die makroökonomische Politik im Rahmen des „Stabilitätspaktes“ und der „Verfahren zur Vermeidung von Ungleichgewichten“ verschärft und im „Euro Plus Pakt“ auf die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Nationalstaaten fokussiert wurde (Rossmann 2011). Dann durch die Vorlage des „Fiskalpaktes“ durch die Staats- und Regierungschefs. Und schließlich indem der Präsident des Europäischen Rates Hermann van Rompuy 2013 in seinem Bericht „Auf dem Weg zu einer echten Wirtschafts- und Währungsunion“ eine Verstärkung der Integration nach seinen Vorstellungen skizzierte und damit der Debatte um die Zukunft der EU-Wirtschaftspolitik eine klare Richtung gab (Feigl 2013).

Die Wirtschaftspolitik vom neoklassischen Reißbrett ist gescheitert. Angesichts der Präzision von Konzept, Vorgaben und Verpflichtungen sollte eigentlich in Wirtschaftspolitik und -entwicklung in Europa nichts schief gehen können. Doch die bittere Realität der wichtigsten wirtschaftlichen Indikatoren legt nahe: Fast alles ist schief gegangen, die makroökonomische Politik der Europäischen Union ist gescheitert. Seit Beginn der Finanzkrise im Jahr 2007 ist die Zahl der Arbeitslosen um 10,5 Millionen gestiegen, die Arbeitslosenquote um 4 Prozentpunkte auf 11% der Erwerbspersonen; die Staatschulden haben sich um mehr als 3000 Milliarden Euro erhöht, die Staatsschuldenquote um 28 Prozentpunkte auf 90% des BIP; das Bruttoinlandsprodukt liegt 2013 real um 1% unter dem Niveau von 2007, während es bei „normalem“ Konjunkturverlauf um 12% darüber liegen hätte können.

Die von Banken und Finanzmärkten ausgelöste Wirtschaftskrise bildet den wichtigsten Grund für diese verheerende Entwicklung. Als erstes stellt sich die Frage, wie es zu dieser Krise überhaupt kommen konnte, wo doch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen so klar geregelt waren. Das wichtigste unvorhergesehene Moment für die EU-Wirtschaftspolitik war das Versagen der Finanzmärkte. Eine schwere Wirtschaftskrise, die von nicht ausreichend regulierten Finanzmärkten ausging, war auf dem neoklassischen Reißbrett nicht vorgesehen. Denn dieses baut auf der Hypothese effizienter Finanzmärkte auf, gemäß der sich die Finanzmarktakteure rational verhalten und die Preise den fundamentalen Wirtschaftsdaten folgen. Deshalb sind in diesem Konzept Finanzmärkte stabil und steigern den gesamtwirtschaftlichen Wohlstand.

Große Unterschiede in der Wirtschaftsentwicklung zwischen den USA und der EU. Nun ist unbestritten, dass die unmittelbare Finanzmarktkrise in den Jahren 2008 und 2009 stark negative Effekte auf das BIP, die Arbeitslosigkeit und die Staatsschulden hatte. In den USA, wo ihr Epizentrum lag, folgte darauf eine sehr zögerliche Erholung der Wirtschaft: Das BIP liegt 2013 real um 5% über dem Niveau von 2007, die Arbeitslosenquote geht seit 2010 nur langsam zurück, liegt aber weiterhin um gut 2 Prozentpunkte über dem Vorkrisenniveau. Hätte die Arbeitslosenquote in der EU jedoch den gleichen Verlauf genommen wie jene der USA, so wäre die Zahl der Arbeitslosen heute um 5 Millionen niedriger. Weder das Sozial-, Bildungs- oder Gesundheitssystem, noch der militärisch-industrielle Komplex oder die Dominanz der Hochfinanz in Politik und Ökonomie der USA sind Vorbild. Doch diese markanten Unterschiede in der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zwischen der EU und den USA sind Ausdruck einer anders ausgerichteten Budget- und Geldpolitik, besonders seit dem Herbst 2010. In den USA hält die Geldpolitik mithilfe eines umfassenden Programmes zum Ankauf von Staatsanleihen und Hypothekenpapieren den langfristigen Zinssatz niedrig und stützt so die Konjunktur. Die Budgetpolitik verzichtet auf restriktive Maßnahmen; den Übergang zu einer von der Regierung gewünschten expansiven Orientierung durch Erhöhung von Steuern und Staatsausgaben verhindert allerdings der Kongress. Die Verringerung der hohen Arbeitslosigkeit bildet ein wichtiges Ziel von Geld- und Budgetpolitik.

Die neoklassische Behauptung expansiver Austeritätspolitik. Im Unterschied zu den USA hat sich die EU für einen straffen Austeritätskurs in der Budgetpolitik entschieden. Dies unter der vielfach dokumentierten Erwartung, Budgetkonsolidierung würde keine negativen Auswirkungen auf das BIP und den Arbeitsmarkt haben. Die Legitimation hierfür lieferte die neoklassische Wirtschaftstheorie: Ein vielzitierter Artikel von Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff legte nahe, eine Staatsverschuldung von über 90% des BIP würde das Wirtschaftswachstum drastisch vermindern und sei deshalb unbedingt zu vermeiden (Reinhart und Rogoff 2010). Alberto Alesina hatte in vielen Publikationen umfangreichen und rasch umgesetzten Konsolidierungspaketen, die sich auf die Kürzungen der Staatsausgaben konzentrieren, sogar das Potential für expansive, also Wachstum und Beschäftigung fördernde, Effekte zugemessen (Alesina, Ardagna 2009). Die neoklassische Theorie geht von negativen Einflüssen der Staatstätigkeit auf die wirtschaftliche Entwicklung aus. Ein Abbau der Staatstätigkeit durch Ausgabenkürzungen würde deshalb die Erwartungen von Konsumenten und Investoren aufhellen, die privaten wirtschaftlichen Kräfte entfesseln und so die mit ihr verbundenen kurzfristig negativen Effekte der Nachfrageausfälle mehr als kompensieren.

Der Einfluss dieser Expertisen auf die Wirtschaftspolitik war sehr hoch. Alberto Alesina war im April 2010 in den Rat der Finanzminister in Brüssel geladen, um seine Thesen zu referieren. Die Europäische Kommission, der Europäische Rat und die Europäische Zentralbank nahmen diese wissenschaftliche Erkenntnisse dankbar auf: Die Senkung von Staatsausgaben würden ohne Wohlfahrtsverluste möglich sein.

Das nächste Jahr, das niemals kam: Die Prognosefehler der Europäischen Kommission. Auch diese wissenschaftlichen Grundlagen haben sich als falsch herausgestellt. Das zeigt sich besonders deutlich in den regelmäßigen Prognosefehlern der Europäischen Kommission. In jeder Vorhersage, die die Kommission seit Beginn der Sparpolitik 2010 präsentiert hat, war der Tenor: Die Lage ist schlecht, aber bei Umsetzung der Kommissionsvorschläge wird nächstes Jahr alles besser. Auf Basis der neoklassischen Annahme einer automatischen Rückkehr zu einem (natürlichen) Gleichgewichtszustand nach einem negativen Schock erwarteten die neoklassischen Prognosen einen V-förmigen Konjunkturverlauf mit raschem Aufschwung.

Seither warten wir vergeblich auf dieses „nächste Jahr“. Im Herbst 2010, als die erste Sparwelle beschlossen war, prognostizierte die Europäische Kommission fürs Jahr 2012 ein Wirtschaftswachstum in der Eurozone von real knapp 2%. Im Lauf des Jahres 2011 mussten die Prognosen für 2012 nach unten revidiert werden, für 2013 wurde aber eine wirtschaftliche Erholung erwartet. Selbst diese Annahmen erwiesen sich im Lauf des Jahres 2012 als zu optimistisch. In der Frühjahrsprognose 2013 musste die Kommission einen Rückgang des BIP sowohl 2012 als auch 2013 eingestehen, also die befürchtete „double dip recession“. 2014 soll dann alles besser werden (Zuckerstätter 2013)!

Übersicht 1: Wirtschaftswachstum real, Eurozone

Prognosen der Europäischen Kommission

2009 2010 2011 2012 2013 2014
Herbst 2010 -4,2 1,7 1,5 1,8
Frühjahr 2011 -4,2 1,8 1,6 1,8
Herbst 2011 -4,2 1,9 1,5 0,5 1,3
Frühjahr 2012 -4,3 1,9 1,5 -0,3 1,0
Herbst 2012 -4,4 2,0 1,4 -0,4 0,1 1,4
Frühjahr 2013 -4,4 2,0 1,4 -0,6 -0,4 1,2

Ähnlich bei der Arbeitslosenquote. Im Herbst 2010 erwartete die Kommission für das Jahr 2011 eine Arbeitslosenquote von 10% der Erwerbspersonen in der Eurozone, im Jahr 2012 sollte sie dann wieder sinken. Im Frühjahr und im Herbst 2011 mussten die Prognosen nach oben korrigiert werden, aber 2013 würde es dann wieder besser werden. Im Rahmen der Prognosen vom Frühjahr und Herbst 2012 erfolgten weitere Korrekturen nach oben. Im Mai 2013 wurden die Prognosen weiter nach oben korrigiert (2013: 12,2%) und … erraten: 2014 wird alles besser (Marterbauer 2013)!

Übersicht 2: Arbeitslosenquote in % der Erwerbspersonen, Eurozone

Prognosen der Europäischen Kommission

2010 2011 2012 2013 2014
Herbst 2010 10,1 10,0 9,6
Frühjahr 2011 10,1 10,0 9,7
Herbst 2011 10,1 10,1 10,1 10,0
Frühjahr 2012 10,1 10,2 11,0 11,0
Herbst 2012 10,1 10,1 11,3 11,8 11,7
Frühjahr 2013 10,1 10,2 11,4 12,2 12,1

Diese haarsträubenden Fehler in den Vorhersagen waren für jene Mitgliedsländer besonders stark ausgeprägt, in denen die von der Europäischen Kommission vorangetriebenen Austeritätsprogramme ein überdurchschnittlich großes Ausmaß annahmen (Blanchard, Leigh 2013). Das ist die Folge einer völligen Unterschätzung der negativen gesamtwirtschaftlichen Effekte der Sparpolitik.

Leistungsbilanzdefizite durch Kostensenkung bekämpfen. Die hohen Defizite in der Leistungsbilanz der Krisenländer wurden von der Europäischen Kommission als Ergebnis fehlender Wettbewerbsfähigkeit im Export gesehen. Im Zuge der Reformprogramme wurden deshalb neben massiven Kürzungen im Sozialstaat auch umfangreiche Lohnsenkungen im öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft sowie markante Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen durchgesetzt.

Hier meint die Kommission erste Erfolge ihrer Politik erkennen zu können: Das Defizit der Leistungsbilanz ist in allen Krisenländern zurückgegangen. Doch das ist kaum das Ergebnis gestiegener Wettbewerbsfähigkeit, sondern vor allem die Folge des Einbruchs der Inlandsnachfrage. So hat sich etwa in Spanien der Export vor der Krise und ebenso in der Krise gut entwickelt, ausschlaggebend für die Veränderung der Leistungsbilanz war aber der Boom und dann der Zusammenbruch von Inlandsnachfrage und Importen. Auch hier haben sich die neoklassischen Grundlagen der Politik als falsch herausgestellt: Der Fokus auf Kostensenkungen und die Missachtung der damit verbundenen Nachfrageffekte kosten in großem Umfang Wohlstand. Die Verringerung der Leistungsbilanzdefizite ist damit kein Zeichen des Erfolgs, sondern im Gegenteil, Ausdruck einer Politik, die die Krise verschärft.

Politik auf Basis falscher theoretischer Grundlagen. Die EU-Politik hat in den letzten Jahren wesentlich zu massiven Wohlfahrtsverlusten beigetragen. Diese kommen im Zurückbleiben des BIP, in Massenarbeitslosigkeit, zunehmender Ungleichheit in der Verteilung der Einkommen und steigenden Staatsschulden zum Ausdruck. Ursache für dieses Politikversagen ist auch eine falsche theoretische Basis in Form der neoklassischen Wirtschaftswissenschaft. Die Theorie, die von effizienten Finanzmärkten und neutraler Fiskalpolitik ausgeht, sowie Löhne und Sozialstaat primär als Kosten ansieht, wurde in der Krise empirisch widerlegt.

Alternative Ansätze in der Theorie beschreiben die Realität besser. Die neoklassische Theorie betrachtet eine Situation gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts mit Vollauslastung von Maschinen und Arbeitskräften als Normalzustand einer Marktwirtschaft. Rezessionen und unfreiwillige Arbeitslosigkeit stellen allenfalls vorübergehende Phänomene dar, um die sich die Politik nicht weiter kümmern müsse. Diese Diagnose geht an den Problemlagen der großen Rezession völlig vorbei. Die von John Maynard Keynes entwickelte Theorie über die Determinanten der Entwicklung von Markwirtschaften stützt sich auf die empirischen Erfahrungen der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre. Sie und ihre Weiterentwicklungen begreifen deshalb Ungleichgewichte als Normalzustand von Marktwirtschaften. Deshalb sind sie für die Analyse wirtschaftlicher Situationen der Unterauslastung mit hoher Arbeitslosigkeit, wie wir sie heute in der EU erleben, besonders gut geeignet. Sie können aber auch erklären, wie es zu dieser Unterauslastung gekommen ist. Tiefe Krisen gehen von instabilen Erwartungen der Investoren in Realwirtschaft und Finanzwirtschaft aus. Die Preisbildung auf den Finanzmärkten folgt nicht wirtschaftlichen Fundamentalfaktoren, sondern ist vom Herdentrieb gekennzeichnet, also sich selbstverstärkenden Erwartungen, von Euphorie bis Panik. Darauf haben John Maynard Keynes und Hyman Minsky besonders hingewiesen. Finanzmärkte müssen deshalb streng reguliert und eng begrenzt sein, wenn die Realwirtschaft prosperieren soll.

Budgetpolitik beeinflusst effektive Nachfrage und Beschäftigung. Bei Unterauslastung der Ressourcen verringert restriktive Budgetpolitik des Staates die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Dieser Effekt ist besonders stark, wenn die Staatsausgaben gekürzt werden. Mit der Verringerung von Investitionen sind besonders hohe negative Multiplikatoreffekte auf das BIP und die Beschäftigung verbunden. Die Kürzung von Sozialtransfers hat stärker negative Effekte als Steuererhöhungen, weil diese zu einem größeren Teil aus Ersparnissen finanziert werden und deshalb weniger nachfragedämpfend wirken. Sparpolitik in der Krise verstärkt den Rückgang des BIP und den Anstieg der Arbeitslosigkeit und erschwert damit die Erreichung der Budgetziele. Denn Budgetpolitik kann zwar die Staatsausgaben weitgehend kontrollieren, nicht aber die Staatseinnahmen und die Budgetdefizite, die von der Wirtschaftsentwicklung bestimmt sind.

Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzsalden zwischen Ländern sind meist das Ergebnis unterschiedliche Nachfragentwicklung ist: Defizitländer haben eine (zu) hohe Inlandsnachfrage, Überschussländer eine (zu) niedrige. Erfolgt der Versuch eines Ausgleichs dadurch, dass nur die Defizitländer ihre Inlandsnachfrage senken, so verringert sich das BIP für beide Ländergruppen. Wohlstandsstabilisierend kann eine Korrektur nur dann erfolgen, wenn parallel zur Dämpfung der Inlandsnachfrage in den Defizitländern die Überschussländer ihre Inlandsnachfrage ausweiten.

Verunsicherung der neoklassischen Akteure in der EU. Die massiven Prognosefehler, das offensichtliche Scheitern der neoklassischen Wirtschaftspolitik in der EU und die starke Kritik von nicht-neoklassischen ÖkonomInnen, vor allem aus den USA haben zu einer wachsenden Verunsicherung der wichtigen Politikakteure in der EU geführt. Dazu trägt auch der erkennbare Vertrauensverlust in der Bevölkerung gegenüber der EU und den nationale Regierungen bei, die die europäischen Vorgaben umsetzen. Ein Abrücken von der bisherigen Politik ist allenfalls in sehr kleinen Ansätzen zu erkennen: Wachstums- und Beschäftigungsinitiativen werden da und dort entwickelt, meist aber ohne in nennenswertem Umfang zusätzliche Finanzmittel bereitzustellen. Die Fristen für die Erreichung der Defizitziele werden zeitlich gestreckt, ohne allerdings Änderungen an der Grundausrichtung vorzunehmen.

Gleichzeitig versuchen die Hardliner unter den Akteuren, engstirnig die neoklassischen Vorgaben weiter zu verschärfen. Dazu trägt auch die akademische Wirtschaftswissenschaft bei: Alberto Alesina wiederholte noch Ende 2012 unbeeinflusst von der Realität seine Thesen von den wohlstandssteigernden Wirkungen der Sparpolitik (Alesina et al 2012). Viele politische Akteure sehen in hoher Arbeitslosigkeit und hoher Staatsschuld ohnehin primär die Chance, die Kräfteverhältnisse nachhaltig zu Lasten von ArbeitnehmerInnen und Sozialstaat zu verschieben. Das betrifft insbesondere die deutschen Vorschläge für Wettbewerbspakte, die im Wesentlichen die restriktive Budgetpolitik und die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte verschärfen würden, indem Kommissionsvorschläge für nationale Reformprogramme verbindlich gemacht und mit Sanktionen versehen werden (Oberndorfer 2013a, 2013b).

Ansatzpunkte alternativer Wirtschaftspolitik. Das Gerede vom Fehlen jeglicher Alternativen zur neoklassischen Politik ist Unsinn und bringt primär die Defensive zum Ausdruck, in die sich die EU manövriert hat. In Ökonomie und Gesellschaft existieren immer Alternativen und tiefe Krisen bilden manchmal Phasen, in denen ein Kurswechsel gelingen kann. Die Voraussetzungen dafür wären neben dem Scheitern der „alten Ideologie“, die allmähliche Herausbildung eines Konsenses über die grundlegenden Zusammenhänge einer Kreislaufwirtschaft und das Vorhandensein von politischen Akteuren, die den Kurswechsel überzeugend vermitteln können. Punkt 1 ist gegeben, Punkt 2 und vor allem Punkt 3 fehlen allerdings.

Die Umsetzung alternativer Politikkonzepte ist in jedem Fall aufgrund der ungünstigen Ausgangslage in Form hoher Arbeitslosigkeit und hoher Verschuldung nicht einfach. Auch die Alternativen sind weder risikolos noch kostenlos. Dennoch gilt es, die wirtschaftspolitischen Weichen auf Basis der Analyse der Erfahrungen der Finanzkrise neu zu stellen.

Das Finanz- und Bankensystem verkleinern. Die Finanzkrise hat gezeigt, in welch hohem Ausmaß das Finanz- und Bankensystem der Politik und der Realwirtschaft über den Kopf gewachsen ist. Eine Grundvoraussetzung für eine stabile gesamtwirtschaftliche Entwicklung ist es, das hypertrophe Finanzsystem zu verkleinern und zu regulieren. In Bezug auf Transparenz und Aufsicht sind in den letzten Jahren kleine Fortschritte gelungen. Mehr muss kommen. Vor allem ein griffiges Bankeninsolvenzrecht, dass Eigentümer und Gläubiger an den Sanierungskosten beteiligt und SteuerzahlerInnen entlastet; zudem eine Verschärfung der Eigenkapitalanforderungen, um die Banken krisenfester zu machen; dazu eine verstärkte Besteuerung des Sektors durch Finanzaktivitäts- und Finanztransaktionssteuern.

Niedrige Zinssätze stabilisieren Konjunktur und Einkommensverteilung. Die Wirtschaftspolitik hat großen Einfluss auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung. Sie muss deshalb möglichst ausgewogen an den Zielen des magischen Vielecks ausgerichtet sein. Das bedeutet für die Geldpolitik höheres Augenmerk auf die Stabilität des Finanzsystems und die reale Wirtschaft. Die kurzfristigen und die langfristigen Zinssätze müssen niedrig gehalten werden, so lange die Wirtschaft so deutlich unter ihrem Potential produziert wie heute. Für dieses Ziel müssen wahrscheinlich auch institutionelle Änderungen vorgenommen werden, wie etwa die Einführung von gemeinsamen europäischen Schuldtiteln („Eurobonds“). Niedrige Zinsen begünstigen nicht nur realwirtschaftliche Investitionen, sondern verbessern auch die Verteilung der Einkommen. Sie tragen zu der von Keynes befürworteten „Euthanasie der Rentiers“ bei.

Steuererhöhungen finanzieren Beschäftigungsprogramme. Die Budgetpolitik muss auf die Reduktion der Arbeitslosigkeit ausgerichtet sein. Angesichts der krisenbedingten Höhe der Staatsschulden bleibt wenig Spielraum für traditionelles „deficit spending“. Von einer Politik, die sich am „balanced budget multiplier“ ausrichtet, gehen dennoch konjunktur- und beschäftigungsfördernde Wirkungen aus: Die Erhöhung von Steuern auf sparfreudige Vermögende, SpitzeneinkommensbezieherInnen und den Finanzsektor sowie die gleichzeitige Erhöhung von Staatsausgaben zur Schaffung von Arbeitsplätzen und Bildungsmöglichkeiten erhöhen das BIP und die Beschäftigung und verringern die Staatsschuld (Editorial 2012). Unter dieser Prämisse sollten die Budgets von EU und Nationalstaaten ausgeweitet werden, um die wirtschaftliche und soziale Krise zu bekämpfen. Gleichzeitig gilt es, die automatischen Stabilisatoren der öffentlichen Haushalte zu stärken. In jüngster Zeit sind mehrere Vorschläge für automatische, antizyklische Ausgleichsmechanismen für den EU-Haushalt entwickelt worden, deren Umsetzung zielstrebig verfolgt werden sollte (Feigl 2013a und die dort zitierte Literatur). Auf nationalstaatlicher Ebene gilt es, vor allem den Sozialstaat zu stärken, von dem umfangreiche stabilisierende Wirkungen ausgehen.

Löhne bilden sowohl Kosten für die Unternehmen, als auch Einkommen für die Beschäftigten. Die Anwendung dieser Erkenntnis impliziert die Leitlinie einer produktivitätsorientierten Lohnpolitik und damit die ausgewogene Berücksichtigung von Angebots- und Nachfrageeffekten. Sie würde auch zur Verringerung der Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzsalden innerhalb der Währungsunion beitragen. Hierfür sind jedenfalls nachfragesteuernde Maßnahmen in beiden Ländergruppen notwendig (Editorial 2013).

Schließlich bildet die Umverteilung von Einkommen und Vermögen von oben nach unten den Kern aller nachfrageseitigen Strukturveränderungen, die die europäische Wirtschaft in mittlerer Frist aus der tiefen Finanz- und Wirtschaftskrise führen könnten.

Literatur


[«*] Markus Marterbauer ist Chef der Abteilung Wirtschaftswissenschaft und Statistik der Arbeiterkammer Wien http://wien.arbeiterkammer.at/online/kontakt-19203.html. Der WIFO-Konjunkturexperte ist Autor zahlreicher Fachpublikationen zu wirtschaftspolitischen Themen, soeben erschienen ist sein Buch „Zahlen bitte! Die Kosten der Krise tragen wir alle“.
Markus Marterbauer blogt hier.
Dieser Artikel erscheint Anfang Juli auch im EU-Infobrief der Arbeiterkammer Wien.
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