Wird die SPD aus Fehlern lernen? – Ein Rückblick auf die Große Koalition von 2005 – 2009

Christoph Butterwegge
Ein Artikel von Christoph Butterwegge

Nach der dritten Sondierungsrunde zwischen CDU/CSU und SPD hat sich die Verhandlungsgruppe der Sozialdemokraten einstimmig entschlossen, dem SPD-Parteikonvent am Sonntag die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen vorzuschlagen. Es müsste schon ein Wunder geschehen, wenn der „kleine Parteitag“ diesem Vorschlag nicht folgen würde.
Albrecht Müller hat darauf hingewiesen, dass man mit der Feststellung, dass eine linke Koalition keine Chance habe, das Denken nicht einstellen dürfe und eine Große Koalition, wie etwa auch die von 1966 bis 1969, daran gemessen werden müsse, welche wichtigen Programmpunkte die SPD zusätzlich zum Mindestlohn vor allem auf dem Gebiet der Sozial- und Steuerpolitik in einem Koalitionsvertrag verankern kann.
Der Parteikonvent am Wochenende und danach die Mitglieder der SPD bei ihrem Votum über den ausgehandelten Koalitionsvertrag müssten eigentlich aus den ausgesprochen negativen Erfahrungen in der letzten Großen Koalition von 2005 bis 2009 gelernt haben. Sie sollten sich deshalb die Fehler, die die Sozialdemokraten damals in der Regierung gemacht und die zum Niedergang der SPD geführt haben, vor ihrer Abstimmung noch einmal in Erinnerung rufen. Der Parteikonvent müsste der SPD-Verhandlungsgruppe für die Koalitionsgespräche einen klaren Auftrag auf den Weg geben, den damaligen sozial- und steuerpolitischen Schaden wieder gut zu machen, der bis zur Bundestagswahl im September nachwirkte und wesentliche Ursache für das abermals schlechte Abschneiden der SPD war. Als Anstoß, aus gemachten Fehlern die Lehren zu ziehen, bieten wir den Delegierten und den Mitgliedern der SPD einen Rückblick auf die Regierungspolitik der letzten Großen Koalition von Christoph Butterwegge an.

Großzügig und kleinkariert
Rückblick auf die Regierungspolitik der letzten CDU/CSU/SPD-Koalition (2005-2009)
Von Christoph Butterwegge

Nach den Sondierungsgesprächen der Unionsparteien mit den Bündnisgrünen und der SPD scheint eine Neuauflage der Großen Koalition, wie es sie zuletzt von 2005 bis 2009 gab, ins Haus zu stehen. Für die „kleinen Leute“ und den Wohlfahrtsstaat verheißt diese Konstellation nichts Gutes. Denn eine kritische Bilanz der Regierungspraxis zeigt, dass die letzte CDU/CSU/SPD-Koalition sozialpolitisch weitgehend Rückschritt bedeutete, Stagnation auf manch anderen Gebieten mit sich brachte und zur Resignation vor allem vieler junger Menschen beigetragen hat, die von ihr gesellschaftliche Veränderungen erhofften. Erinnert sei nur an die Erhöhung des Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre, die Föderalismusreform und die Verankerung der „Schuldenbremse“ im Grundgesetz.

„Nachbesserungen“ von Hartz IV

Die am 18. November 2005 geschlossene zweite Große Koalition unter der neuen Bundeskanzlerin Angela Merkel knüpfte fast bruchlos an die „Agenda“-Politik ihrer rot-grünen Amtsvorgängerin unter Gerhard Schröder an. Das als „Hartz IV“ bekannt gewordene Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt wurde durch zwei SGB-II-Änderungsgesetze und das Hartz-IV-Fortentwicklungsgesetz noch verschärft. Zwar gab es auch einzelne Verbesserungen für Langzeitarbeitslose (z.B. die Angleichung der Regelsätze in Ost- und Westdeutschland), primär bezweckten die „Korrekturen“ an der rot-grünen Arbeitsmarktreform jedoch eine Kürzung des Leistungsumfangs und eine Ausweitung der Kontrollmaßnahmen.

So wurden Heranwachsende und junge Erwachsene, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, zur Bedarfsgemeinschaft ihrer Eltern gerechnet und der Regelsatzbedarf für sie vom 1. April 2006 an auf 80 Prozent reduziert. Wenn die jungen Menschen einen eigenen Hausstand gründen wollen, müssen sie nunmehr vorher die Zustimmung des kommunalen Leistungsträgers einholen. Ziehen sie ohne dessen Einwilligung bei ihren Eltern aus, erhalten sie bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres gleichfalls nur 80 Prozent der Regelleistung. Heranwachsende und junge Erwachsene wieder in der Abhängigkeit von ihren Eltern zu belassen und ihnen per Mittelentzug die Möglichkeit der Gründung eines eigenen Hausstandes zu nehmen, ist einer so wohlhabenden und hoch individualisierten Gesellschaft, die im Zeichen der Globalisierung berufliche Flexibilität und geografische Mobilität von ihren Mitgliedern verlangt, unwürdig.

Bei eheähnlichen Gemeinschaften wurde die Beweislast umgekehrt: Musste vorher der Leistungsträger nachweisen, dass eine solche bestand, wenn der Antragsteller und eine weitere Person länger als zwölf Monate in einer Wohnung zusammen lebten, muss dieser seither im Zweifelsfall den Verdacht widerlegen, dass es sich bei ihm und dem Mitbewohner bzw. der Mitbewohnerin um eine Bedarfsgemeinschaft handelt. Flächendeckend prüft ein Außendienst, ob die Anspruchsvoraussetzungen gegeben sind, um Missbrauch vorbeugen oder begegnen. Zum selben Zweck kann die Agentur für Arbeit nunmehr Daten aus dem Kraftfahrzeugbundesamt, dem Melderegister und dem Ausländerzentralregister abrufen.

Erstantragstellern soll ein Job oder eine Fortbildung angeboten werden, um ihre Arbeitswilligkeit zu testen. Dabei stand die Abschreckungswirkung solcher Maßnahmen und nicht etwa das Bemühen im Vordergrund, den Betreffenden eine sinnvolle Arbeitsstelle zu verschaffen. Lehnt ein Antragsteller das Angebot ab oder verletzt er drei Mal seine Mitwirkungspflicht während eines Jahres, droht ihm seit dem 1. Januar 2007 ein vollständiger Leistungsentzug. Bei Personen unter 25 Jahren erstreckt sich diese Sanktion im Fall einer wiederholten Pflichtverletzung sogar auf die Kosten von Unterkunft und Heizung. Während sich dadurch die Jugendarmut erhöht haben dürfte, vermehrte eine andere Neuregelung die materielle Not von länger Erwerbslosen im Alter: Der für Alg-II-Empfänger abzuführende Rentenversicherungsbeitrag sank von 78 auf 40 Euro pro Monat, was pro Jahr der Arbeitslosigkeit eine bloß noch um 2,09 Euro höhere Altersrente ergab.

Entsendegesetz und Mindestarbeitsbedingungsgesetz statt Mindestlohn

Um das durch die sog. Hartz-Gesetze erleichterte Lohndumping einzudämmen, wurde der Geltungsbereich des bisher vor allem in der Bauindustrie wirksamen Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf die Gebäudereinigungsbranche ausgedehnt. Dagegen lehnten CDU und CSU die Einbeziehung des perspektivisch weitaus wichtigeren Zeitarbeitssektors ab. Nach zähem Ringen mit der Union, privaten Postdienstleistern wie TNT oder PIN AG und daran beteiligten Zeitungsverlegern wie der Axel Springer AG gelang es der SPD im Dezember 2007 zwar, einen Mindestlohn für Briefzusteller/innen durchzusetzen. Der von Bundesarbeitsminister Müntefering und seinem Amtsnachfolger Olaf Scholz im zähen Ringen mit dem Koalitionspartner eingeschlagene Weg, nach entsprechenden Novellierungen über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz und das früher nie angewendete Mindestarbeitsbedingungsgesetz für immer mehr Branchen sukzessive Lohnuntergrenzen festzulegen, ist aufgrund der geringen Nachfrage auf der Arbeitgeberseite jedoch als gescheitert anzusehen. Bis zum Ende der von CDU, CSU und SPD vereinbarten Meldefrist (31. März 2008) hatten nur der Zeit- bzw. Leiharbeitssektor, das Wach- und Sicherheitsgewerbe sowie einige Nischenbranchen, aber nicht – wie von der SPD erhofft – Branchen wie der Einzelhandel, die Gastronomie und die Landwirtschaft ihr Interesse an der Aufnahme ins Entsendegesetz bekundet.

Die ausgesprochen wichtige Zeit- bzw. Leiharbeit wurde nicht in das Entsendegesetz aufgenommen, weil sich die Union sogar weigerte, den niedrigsten, von einer „christlichen Gewerkschaft“ ausgehandelten Tariflohn der Branche für allgemein verbindlich zu erklären. Stattdessen sollte eine Lohnuntergrenze für Leiharbeiter/innen im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz verhindern, dass deren Löhne zu stark von den Tariflöhnen der Stammbelegschaften abweichen. Für diesen Kompromiss mit der Union verzichtete die SPD im Januar 2009 bei den Verhandlungen über das „Konjunkturpaket II“ auf eine zunächst von ihr geforderte Erhöhung der „Reichensteuer“, die eigentlich mit zu dessen Finanzierung beitragen sollte.

Reichtum per Gesetz

Reichtumsmehrung statt Armutsverringerung – so lautete das heimliche Regierungsprogramm der Großen Koalition, dessen Durchsetzung besonders die CSU – aus der Opposition durch die FDP angefeuert – ständig forcierte, während die SPD zögerte und zauderte, aber letztlich immer zustimmte, wenn es um den Machterhalt ging. Obwohl ein Bündnis der großen „Volksparteien“ seiner ganzen Konstruktion wie der unterschiedlichen programmatischen Tradition aller Beteiligten nach den Eindruck vermittelt, als ob sämtliche Bevölkerungsschichten mit ihren spezifischen Interessen angemessen repräsentiert seien, folgte die Regierungspolitik von CDU, CSU und SPD dem Matthäus-Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben, und wer nicht viel hat, dem wird auch das noch genommen.

Steuerliche Entlastung von Kapitaleigentümern

Der damalige Bundesfinanzminister und spätere SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück stach gleichfalls durch die steuerliche Entlastung von Kapitaleigentümern und Spitzenverdienern hervor. Durch die Senkung des Körperschaftsteuersatzes auf 15 Prozent ab 1. Januar 2008 entließen CDU, CSU und SPD große Unternehmen weitgehend aus ihrer Verantwortung für die Finanzierung des Gemeinwesens. Dass dieser Satz am Ende der „Ära Kohl“ noch 53 Prozent betragen hatte, ist ein Beleg dafür, wie sehr die Kapitalgesellschaften trotz steigender Gewinne entlastet wurden.

War die schwarz-rote Koalition schon mit dem im Oktober 2008 geschnürten Paket zur Rettung maroder Banken gegenüber Kapitaleignern, Brokern und Börsianern ausgesprochen großzügig, so ergoss sich ausgerechnet über den reichsten Familien unseres Landes ein weiterer Geldsegen. Seit dem 1. Januar 2009 werden Einkommen aus Vermögen und Kapitalerträge (Zinsen, Dividenden und Veräußerungsgewinne, die früher nach einer 12-monatigen Spekulationsfrist steuerfrei blieben) gegenüber anderen Einkunftsarten privilegiert, d.h. Rentiers niedriger als Arbeitnehmer/innen besteuert. Zum genannten Zeitpunkt trat an die Stelle der Zinsabschlag- eine pauschale Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge in Höhe von 25 Prozent, die vornehmlich denjenigen zu Gute kommt, die den Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer zahlen müssen, während Kleinanleger/innen dadurch (zunächst) sogar stärker belastet werden können, und trotz Verbreiterung der Bemessungsgrundlage zu Steuerausfällen geführt hat. Steinbrück begründete diese Maßnahme mit einem flotten Spruch: „25 Prozent von X sind mir lieber als 42 Prozent von nix.“ Dabei zahlt der nach Luxemburg, Liechtenstein oder in die Schweiz entwichene Steuerflüchtling nach wie vor nix, aber wer damals 42 Prozent von X bezahlte, entrichtet heute bloß noch 25 Prozent von X, was die Handlungsfähigkeit des Staates weiter beschränkt und seine Möglichkeit beschneidet, soziale Probleme zu lösen.

Steuergeschenke an die Erben

Kurz vor dem Jahreswechsel 2008/09 verabschiedete die Große Koalition mit ihrer Mehrheit in Bundestag und -rat nach jahrelangem Tauziehen eine Erbschaftsteuerreform, die einen verteilungspolitischen Skandal ersten Ranges darstellte, weil sie besonders Wohlhabende, Reiche und Superreiche begünstigte. Nunmehr wurde Witwen und Waisen von Familienunternehmern die betriebliche Erbschaftsteuer vollständig erlassen, sofern sie die Firma zehn Jahre, und zu 85 Prozent, wenn sie das Unternehmen sieben Jahre lang fortführten und die Lohnsumme insgesamt mindestens zehn bzw. 6,5 Mal so hoch wie im letzten Tätigkeitsjahr des Erblassers war. Selbst größere Entlassungswellen waren aufgrund allgemeiner Preissteigerungsraten und darauf basierender Tariflohnerhöhungen möglich, ohne dass der Erbe von Betriebsvermögen sein Privileg gegenüber den Erben anderer Sachwerte und von Geldvermögen verlor.

Man begründete dieses Steuergeschenk mit der Gefahr, dass der Sohn eines Handwerksmeisters den vom Vater geerbten Betrieb womöglich aufgrund finanzieller Überforderung schließen und seine Mitarbeiter entlassen müsse. Dies dürfte in Wahrheit kaum vorgekommen sein, weil schon lange ein Freibetrag in Höhe von 225.000 Euro existierte, ein zusätzlicher Bewertungsabschlag von 35 Prozent des Betriebsvermögens die Steuerschuld ohnehin reduziert hatte und das Finanzamt diese bisher zehn Jahre lang stunden konnte, um Härten im Einzelfall abzufedern. Ehepartner/innen, die eine selbst genutzte Luxusimmobilie erben und sie zehn weitere Jahre bewohnen, blieben künftig von der Erbschaftsteuer ganz verschont, genauso wie Kinder, sofern die Wohnfläche 200 qm nicht überschreitet und sie für zehn Jahre dort ihren Hauptwohnsitz einrichten.

Damit wurde die zuletzt in der Bundesrepublik überaus deutlich feststellbare Spaltung in Arm und Reich nicht bloß zementiert, sondern auch verschärft. In kaum einem westlichen Industriestaat ist die Erbschaftsteuer so niedrig und das Finanzaufkommen daraus so gering wie hierzulande (ca. 4 Mrd. Euro pro Jahr). Auch im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit versprach das Steuergeschenk der Großen Koalition keinen Erfolg, denn wieso sollten Familienunternehmer fähiger sein als potenzielle Käufer oder von diesen beauftragte Manager? Mitnahmeeffekte sind dagegen kaum zu vermeiden. Konsequenter war der frühere US-Präsident George W. Bush, der die Erbschaftsteuer in seinem Land ganz abschaffen wollte. Selbst ein Neoliberaler hat aber Schwierigkeiten, diesen Schritt zu rechtfertigen: Zwar soll sich Leistung (wieder) lohnen, ist es jedoch eine Leistung, der Sohn bzw. die Tochter eines Multimillionärs oder Milliardärs zu sein?

Anhebung der Mehrwert- und Versicherungssteuer für die Masse der Menschen

Während die zweite Große Koalition deutschen Unternehmerdynastien wie Burda, Oetker oder Quandt/Klatten (BMW) Steuergeschenke in Milliardenhöhe machte, bat sie Geringverdiener/innen samt ihrem Nachwuchs stärker als vorher zur Kasse: Die Anhebung der Mehrwert- und Versicherungssteuer von 16 auf 19 Prozent zum 1. Januar 2007 trifft bis heute besonders jene Familien hart, die praktisch ihr gesamtes Einkommen in den Konsum stecken (müssen). Angela Merkel war selbst aus konjunkturpolitischen Gründen nicht bereit, die Mehrwertsteuer – der britischen Regierung folgend – zu senken.

Familienpolitik nach dem Matthäus-Prinzip

Mit der besseren steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten und dem Elterngeld bot die Familienpolitik der Großen Koalition zwei Beispiele für die Geltung des Matthäus-Prinzips. Während sozial benachteiligte Familien, die aufgrund ihres fehlenden oder zu geringen Einkommens keine Steuern zahlen, gar nicht erst in den Genuss der ersten, bezeichnenderweise im Gesetz zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung enthaltenen Maßnahme kommen, profitieren Besserverdienende, die sich eine Tagesmutter oder Kinderfrau leisten und zwei Drittel der Aufwendungen hierfür bis zu 4.000 Euro steuerlich absetzen können, überdurchschnittlich davon.

Elterngeld statt Erziehungsgeld ein sozialpolitisches Paradox

Das zum 1. Januar 2007 an die Stelle des Erziehungsgeldes getretene Elterngeld ist ein sozialpolitisches Paradox, weil man damit jene Anspruchsberechtigten am meisten subventionierte, die es am wenigsten nötig haben. Obwohl es zunächst nicht – wie von der CSU verlangt – auf die Sozialhilfe bzw. das Arbeitslosengeld II angerechnet wurde, hatten Transferleistungsempfänger/innen (darunter viele Frauen), die Kinder erziehen, vom Elterngeld ausschließlich Nachteile. Bisher erhielten Sozialhilfebezieher/innen, Arbeitslose und Studierende das Erziehungsgeld in Höhe von 300 Euro pro Monat zwei Jahre (oder als „Budget“ in Höhe von 450 Euro ein Jahr) lang; Elterngeld gibt es dagegen bloß für ein Jahr und sein Sockelbetrag, mit dem sie auskommen müssen, liegt gleichfalls bei 300 Euro (oder bei 150 Euro, wenn er zwei Jahre lang gezahlt wird). Erwerbstätige Paare erhalten im Falle der Teilung von Erziehungsarbeit unter bestimmten Voraussetzungen zwei (Partner-)Monate zusätzlich; im Unterschied zum Erziehungsgeld wird ihnen das Elterngeld als Lohnersatz gezahlt und erst bei 1.800 Euro pro Monat gedeckelt. Mithin erhalten Gutbetuchte auf Kosten von schlechter Gestellten mehr (Eltern-)Geld, das hoch qualifizierte, gut verdienende Frauen motivieren soll, (häufiger) ein Kind zu bekommen und anschließend möglichst schnell wieder in den Beruf zurückzukehren.

Schulbedarfspaket statt Kindergeld für Hartz-IV-Bezieher/innen

Weniger großzügig zeigten sich CDU, CSU und SPD gegenüber den Armen: Als die Koalition rechtzeitig vor dem Jahreswechsel beschloss, ab dem 1. Januar 2009 das Kindergeld für das erste und zweite Kind um 10 Euro und ab dem dritten Kind um 16 Euro pro Monat zu erhöhen, einigte man sich auf Initiative der SPD gleichzeitig darauf, für die Kinder von Hartz-IV-Bezieher(inne)n, die nicht in den Genuss des höheren Kindergeldes kommen, weil es voll auf ihre Transferleistung angerechnet wird, ein „Schulbedarfspaket“ in Höhe von 100 Euro pro Schuljahr zu schnüren. Es sollte nach dem zum Jahresbeginn 2009 in Kraft getretenen Familienleistungsgesetz allerdings nur bis zur 10. Klasse gewährt werden. CDU und CSU hatten auf dieser Begrenzung bestanden, weil die SPD ihrem Wunsch nach Steuerprivilegien für Eltern, deren Kinder auf Privatschulen gehen, nicht entsprach. Die öffentliche Kritik an der beschlossenen Regelung blieb nicht aus, schien es doch geradezu so, als wollte die Große Koalition damit unterstreichen, dass die Kinder aus sozial benachteiligten Familien kein Abitur machen sollen, oder dokumentieren, dass Gymnasiasten der höheren Klassenstufen ohnehin aus Elternhäusern kommen, die keiner staatlichen Zuwendung bedürfen. Auf einer Sitzung des Koalitionsausschusses am 4./5. März 2009 verständigten sich CDU, CSU und SPD schließlich darauf, den Gesetzestext an diesem Punkt nachzubessern und auch Oberstufenschüler/innen und Vollzeit-Berufsschüler/innen sowie die Kinder von Geringverdiener(inne)n in den Genuss des „Schulbedarfspaketes“ kommen zu lassen, das jedoch den realen Bedarf gar nicht deckte.

Schwarz-rote Rentenpolitik: Armut im Alter vorprogrammiert

Besonders widersprüchlich fiel die Regierungspolitik von CDU, CSU und SPD im Bereich der Alterssicherung aus. Gleich zu Beginn machte die Große Koalition deutlich, dass mit Rentenerhöhungen vorläufig nicht zu rechnen sei, sondern in den nächsten Jahren mehrere „Nullrunden“ anstünden. Rentenkürzungen schloss der Koalitionsvertrag zwar für die ganze Legislaturperiode aus, er sah aber zwecks Gewährleistung der Beitragssatzstabilität die Möglichkeit, „nicht realisierte Dämpfungen von Rentenanpassungen nachzuholen“, sowie die „schrittweise, langfristige Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters“ vor.[1] Während mit dem „Nachholfaktor“ erreicht werden soll, dass Kürzungen, auf die zunächst verzichtet wurde, in Erhöhungsphasen letztlich doch noch – weniger spektakulär – wirksam werden, wollten CDU, CSU und SPD die Lebensarbeitszeit unter Hinweis auf den demografischen Wandel verlängern und 2007 die gesetzliche Grundlage für eine 2012 beginnende und für den ersten Jahrgang bis spätestens 2035 abgeschlossene Anhebung der Regelaltersgrenze von 65 auf 67 Jahre schaffen.

Rentenabschläge durch Rente mit 67

Völlig unerwartet preschte der damalige Arbeits- und Sozialminister Müntefering im Januar 2006 mit der auch seine eigene Partei überraschenden und viele Genossen, die sich gerade in Landtagswahlkämpfen befanden, verärgernden Idee vor, das gesetzliche Renteneintrittsalter schneller anzuheben, als es die sog. Rürup-Kommission empfohlen und der Koalitionsvertrag festgeschrieben hatte: Nach dem am 1. Februar 2006 auf Drängen des Vizekanzlers vom Bundeskabinett gefassten Beschluss und der entsprechenden Parlamentsentscheidung erhöht sich das Regelrentenalter im Jahr 2012 für den Geburtsjahrgang 1947 um einen und für Folgejahrgänge jedes Jahr um einen weiteren Monat, bis der Jahrgang 1958 im Alter von 66 eine abschlagsfreie Rente ab 2024 bezieht; für die Folgejahrgänge beschleunigt sich die Anhebung der Altersgrenze um jeweils zwei Monate pro Jahr, bis der Jahrgang 1964 dann 2031 erst mit 67 in Rente gehen kann. Angesichts der Tatsache, dass nicht einmal 30 Prozent der Menschen im Alter von 60 bis 64 Jahren sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, führt diese „Reform“ zu weiteren Rentenkürzungen, zwingt sie doch noch mehr Beschäftigte, vor Erreichen der Regelaltersgrenze – und das heißt: mit entsprechenden Abschlägen – in den Ruhestand zu gehen.

Da es weder genügend Stellen für ältere Arbeitnehmer/innen noch Maßnahmen der Gesundheitsförderung und der beruflichen Weiterbildung gibt, die eine Annäherung des faktischen Renteneintrittsalters an die bisherige Regelaltersgrenze von 65 erlauben würden, bedeutet die Rente mit 67 deren Kürzung. Dass die künftigen Altersrenten dürftiger ausfallen, hängt auch mit dem Beschluss der zweiten Großen Koalition zusammen, die abgabenfreie Entgeltumwandlung als Dauerregelung beizubehalten. Die rot-grüne Bundesregierung hatte den Versicherten zunächst bis zum Jahr 2008 befristet das Recht eingeräumt, Teile ihres Lohns in – ausschließlich von den Beschäftigten finanzierte – Ansprüche auf betriebliche Altersrenten umzuwandeln, ohne dass für diese Lohnanteile Steuern und Sozialabgaben anfielen. Davon profitieren die Arbeitgeber, während die Einnahmenbasis der Rentenversicherungsträger unterminiert und der Leistungsanspruch aller Versicherten reduziert wird.

Aussetzung, aber keine Abschaffung des „Riester-Faktors“

Zuletzt war die Koalition um Schadensbegrenzung im Hinblick auf die Folgen ihrer eigenen Rentenpolitik bemüht: Durch die Aussetzung des sog. Riester-Faktors für zwei Jahre wurde erreicht, dass die Renten am 1. Juli 2008 stärker als geplant und am 1. Juli 2009 (weniger als drei Monate vor der Bundestagswahl) so stark wie schon lange nicht mehr stiegen. Kurz vor dem Ende der Legislaturperiode verabschiedete man auf Betreiben von Arbeits- und Sozialminister Scholz eine sog. Rentenschutzklausel, die im Falle (z.B. wegen starker Inanspruchnahme von Kurzarbeitergeld, dessen Höchstbezugsdauer die Koalition vorher auf 24 Monate verlängert hatte) sinkender Bruttolöhne zumindest eine nominale Kürzung der Altersrenten ausschließen soll, denn Preiserhöhungen führen ohnehin zu einem spürbaren Kaufkraftverlust. Zwei namhafte Koalitionspolitiker, der damalige Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) und der damalige Wirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), kritisierten die von ihnen mit beschlossene Rentengarantie unmittelbar nach deren gesetzlicher Verankerung als übermäßige Belastung nachwachsender Generationen, obwohl die Kürzung der Altersrenten zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt würde.

Große Koalition für eine „Agenda 2020“?

Die neue Bundesregierung wird höchstwahrscheinlich ebenfalls der Versuchung erliegen, Wahlversprechen zu brechen und Kürzungen im Sozialbereich vorzunehmen, wo die Lobbymacht der Betroffenen gering ist. Wenn nicht alles täuscht, stehen wir am Vorabend einer „Agenda 2020“, die den Bismarck’schen Sozial(versicherungs)staat in einen bloßen Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaat verwandeln kann. Die staatliche Unterstützung wird sich noch stärker auf die „wirklich Bedürftigen“ konzentrieren, auf die Gewährleistung des Existenzminimums beschränken und auf eine „Gegenleistung“ ihrer Nutznießer dringen. Dass sich der Sozialstaat darauf beschränkt, das Verhungern seiner Bürger/innen zu verhindern, dürfte allerdings weder im Sinne des Grundgesetzes noch in einer so wohlhabenden Gesellschaft wie unserer ethisch verantwortbar sein.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Am 24. Oktober 2013 erscheint von ihm: „Wohlfahrtsstaat am Scheideweg. Wohin steuert die neue Koalition?“ als Campus-Keynote-Text (erhältlich über campus.de, amazon.de, iTunes und überall, wo es E-Books gibt)


[«1] Siehe CDU Deutschlands/CSU Landesleitung/SPD Deutschlands (Hrsg.), Gemeinsam für Deutschland. Mit Mut und Menschlichkeit. Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD, Rheinbach o.J., S. 96

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