Ästhetik und Politik

Ein Artikel von Petra Frerichs & Joke Frerichs

Unter dem Titel Schönheit und Gerechtigkeit fand in der Zentralbibliothek Köln ein Symposion zur Roman-Tetralogie Die Kinder des Sisyfos des Schriftstellers Erasmus Schöfer statt.
Es ist das große Verdienst Schöfers, mit seiner literarischen Geschichte von unten, diese Ereignisse vor dem Vergessen bewahrt zu haben. Er hat nicht nur über sie geschrieben; er hat an vielen der Widerstands-Aktion selbst teilgenommen. In seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Gustav-Regler-Preises hat der Autor sein literarisches Credo wie folgt formuliert: Für mich hat immer gegolten: Der Schriftsteller ist nicht nur kritischer Beobachter der Weltläufe, sondern handelnder, mitwirkender Beteiligter. Er ist einer, der sich zugehörig weiß zu den emanzipatorischen Bewegungen seiner Zeit, der an ihnen teilnimmt mit dem Bewusstsein, die Motive der Bewegten erkennen und bezeugen zu wollen, im Widerstand gegen die mächtigen Kräfte, in deren Interesse die Verdunkelung und Verfälschung dieser Motive liegt. Von Joke und Petra Frerichs

Schöfer steht in der Tradition großer deutscher Romanciers, die sich dem politischen Alltag verschrieben haben, z. B.: Alfred Döblin (November 1918) oder Uwe Johnson (Jahrestage). Gegenstand seiner Romane ist die Geschichte der linken Bewegung in Deutschland zwischen 1968 und 1989. In Zeiten des Widerstands gegen Stuttgart21 und anderer Großprojekte, ist es wichtig, sich dieser Widerstandsgeschichte bewusst zu werden. Was Peter Weiss in seiner Ästhetik des Widerstands für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts unternommen hat – die fiktionale Darstellung der linken Geschichte – leistet Erasmus Schöfer für die zweite Hälfte des Jahrhunderts. Viele der politischen und sozialen Konflikte dieser Zeit werden von ihm aus der Sicht von beteiligten Aktivisten dargestellt: Die Studentenbewegung (Band 1); der Kampf gegen das Atomkraftwerk Whyl (Band 2); der gewaltsame Tod einer griechischen Demonstrantin während einer Protestaktion vor einer Textilfabrik in der Nähe Athens (Band 3) sowie die Konflikte um die Startbahn West in Frankfurt und der Kampf gegen die Schließung des Krupp-Stahlwerks Rheinhausen (Band 4). [1]

Schöfer hat das immense historische Material, das er bearbeitet, auf sensible und literarisch höchst anspruchsvolle Weise verdichtet. Das Ergebnis ist ein bedeutendes Werk der deutschen Gegenwartsliteratur (von insgesamt über 2.000 Seiten), das noch viel zu wenig Resonanz gefunden hat. Auch dafür gibt es Gründe: Es gehört zu den Strukturmerkmalen der bürgerlichen Öffentlichkeit, dass ganze Bereiche unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit in den Medien tabuisiert werden. Dazu gehören in erster Linie betriebliche Konflikte. Oskar Negt hat zurecht darauf aufmerksam gemacht, dass die Arbeitswelt noch immer zu den Bereichen der unterschlagenen Wirklichkeit gehört, von der die Öffentlichkeit fern gehalten wird wie das Kind vom heißen Ofen. Gilt dies schon allgemein, so gilt es für die intellektuelle und literarische Öffentlichkeit erst recht. Siegfried Kracauer schrieb bereits 1959: Die Arbeitswelt ist den meisten Intellektuellen ihrer Alltäglichkeit wegen gewöhnlich uninteressant. Hinter die Exotik des Alltags kommen auch die radikalen Intellektuellen nicht leicht.

Erasmus Schöfer gehört neben Günter Wallraff, dem frühen Ralf Rothmann und Wolfgang Bittner zur seltenen Gattung der politischen Schriftsteller, die dieses Tabu ignoriert haben. Das hat ihm seitens des Feuilletons wenig Freunde beschieden. In einer Art Rückschau auf seine literarische Tätigkeit, dem Buch Der gläserne Dichter, schreibt Schöfer: Im Hintergrund seines Bewusstseins lauerte die Erfahrung, dass seine früheren Arbeiten ohne Fürsprecher und halbseitige Verlagsanzeigen auf dem Geistermarkt erschienen waren, im Vertrauen auf ihre Stärke dank genauer Wirklichkeitsforschung und sorgfältiger sprachlicher Verdichtung, dass aber bis auf wenige Freunde alle angestellten Schmähschreiber vor dieser Herausforderung versagt, nämlich nicht einmal versucht hatten, die vielschichtigen Gebäude seiner Werke überhaupt zu betreten, ihre Architektonik zu ergründen oder wenigstens intuitiv zu verstehen … Klar. Ihnen missfiel sein Baumaterial. Aus diesen Erfahrungen zieht er später, als er über Jahre an seinem vierbändigen Hauptwerk, dem Epochenstück (Die Kinder des Sisyfos), arbeitet, eine radikale Konsequenz: Nicht mal im Traum – lautete sein Rütli-Schwur – wollte er ihnen noch Beachtung gewähren, und erst recht nicht lesen, was sie sich über sein Epochenstück aus den Nägeln knabbern würden. Unter ihnen war ausgemacht, in welche Schublade er gehörte. Da konnte er schreiben, was er wollte – sie würden in ihren früheren Rezensionen nachlesen und nur nach Bestätigung ihrer einmal gefassten Urteile Ausschau halten, die ihm wie ein Brandmal anhafteten. [2]

Während des Symposions in Köln stand neben dem Gesamtwerk insbesondere der dritte Band von Schöfers Tetralogie (Sonnenflucht) im Mittelpunkt der Erörterungen. Dieser Roman war erstmals 1986 unter dem Titel Tod in Athen erschienen und wurde von Schöfer als überarbeitete Fassung später in das Gesamtwerk integriert. Gleichwohl bildet die Tetralogie eine bruchlose Einheit, in der der 3. Teil als erweiterte Perspektive und variierte Dramaturgie erscheint. Die beiden Hauptfiguren – der durch Berufsverbot erzwungenermaßen arbeitslose Geschichtslehrer Viktor Bliss und sein Freund, der Betriebsratsvorsitzende eines Stahlwerks bei Düsseldorf Manfred Anklam – sorgen für die personelle Kontinuität der Roman-Teile. Zur Handlung selbst: Schauplatz des Geschehens ist Griechenland (auch dies verleiht dem Roman eine vom Autor unbeabsichtigte Aktualität!). Bliss steckt in einer tiefen persönlichen Lebenskrise und ist in seiner Verzweiflung auf eine griechische Insel geflohen. Sein Freund Anklam besucht ihn nach einem halben Jahr dort und will ihn zurückholen. Der Roman behandelt die wenigen Tage des kurzen gemeinsamen Inselaufenthalts, der Fährfahrt zurück nach Athen und Anklams Rückflug nach Düsseldorf – doch in dieser Zeitspanne ereignet sich eine Menge: viel Emotionales, Konfliktorisches und Politisches zwischen den beiden Freunden; viel an Reflexion und Nachdenklichkeit; viel sinnlich Erlebtes und zwei tragische Ereignisse – der gewaltsame Tod der Studentin Sotiria anlässlich einer Demonstration sowie Waldbrände rund um Athen, wobei Bliss bei einer versuchten Rettungsaktion selbst schwerste Brandverletzungen an Kopf und Gesicht davonträgt.

Von der Erzählform her arbeitet Schöfer kapitelweise mit dem Wechsel der Perspektiven zwischen Bliss, Anklam und Katina, einer Freundin der getöteten Sotiria, die Bliss erst kurz vor seinem Unfall kennengelernt hatte. Schöfer bedient sich nicht nur des Stilmittels des Perspektivwechsels zwischen den Protagonisten; er wechselt zugleich den Stil und die Sprache der jeweiligen Person, aus deren Blickwinkel erzählt wird. Katinas Eröffnungsbeitrag weiht die Leser in die Umstände ein, in denen sich Bliss befindet: Er liegt völlig bewegungs- und sprechunfähig, schwerstverletzt durch Gesichtsverbrennungen in der Isolierstation eines Athener Krankenhauses, und Katina bespricht ihm Tonbänder, damit er mit ihr und der Außenwelt in Verbindung bleibt. (Hiermit wird der Schluss des Romans vorweggenommen, während die Passagen über die anderen Figuren chronologisch angeordnet sind.) Der Autor verfasst diese Tonband-Briefe in der „gesprochenen“ Sprache und verzichtet bewusst auf grammatikalische Korrektheit; durch die Unmittelbarkeit des Stils wird die Nähe Katinas zum Brandopfer besonders hervorgehoben – ihre Sorge und Zuversicht über die Heilungschancen von Bliss. Die Passagen der Katina sind in Ich-Form gehalten und kursiv gesetzt. Wohl deswegen, weil sie sich zu denen von Bliss und Anklam deutlich unterscheiden und auch für den Gegenwärtigkeitsbezug stehen, was für den Leser eine Orientierungshilfe im Geschehensablauf darstellt.

Mit am reizvollsten und interessantesten ist die Konstruktion der Protagonisten Bliss und Anklam: hier der Intellektuelle Bliss, dort der Facharbeiter Anklam; hier der politisch Sozialisierte mit bürgerlicher Herkunft, der sich seiner Klassenschizofrenie [3] zu stellen hat; dort der betrieblich sozialisierte, linke Gewerkschafter mit proletarischer Herkunft; hier der Repräsentant einer systematischen Bildung; dort der belesene Arbeiter, der mit seiner Lesewut seine Benachteiligung kompensiert; hier dominiert der Kopf und Geist über den Körper und die Emotionen sowie die Angst vor Kontrollverlust; dort das Impulsiv-Aggressive, Robuste, Körperbetonte, Direkte in der Reaktion und Auseinandersetzung u.a.m.

Entsprechend passt Schöfer den literarisch-stilistischen Grundton der Kapitel den Habitusformen und Wahrnehmungsweisen der beiden Hauptfiguren an. In den Abschnitten aus der Perspektive von Bliss dominiert ein reflexiver Stil, eine Sprache der Intellektualität, Selbstreflexion; voller Zweifel, Resignation, Trauer und offener Fragen. Als Beispiel ein innerer Monolog, der Einblick in Bliss‘ Gedankenwelt gewährt und stilistisch auch aufgrund der Sprachspiele heraussticht: Die Wahrheit ist keine Wahrheit ist eine Wahrheit. Amen./ Die gewisse Gewissheit des Wissens, dreifach genährt. Hält nicht. Ich grab nach der Wahrheit immer tiefer – im Schutt der Widersprüche. / Die Wahrheit ist also die Dialektik? Der Satz geht nicht, aber er stimmt. / Was immer einer tut bewirkt auch das Gegenteil. Sie bringen das Mädchen um und setzen eine Heldin in die Welt. Wir bringen die Revolution in die Welt und zwingen das Kapital, seine Macht zu stärken. / Das Gesetz ist die Veränderung. Das Gesetz steht fest. / Die Welt dreht sich. Rast durchs Universum, wie besessen. Fliegt irgendwann in die Luft. Erfriert. Aber sie steht fest auf ihrem Newton. / Mein Gott schalt mir doch einer das Hirn ab! / Die Wahrheit ist der Sisyphos. / Der Mond über Athen. Weißer, nackter Mond über der Wüste. In der Jauche fließt und Blut und Retsina. Kein Wasser. Wo gibt’s noch Milch und Honig! / Und der Wald brennt. Brennt politisch. Aber lösch ihn mal sozialistisch! Berechne mal dialektisch die Winkelsumme im Dreieck!

Kunstvoll sind in diesem inneren Monolog die Hauptthemen des Romans gebündelt, und das Sisyphos-Motiv steht an zentraler Stelle (für Vergeblichkeit? Resignation? ).
Der Lehrer trägt schwer an der inneren Zerstörung, die das Berufsverbotsverfahren in ihm angerichtet hat – solcherart Kränkung, Demütigung, Erniedrigung sind bleibende Wunden, die nicht verheilen wollen und als Erinnerungsfetzen aus x-beliebigem Anlass immer wieder seine Psyche martern. Es ist das Verdienst von Schöfer, an einem einzelnen Berufsverbotsfall die sukzessive Zerstörung einer Person literarisch dargestellt zu haben – auf dass die Nachgeborenen überhaupt davon erfahren.
Auch Bliss selbst arbeitet gedanklich und kommunikativ gegen das Vergessen an, weil er davon überzeugt ist, dass Geschichtsblindheit zur Stabilisierung von überkommenen Herrschaftsformen beiträgt. Die Herstellung von Geschichtsbewusstsein ist daher ein Hauptanliegen des Autors, der damit in der Tradition Brechts steht: Wer sich der Geschichte des Widerstands aus der Klassenperspektive nicht bewusst ist oder erinnert, kann in den gegenwärtigen Kämpfen nicht bestehen, geschweige denn siegen.
Für Bliss behält sich der Autor stilistisch eine stärkere Trennung von Innen- und Außenwahrnehmung vor, d.h. selbst gegenüber seinem Freund Anklam hält er seine Emotionen zurück, flüchtet sich in die Distanzierung, weil Gefühle ihm als Schwäche ausgelegt werden könnten. Statt über verletzte Gefühle zu reden, sucht er Zuflucht in der Poesie: wir erfahren, dass er in den langen Wochen der Einsamkeit auf der Insel stets einen Gedichtband des griechischen Dichters Jannis Ritsos bei sich hat.

In den Kapiteln über den Arbeiter und Betriebsrat Anklam ist der Stil ein direkter, unmittelbarer; dafür warmherziger. Ihm mangelt es nicht an Feinfühligkeit für seinen Freund; doch für bestimmte Handlungsweisen, allen voran für dessen Flucht nach Griechenland, hat er kein Verständnis. Als Mann der Praxis meint er, das Kampffeld seines Freundes liege in Deutschland; alles andere sei ein Davonlaufen vor den Problemen. In die tieferen Regionen von Bliss‘ seelischen Wunden vermag er nicht vorzudringen oder will es nicht, weil er sich nicht für zuständig erklärt: weder zu denen, die durch das Berufsverbotsverfahren verursacht sind, noch zu denen, die aus der Trennung von Lena (Bliss‘ Frau) herrühren. Statt mit Bliss über dessen persönliche Probleme zu reden, will er ihn nach Deutschland zurück holen: Er überlegte, ob der den Freund als Behelfsbetriebsrat nutzen könnte, ihm die Hauptpunkte vortragen, ihn zu Einwänden, Fragen provozieren, um so seine eigenen Gedanken ins Reine zu bringen. Die Hilfe könnte er ihm nicht verweigern. Wär auch ein gutes Mittel, ihm die Realität in den Kopf zurückzuzwingen. Die wichtige. Und die andre, die persönliche, wegzuschieben. Mit der er sich immer noch rumschlägt.

So steht Anklam den Gemütsbewegungen seines Freundes relativ hilflos gegenüber. Er erinnert sich an eine zurückliegende Szene mit Bliss: Er vergaß nicht den nächtlichen Schock, als Vik paar Wochen vor seinem Verschwinden bei ihm in Düsseldorf vor der Tür gestanden hatte, von einer eisigen Wortlosigkeit und Starre befallen, gebeten hatte, nur da sein zu dürfen, er geredet hatte und geredet, mit Whisky, um Vik aufzulockern, abzulenken oder auch, weil er ahnte, dass den eine Sorte Schmerzen plagte, für die er unzuständig war, auf die er sich nicht einlassen wollte. Bis er plötzlich sah, dass dem aus seinen großoffenen Augen die Tränen liefen, wie unstillbar, wie aus einer anderen Person, der ließ sie rinnen, bewegungslos, lautlos, ein Bild, in dem nur die unheimlich traurigen Augen lebten, und er, in seinem Schreck, dachte – jetzt schmilzt er! Jetzt löst er sich auf! Da war er auch verstummt, unfähig zu antworten auf diese Auslieferung, bis Vik, erwachend aus der Erstarrung, heftig den Kopf schüttelte, Niemals! Rausstieß, aufsprang und im Bad einen scharfen Strahl Wasser ins Waschbecken ließ. Mit nassem Haar zurückkam, beiläufig was vom Tschuldigung murmelte und seine Nerven stillzureden versuchte, mit absurden Tiraden über die große Koalition im Marburger Stadtrat gegen Grüne und Kommunisten, als wär dies die Ursache seiner Verzweiflung.

Stellen wie diese zeigen unter dem Signum von Vertrauen und tiefer Zuneigung doch die Unfähigkeit, Gefühle zu kommunizieren. Erst als Bliss die Selbstbeherrschung im symbolischen Akt der kalten Gesichtsdusche und des verbalen Ausstoßes einer Unbeugsamkeitsfloskel wiedererlangt hat, ist die Fassade repariert, und ablenkende Gesprächsthemen sorgen für Entlastung. Anklam registriert zwar das Ablenkungsmanöver seines Freundes, nimmt es jedoch auch dankbar an, weil es auch ihn aus einer peinlichen Situation herausholt. Seine Sicht ist nicht primär auf psychische Befindlichkeiten ausgerichtet, sondern eine politische: er lebt von der politischen Diskussion; der Bezugspunkt seines politischen Verständnisses sind die Probleme, die aus dem kapitalistischen Produktionsprozess resultieren. Er sieht die Welt als einen großen Herstellungszusammenhang; was in den Betrieben passiert, die gedankliche Nähe zu „seinem“ Betrieb lässt ihn auch im fernen Griechenland nicht los. Er lebt in Kategorien der Klassenungleichheit, Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Kontrolle, Unterdrückung. Dafür hat er einen geschärften Blick. In dieser Hinsicht ist er „politisch“ und vor allem: ganz Betriebsrat – voller Verantwortungsgefühl, Sorge und darauf ausgerichteter Emotionen. Sein politisches Selbstverständnis lässt er sich nicht eintrüben – auch nicht vom eigenen Gewerkschaftsvorstand: Niemand und nie konnte er erzählen, mit den Gefühlen, den Ahnungen erst, der langsam ins Klare dämmernden Gewissheit, was in dem schwarzen, schimmernden Haus in der Leuschnerstraße geschehn war, wie sie ihn zitiert hatten nach Frankfurt mit dem Vorstandsbrief – ein Gespräch sollte das sein! – ihn, den Verantwortlichen für einen Streik, mit dem anderthalbtausend Metaller ihrer Gewerkschaft das Kreuz stärken wollten, wild hatten ihn tatsächlich einige genannt und meinten nicht wild vor Freude sondern eigenmächtig, verholzt waren die in der Organisation … der ganze geschäftsführende Vorstand um den Konferenztisch, kein Sessel mehr frei für ihn, auch kein Stuhl, angeklagte Rädelsführer sitzen nicht vor ihren Richtern … mit dem Rücken an der Wand hatte er begriffen, dass hier das Konzept von der selbständigen, aktiven Basis schon verworfen, abgeblasen war, kaum eh es in den Betrieben und Kreisen zu reifen begann, der Druck von unten sollte nur auf Bestellung von oben erlaubt sein … Nicht geduldet werden konnte, dass die Rituale der Machtverwaltung von Uneingeweihten in Frage gestellt wurden, die mal zuschlagen wollten, wo nur Spiegelfechtereien stattfinden, das Imponiergehabe der Tarifforderungen, mit eingebauter Kompromissautomatik, alljährliches verschärftes Zähnefletschen … zur Beschwichtigung der einfältigen Proletariergemüter … und auch der Streit im Vorstand um das Sandkorn Anklam im Getriebe ein Abbild der Vorgänge in der konfliktbereinigten Industriegesellschaft.

Einer wie Anklam bezieht sein Selbstbewusstsein aus seinem betrieblichen Alltag. Hier ist er verankert, hier kennt er sich aus. Das ist auch die Basis seines durch und durch sinnlichen Materialismus. So kann es geschehen, dass er geradezu in Verzückung gerät beim Anblick eines Sextanten: Massiv! dachte er sofort mit einer gewissen Lust, als er das Gewicht des mattglänzenden, kühlen Metalls spürte … Offenbar ein Messgerät. Beobachtungsgerät. Das kurze Messingrohr mit dem verstellbaren Okular. Zur Navigation. Starr gelagert, das Fernrohr; nur in der Höhe um die Achse variable. Er drehte an einer der Rändelschrauben, spürte zufrieden den satten, gleichmäßigen Widerstand, den der gezähnte Messingboden dem Transportgewinde der Schraube entgegensetzte, während sich das System der Spiegel millimeterweise über den horizontalen Messbogen schob …
Es ist der verklärte Blick des Technikers und Ingenieurs auf ein feinoptisches Messgerät, der im Facharbeiter Anklam zum Vorschein kommt und ihn zur genauesten Beschreibung des Geräts und seiner Funktionsweise befähigt – stilistisch passend im Stakkato gehalten. Oder: Bei einer beliebigen Baustelle in Griechenland erinnert Anklam sich einer weit zurückliegenden solidarischen Aktion, bei der er gegen die Vorschriften einem anderen Arbeiter bei der Maschinenbedienung geholfen hatte. Das ist der Habitus des hochqualifizierten, selbstbewussten Facharbeiters mit dem dazugehörigen sozialen und solidarischen Potential.

Bei aller Verschiedenheit der Charaktereigenschaften gibt es zwischen Bliss und Anklam verbindende Gemeinsamkeiten. Die am wenigsten verbalisierbare ist ihre Freundschaft selbst; sie können darüber zwar nicht sprechen, aber das ist auch nicht notwendig: Es reicht, dass man sich aufeinander verlassen kann; dass einem der andere fehlt, wenn er weg ist; dass man Grundüberzeugungen im Politischen teilt: So verstehen sie sich nahezu blind in ihren Diskussionen über Organisationsfragen; ihre lebhaften Sozialismus-Diskussionen, meist von Anklam angezettelt, münden in heftige Kritik am existierenden Sozialismus und machen sich u.a. am Übermaß an Bevormundung und Überwachung, an strukturellem Misstrauen und nicht überwundenen preußischen Tugenden fest. Vielleicht ein Schlüsselerlebnis das, als sie Gäste waren im Palast der Republik, beim Parteitag der SED … Was da verhandelt und berichtet wurde, aus dem Alltag der sozialistischen Republik, Erfolge, Schwierigkeiten, Pläne, das billigte er. War aber diese ritualisierte Form der Darstellung von Stärke und Geschlossenheit nicht umgeschlagen in einen überflüssigen, den einzelnen einschüchternden, lähmenden Gestus von Entmündigung? Da verlor sich doch der Reiz, die Verführungskraft des Guten im Gepränge der Macht?
Die Spontaneität, der Zufall, die Idee, die Neues erfindende Fantasie waren aus diesen Veranstaltungen ihrer Parteien herausgefiltert, ebenso wie der Zorn, die unübersetzte Empörung, vom vorformulierten Patos ersetzt war. Jedes politisch nicht genau orientierte Gefühl war verpönt, und das machte diese Kundgebungen für den Gegner vielleicht bedrohlich, für die Masse der Außenstehenden, zu Überzeugenden aber doch auch.

Und auch da, wo sie differente Erfahrungen und Wahrnehmungen haben, berührt dies nicht den Kern ihrer Freundschaft. Man erkennt sich gegenseitig an, würdigt die jeweiligen Kompetenzen und Fähigkeiten und ist auch bereit, vom anderen zu lernen. Das ist es wohl, was ihre Freundschaft ausmacht, auch wenn diese im Romanverlauf etlichen Zerreißproben ausgesetzt ist.
Interessant ist, dass Schöfer sie als eine Art cross-class-Beziehung konstruiert: Qua Herkunft und Bildungsweg sind Bliss und Anklam verschiedener sozialer Klassenzugehörigkeit; qua Gender sind sie „Kerle“ mit all den kulturellen und sozialen Prägungen. Schöfer leuchtet diese Beziehungen zwischen Verschiedenheit und Gleichheit prägnant und lebendig aus: Der Intellektuelle Bliss durchbricht seine Kopflastigkeit etwa in der Faszination für schmutzige Arbeit, aber ebenso für den Akt des Brotbackens, der immer noch eine sinnliche Dimension der Herstellung birgt. Umgekehrt verbringt Anklam als „Gewerblicher“ seine freie Zeit mit Lesen, ja, er rationalisiert als Alleinlebender seine aufs Notwendigste gestutzten reproduktiven Tätigkeiten so, dass ihm ein Maximum an Zeit für seine Leidenschaft, das Bücherlesen und die hierüber vermittelte Aneignung von Wissen, bleibt.

Apropos Gender and Class: Geradezu köstlich ist die Szene, als Aklam seinem Freund von der Unterredung mit einem studierten Weib erzählt, einer 35jährigen Germanistin, die ihn, den belesenen Arbeiter, intellektuell vorführen will. Anklam erzählt, was Bliss erwartet hat: es sei der Frau nicht gelungen, ihn bloßzustellen, er habe sich gut geschlagen. Diese studierten Weiber können sich nicht vorstellen, dass ein Arbeiter was andres liest als die Bild! / Nur die Weiber? fragte Vik maulfaul … / Meine Hände, hat sie gesagt, Betriebsrat, hab ich geantwortet, freigestellt. Ach so, Funktionär, hat sie gemeint, und ich: Zehn Jahre Drehbank, junge Frau, Werkzeugmacher, was nicht heißt, dass ich nicht studiert hätte, aber leider bin ich nicht als höhere Tochter geboren. Hat sie gelacht – warum ich keine geheiratet hätte, wie ich aussehe? Weil ich dann keine Zeit mehr zum Lesen gehabt hätte. War sie sprachlos, aber nur einen Augenblick, hat gegrinst, ich müsste wohl was verdrängen? … / Ob ich ihr meine Karte überreichen darf, in Düsseldorf bring ich jeden Beweis, hab ich gesagt … Und dann geht das Gespräch weiter über Bildungsgüter und Gelesenes, was man unbedingt gelesen haben müsste usw.
Schöfer sitzt mit seinen beiden Protagonisten keinem Männlichkeitskult auf; vergeblich wird man in den Romanen nach Spuren von Machismo oder Sexismus suchen. In der Auseinandersetzung mit der Germanistin hat die Frau als Intellektuelle versucht, den kulturell unterlegenen Arbeiter mit ihrer Bildung (und Herkunft) bloßzustellen; dass er sich selbstbewusst gewehrt hat, ist nachvollziehbar und legitim, zumal er es in keiner Weise ehrverletzend oder beleidigend getan hat; auf eine Unverschämtheit hin (ob er etwas zu verdrängen habe) zahlt er nur mit gleicher Münze zurück. Wichtiger als diese Episode ist jedoch: Die Frauen, die Hauptrollen in den Romanen von Schöfer spielen, sind gleichermaßen in ihrer Emotionalität und Erotik sowie in ihrer Intellektualität und als Kampfgenossinnen dargestellt: Z.B. bringen die arbeitenden Frauen aus der Textilfabrik den Mut auf, vor den Augen ihrer Bewacher Flugblätter von Demonstranten anzunehmen; und später weigern sie sich, in den Werksbus einzusteigen, mit dem die Studentin mutwillig überfahren worden war.
Kurzum: Die Geschlechterbeziehungen sind egalitär konstruiert, was nicht heißt, dass es an der erotisch-sexuellen Dimension mangelt. Das Gegenteil ist der Fall, aber die männlichen Protagonisten begegnen den weiblichen in einem sozialen, auch erotischen motivierten Anerkennungs- und Achtungsverhältnis und vice versa. In dieser Hinsicht können wir Sabine Kebir nur zustimmen, die über den Roman geschrieben hat: Unbedingt möchte ich noch hervorheben, dass Erasmus Schöfer das Problem der in Prüderie oder blumiger Klischeehaftigkeit erstarrten Sprache der Liebe beeindruckend gelöst hat.

Resümierend lässt sich sagen:
Schöfers Romane verknüpfen auf nahezu ideale Weise die ansonsten getrennten gesellschaftlichen Sphären Arbeit, Politik und Ästhetik. Sie bestechen durch die poetische Verdichtung des Wirklichkeitsgehalts der beschriebenen Ereignisse. Eine besondere Stärke stellen die Dialoge zwischen den Protagonisten dar; sie zeigen die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der Kommunikation mit literarischen Mitteln auf. Häufig werden die Dialoge durch innere Monologe ergänzt, um dem Ungesagten oder Verschwiegenem auf emotionaler und reflexiver Ebene eine Sprache zu verleihen. In den beschreibenden Passagen ist Schöfer ungeheuer präzise; ob es um die Beschreibung von Arbeitsvorgängen und –prozessen geht oder um die Schilderung von Landschaften oder Stadtansichten (Athen als Kaos, Steinwüste, Labyrinth). Schöfer verknüpft auf kunstvolle Weise die ganze Bandbreite von Subjektivität und individueller Biographie mit objektiven Wirklichkeiten, und zwar so, dass das Einzelne und Besondere für ein Allgemeines steht (also methodisch nahezu am Idealtypus angelehnt). Die Personen tragen – bei aller Individualität – deutliche Züge eines Klassenhabitus. Die Gespräche über Politik und Gesellschaft thematisieren allgemeine Konfliktstoffe; und der Tod der Studentin versteht sich – bei aller Emotionalität, die er auslöst – zugleich als Symbol für den Widerstandsgeist einer jungen, linken Bewegung. Nicht zuletzt ist vor allem der 3. Band ein Roman voller Poesie; dafür stehen das Gedicht Sisyfos schläft (von Schöfer) gleich zu Beginn, die originellen wie einfühlsamen Zwischenüberschriften der Kapitel und die Gedichte von Jannis Ritsos, denen nahezu ein leitmotivischer Charakter zukommt.

Zum Schluss noch die Frage, ob die „Kampf-Rhetorik“, die der Autor bedient, aus heutiger Sicht zeitgemäß erscheint. Sie ist zu bejahen, auch wenn sich die Anlässe und Formen der sozialen und politischen Auseinandersetzungen gewandelt haben mögen. Betrachtet man die Zeitspanne nach 1989, also die jüngste deutsche Geschichte nach der Wende, so sind es neben den kontinuierlichen Widerstandsaktionen gegen die Kernenergie oder die Castor-Transporte, vor allem breite Bürgerbewegungen gegen bauliche Großprojekte – allen voran Stuttgart21 – an denen sich kollektiver Widerstand und Protest heute festmachen. Auch lokale und regionale Bürgerproteste gegen rechte Gewalt gehören dazu. Man könnte sich also durchaus einen 5. Band zu den aktuellen Widerstands-Aktionen vorstellen. Aber diesen wird dann ein anderer als Erasmus Schöfer schreiben müssen. Ihm wünschen wir Momente der Muße, wie er sie selbst beschrieben hat:
Gestern nun habe ich dort, wo zwischen zwei Bergen die Winterwasser der Jahrtausende die Bucht in ein Stück flaches, ackerbares Land aufgespült haben, umgeben von einer niedrigen Felsenmauer, das mit grünen Haferrispen untermischte blühende Mohnfeld entdeckt. Dank des Hafers kein gleichmäßiger roter Farbteppich, sondern jede Blüte zu beobachten in ihrer durchsonnten, windbewegten Einzigkeit inmitten der unzähligen Schwestern. Ich habe mich auf die Mauer gesetzt und geschaut.


[«1] Siehe auch: Joke und Petra Frerichs: Engagierte Literatur, in: Lesespuren. Notizen zur Literatur, Norderstedt 2011, 187 ff.

[«2] Der Vollständigkeit halber muss erwähnt werden, dass Schöfers Werk nicht nur in der Bundesrepublik wenig rezipiert wurde. Seine kritischen Äußerungen über das Erscheinungsbild des „realen Sozialismus“ führten offenbar dazu, dass seine Tetralogie in der DDR gar nicht erst aufgelegt wurde (vgl. z.B. Band 3, S. 138 f.).

[«3] Schöfer verwendet in diesem Buch eine „eigene“ Orthographie und Interpunktion, wie hier Schizophrenie mit f oder Teater, Teorie, Filosofie etc. Zur Begründung schreibt er, im Zweifel lieber seinem Sprachgefühl als dem kommissarischen Rechtschreibkanon zu folgen.

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