Schröders eigene Versionen. Neue Zumutungen.

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

„Für mich gibt es keine Rückkehr“ – so lautet die Überschrift über einem Interview Gerhard Schröders mit dem Spiegel. Keine Rückkehr – Gott sei Dank! Und weiter:
“Gerhard Schröder zieht im SPIEGEL-Gespräch Bilanz: Die Schuld an der Wahlniederlage der SPD trügen die Gewerkschaften. Auch mit der Großen Koalition geht der Altkanzler hart ins Gericht. Die Gesundheitsreform sei ein “bürokratisches Monstrum”, der Union fehle Führung.“
Quelle: SPIEGEL ONLINE

Das sind immer wieder neue Zumutungen. In „Machtwahn“ habe ich das Scheitern der Schröder’schen Reformen dokumentiert. Nach meiner Analyse wollte er mit seinem Neuwahlbegehren dieses Scheitern überlagern. Ich nenne das deshalb einen Befreiungsschlag, auch für die gescheiterte neoliberale Ideologie. Hier ein Auszug aus Machtwahn:

Schröders Befreiungsschlag

Auszug aus „Machtwahn“, Seite 45 ff.,

Bundeskanzler Gerhard Schröder und sein Parteivorsitzender Franz Müntefering sahen ihre Felle davonschwimmen. Sie sahen das Scheitern, und sie notierten, dass auch solche Medien, die bisher für ihre Reformen zu begeistern waren, die Nase rümpften und die Reformen kritisch bilanzierten. Das Hartz-Desaster zeichnete sich ab, die Konjunktur sprang nicht an, die Haushaltslage blieb trist, mit wenig erfreulichen Aussichten für die künftigen Haushalte. Alles, was nach den Wahlen am 18. September 2005 an Wahrheiten über den Bundeshaushalt hochgespült wurde, war dem Bundeskanzler und dem SPD-Parteivorsitzenden vermutlich auch am Tag der Wahlen in Nordrhein-Westfalen, am 22. Mai 2005, bekannt. Gerhard Schröder ahnte wohl, dass er mit dieser Bilanz, mit dieser hohen Arbeitslosigkeit, mit diesem Scheitern der Reformen und diesem Schuldenberg, mit einer Partei, der die besten Leute davonlaufen, mit enttäuschten Arbeitnehmern und Gewerkschaften keine Chancen haben würde, im Jahr 2006 die Bundestagswahlen noch einmal zu gewinnen. Und Müntefering sah wohl, dass mit Schröder für seine Partei kein Staat mehr zu machen, sprich: keine Wahl mehr zu gewinnen war. Und er erkannte, dass er als Parteivorsitzender (zu Recht) maßgeblich mitverantwortlich gemacht würde für das sich abzeichnende Desaster.6

Die beiden haben clever reagiert, geradezu meisterhaft. Mit ihrer Forderung nach Neuwahlen löschten sie die Debatte um das Scheitern ihrer Reformpolitik mit einem Schlag aus, und fast niemand redete mehr vom Verlust der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen vom 22. Mai 2005. Als Schröder schon alles zu entgleiten drohte, hatte der Medienkanzler das Heft wieder in der Hand.

Die Medien bewunderten Schröder und Müntefering für den Coup vom 22. Mai. »Alle Achtung«, hieß es. Die SPD habe mit einem Überraschungscoup das Gesetz des Handelns wieder an sich gerissen. Schröder wurde als Spieler bewundert, und Müntefering bescheinigte man einen strategischen Erfolg. Welchen viel größeren Coup der Kanzler mit seinem Neuwahlbegehren landete, das haben die professionellen Beobachter nicht gemerkt: Er hat in der breiten Öffentlichkeit, bei den Eliten und in seiner Partei vergessen gemacht, dass er als Reformkanzler gescheitert ist und dass während seiner Zeit als Regierungschef sieben so­zialdemokratische Ministerpräsidenten abgewählt wurden – sie mussten damit vor allem für Schröders Politik in Berlin büßen. Schleswig-Holstein, Hamburg, Sachsen-Anhalt, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Saarland und Hessen – in allen diesen Ländern wurde seit Regierungsantritt von Gerhard Schröder der sozialdemo­kratische Ministerpräsident gekippt. Die Bundesratsmehrheit der Union ist schließlich nicht vom Himmel gefallen. In Schröders Zeit wurden reihenweise Kommunalwahlen verloren. Tausende von Schröders Parteifreunden und -freundinnen haben in dieser Zeit ihre Mandate eingebüßt. Städte, die jahre- und jahrzehntelang von Sozialdemokraten geführt worden waren, fielen an die Union. Typisch dafür ist Nordrhein-Westfalen, wo die besonderen Begabungen von Gerhard Schröder und Wolfgang Clement sich ergänzten – und zu einem grandiosen Inferno der Genos­sinnen und Genossen an Rhein und Ruhr führten: Köln, Essen, Duisburg, Wuppertal, und so weiter, und so weiter …

Die Neuwahlentscheidung hat Schröders und Münteferings Verantwortung für diesen Niedergang genauso überlagert und weggewischt wie ihre Verantwortung für den Aderlass der SPD, die in der Zeit von Gerhard Schröders Kanzlerschaft über 180 000 ihrer einstmals 775 000 Mitglieder verloren hat, also rund ein Viertel.

In dieser Situation Neuwahlen zu verlangen – das war ein toller Coup.

Gerhard Schröder ging unter Ovationen und als Sieger vom Platz. Und die meisten Modernisierer in der SPD sind geblieben, sie haben sich voll eingenistet in den wichtigen Funktionen, die es auch in einer großen Koalition zu verteilen gibt. Die Linke, die sich im Kommen wähnte, ist entmachtet. Andrea Nahles wurde nicht Generalsekretärin, obwohl sich der SPD-Vorstand mehrheitlich für sie ausgesprochen hatte. Wolfgang Thierse ist nicht mehr Bundestagspräsident.

Was hat Schröders Befreiungsschlag uns gebracht?

An der Art und Weise, wie die vorgezogenen Neuwahlen durchgesetzt wurden, wird die Motivation der politischen Eliten sichtbar: Sie wollen als Person und Politiker überleben. Das verlangt vor allem, bei den Medien zu bestehen. Daneben ist die Frage, was dem Wohl des Volkes dient, zweitrangig.
Wenn letztere Frage von Bedeutung gewesen wäre, hätten Schröder und Müntefering zu einem anderen Schluss kommen müssen: Die Reformpolitik hat die wirtschaftliche Belebung und auch die finanzielle Stabilisierung des Haushalts und der sozialen Sicherungssysteme nicht gebracht, also haben wir uns im Wirkungszusammenhang getäuscht, also müssen wir vielleicht doch auf jene Fachleute hören, die uns eine Kurskorrektur in der Wirtschaftspolitik anraten.
An das Wohl unseres Landes haben die beiden jedoch nicht gedacht. Das gilt übrigens auch für Politiker anderer Parteien: Wenn beispielsweise Bundeskanzlerin Merkel Ende Januar 2006 auf der Sicherheitskonferenz in München den Konflikt mit dem Iran bis hin zur Kriegsbereitschaftserklärung verschärft, dann zielt sie vor allem auf das Medienecho.

Die Modernisierer dagegen sind personell etabliert: Franz Müntefering, in dessen Wirkungszeit als SPD-Vorsitzender, als Generalsekretär und Fraktionsvorsitzender der Niedergang ebenso fällt wie in die Zeit von Schröders Kanzlerschaft, ist Vizekanzler, so mächtig wie nie zuvor und ohne Verantwortung in seiner Partei. Damit ist Müntefering ein noch größerer Gewinner des Coups vom 22. Mai 2005 als Schröder selbst. Der Wahlverlierer von Nordrhein-Westfalen, Peer Steinbrück, ist mächtiger Finanzminister, weil er im neoliberalen Trend liegt und trotz Wahlniederlage systematisch »hochgeschrieben« wurde, sogar zum potentiellen Vizekanzler; der Wahlverlierer von Niedersachsen, Sigmar Gabriel, ist ebenfalls im Kabinett, er verdankt sein Comeback vermutlich der »Fähigkeit«, unentwegt zu Talkshows eingeladen zu werden; und Generalsekretär ist Hubertus Heil, ein Angehöriger der sogenannten Netzwerker in der Partei, die sich selbst als jung und unideologisch verstehen, als weder rechts noch links. Personell wie sachlich ist die SPD damit als ausgewiesen soziale und demokratische linke Partei abgetreten.

Ein toller Vorgang!

Wie und an wen die SPD-Ministerposten in der neuen Bundes­regierung und die Positionen in der neuen Führungsspitze der Partei vergeben wurden, das interessiert hier nicht wegen der parteipolitischen Entwicklung der SPD, es interessiert, weil daran sichtbar wird, dass personalpolitische Entscheidungen in wichtigen Positionen, also die Auswahl von Parteieliten, nicht mehr in der inneren Willensbildung und vor allem nicht nach Leistungsgesichtspunkten fallen, sondern ganz wesentlich medial vorgeprägt sind. Peer Steinbrück, Sigmar Gabriel, Hubertus Heil – diese Personen gehören allesamt zu Gruppierungen, die in den neoliberal ausgerichteten Medien Beifall finden. Nach diesem Kriterium scheinen die Kader von den Parteien ausgewählt zu werden, nicht nach Qualität, nicht nach sachlichem Profil. Nicht einmal nach Leistung. Die innere Willensbildung ist zumindest in der SPD und bei den Grünen weitgehend fremdbestimmt. Auch die 99-Prozent-Wahl des neuen SPD-Vorsitzenden Platzeck war wesentlich medial und nicht vom Leistungsnachweis geprägt. Das daraus folgende Wunder wird die SPD noch erleben.

Unter normalen Umständen hätte man mit diesen verantwortlichen Personen abrechnen müssen. Statt dessen haben sie steil Karriere gemacht.

Gerhard Schröder brachte seine Leute im neuen Kabinett und im SPD-Vorstand unter, er wurde Mitglied der Koalitionsverhandlungskommission, redete ein gewichtiges Wort mit und ging dann als Sieger vom Platz – ein fantastisches Beispiel einer breitangelegten und erfolgreichen Gehirnwäsche. Und wie sich bei solchen Manipulationsvorgängen immer wieder zeigt: Die Eliten sind mindestens so beeinflussbar wie das Volk. Auch im sogenannten kritischen Bürgertum waren nur wenige anzutreffen, die den Vorgang durchschauten. Günter Grass zum Beispiel ist der Faszination von Schröders Spiel voll erlegen. Er – sozu­sagen oberster Repräsentant jener Gruppe, die man kritisches Bürgertum nennen könnte – hat noch nach der Wahl Gerhard Schröder als »politisches Talent« über den grünen Klee gelobt, er sei »ein mutiger Mann«; er müsse Kanzler bleiben, trotz Verlust von über 4 Prozentpunkten; Schröder sei der »Wunschkandidat der Bevölkerung« und müsse die »Reformen fortsetzen«.7 Das spricht für sich.

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