Die Manipulation des Monats: Atypische Beschäftigung drängt normale Arbeitsverhältnisse nicht zurück?

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Wie die Bertelsmann Stiftung mit Hilfe des „Instituts zur Zukunft der Arbeit“ (IZA) die Öffentlichkeit mal wieder über die Auswirkungen der Agenda-„Reformen“ an der Nase herumführen und die Leitmedien willige Erfüllungsgehilfen sind.
Selbst die traurigen Befunde eines neoliberalen Think-Tanks werden in Jubelmeldungen umgedeutet. Statt „Atypische Beschäftigung drängt normale Arbeitsverhältnisse nicht zurück“ müsste es nämlich heißen: Atypische Beschäftigung steigt erheblich schneller als Normalarbeitsverhältnisse. Oder: Jede/r Vierte ist inzwischen atypisch beschäftigt und jede/r Fünfte Vollbeschäftigte arbeitet für einen Lohn an der Armutsgrenze. Berichte über solche Tatsachen finden sich in unseren Medien so gut wie gar nicht. Von Wolfgang Lieb.

Einer der unangenehmsten Vorwürfe an die Verteidiger der Hartz-Gesetze und an die Vertreter der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes ist, dass durch diese Arbeitsmarkt-„Reformen“ zwar die Quantität der Erwerbstätigen vielleicht etwas zugenommen hat, die Qualität der Arbeit jedoch dramatisch abgenommen hat.

Der Vorwurf, der den Agenda-Verfechtern weh tut, lautet anders gesagt: Dass die „Agenda 2010“ kaum zusätzliche Beschäftigung gebracht hat, sondern dadurch stattdessen bestehende, sozial abgesicherte und ordentlich entlohnte Vollzeitarbeitsplätze durch Teilzeitarbeit und unsichere, niedrigentlohnte Jobs verdrängt wurden.

Deshalb gibt es in letzter Zeit ständig Jubelmeldungen der Bundesagentur für Arbeit, dass die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze „Rekordhöhen“ erreiche und die Think-Tanks des Neoliberalismus unternehmen jeden nur erdenklichen statistischen Klimmzug, um zu belegen, dass „atypische“ Beschäftigung die Normalarbeitsverhältnisse nicht zurückdränge.

So hat dieser Tage mal wieder die Bertelsmann Stiftung, die auf die Vorbereitung und Begleitung der Hartz-Gesetze wesentlichen Einfluss genommen hat (Siehe: War die Hartz-Reform auch ein Bertelsmann Projekt? und “Die Ghostwriter der Hartz-Kommission” [PDF – 35.3 KB]. Von Helga Spindler), versucht, die Arbeitsmarkt-„Reformen“ als Erfolgsgeschichte darzustellen.

Um nicht in den Verdacht zu geraten, ihr vorausgegangenes Tun selbst zu verteidigen, hat die Stiftung – was sie sonst recht selten tut – eine Studie in Auftrag gegeben – und zwar an das von der Deutschen Post gesponserte IZA. Dieses des „Institut zur Zukunft der Arbeit“ hat nun eine Auftragsstudie für die Bertelsmann Stiftung unter dem Titel „Flexible Arbeitswelten“ vorgelegt [PDF – 934 KB]. Und die Bertelsmann Stiftung hat die Ergebnisse dieser Tage der Öffentlichkeit vorgestellt.

Das erwünschte Ergebnis wurde in folgende Schlagzeile gefasst:

Atypische Beschäftigung drängt normale Arbeitsverhältnisse nicht zurück

Unsere „Qualitätsmedien“ griffen diese Botschaft begeistert auf:
Ein echtes Wunder“ titelt „Die Welt“. „Mehr Arbeit“ frohlockt die Süddeutsche Zeitung. „Flexible Arbeitsverhältnisse führen zu Beschäftigungsrekord“ jubelt wallstreet:online. „Mehr ‘normale’ Stellen trotz Minijobs und Leiharbeit“ wählte die FAZ als Überschrift und ließ die Gelegenheit nicht aus, geleichzeitig vor neuen Regulierungen des Arbeitsmarktes durch den Mindestlohn zu warnen.

Bei soviel Jubel lohnt es sich, die Pressemitteilung einmal genauer zu lesen. Dort heißt es:

„Der Zuwachs an Beschäftigung während der vergangenen zehn Jahre in Deutschland ist wesentlich der Zunahme an flexiblen Arbeitsverhältnissen zu verdanken. 2003 arbeitete nicht einmal jeder fünfte Erwerbsfähige (19 Prozent) in einem so genannten atypischen Beschäftigungsverhältnis – also in Teilzeit, befristet, als Leiharbeiter oder in einem Mini-Job. Inzwischen haben 24 Prozent aller Erwerbsfähigen einen solchen Job. Diese Entwicklung ging allerdings laut einer Studie des „Instituts zur Zukunft der Arbeit IZA“ im Auftrag der Bertelsmann Stiftung nicht zu Lasten der stabilen Arbeitsverhältnisse, im Gegenteil: Im selben Zeitraum stieg der Anteil der Erwerbsfähigen, die in eine klassische unbefristete Vollzeitstelle bekleiden, von 39 auf 41 Prozent.
Die Autoren sprechen angesichts der Umwälzungen auf dem Arbeitsmarkt mit zunehmenden Anforderungen an die Flexibilität der Arbeitnehmer von einer „erstaunlichen Stabilität der so genannten Normalarbeitsverhältnisse“, die sowohl im industriellen Sektor als auch in vielen Dienstleistungsberufen feststellbar sei.“

Den erhobenen Fakten in der Studie gemäß hätte die Überschrift korrekter lauten müssen:

Atypische Beschäftigung steigt erheblich schneller als normale Arbeitsverhältnisse.

Oder:

Jede/r Vierte ist inzwischen atypisch beschäftigt

Während vor gut 10 Jahren nicht einmal jede/r fünfte Erwerbstätige atypisch, also in Teilzeitarbeit und unsicheren, niedrigentlohnten Jobs beschäftigt war, war es 2013 nahezu jede/r Vierte. Zwar hat angesichts einer mäßig ansteigenden Konjunktur auch der Anteil der Erwerbstätigen auf unbefristeten Vollzeitstellen statistisch um 2 Prozent zugenommen, aber die atypische Beschäftigung eben um 5 Prozent.

Im Übrigen sagt der Begriff Vollzeitstelle noch nichts über die Qualität der Arbeit und schon gar nichts über die Höhe des Lohnes aus. Der Arbeitsmarktforscher Gerhard Bosch hat festgestellt „Dass sich prekäre Arbeit, also Beschäftigung deutlich unter den üblichen sozialen Standards, nicht mehr auf atypische Beschäftigungsformen beschränkt, sondern tief ins Normalarbeitsverhältnis eingedrungen ist“ (Gerhard Bosch „Prekäre Beschäftigung und Neuordnung am Arbeitsmarkt“ [PDF – 2.4 MB]).

Diesen Sachverhalt musste am gleichen Tag, als Bertelsmann mit seiner Erfolgsmeldung an die Öffentlichkeit ging, auch die Bundesagentur für Arbeit auf eine Anfrage der Linkspartei einräumen: Nämlich dass Rund 4,1 Millionen Beschäftigte weniger als 1926 Euro brutto im Monat verdienen und rund jeder Fünfte der knapp 20 Millionen Vollbeschäftigten bundesweit damit nur knapp über der Armutsgrenze liegt.

Das Presseecho auf diese eher ernüchternde Antwort der Bundesagentur hielt sich stark in Grenzen – schließlich gab es an diesen Auswirkungen der „Flexibilisierung des Arbeitsmarktes“ nicht so viel zu bejubeln.

Doch beschäftigen wir uns noch einmal ein wenig mit der Bertelsmann Auftragsstudie:

Wenn das IZA behauptet es gebe keine Substitution von „guter“ durch atypische Arbeit, weil alle Beschäftigungsformen gewachsen seien, so ist das alles andere als überzeugend. Mit erhebliche größerer Plausibilität ließe sich sagen: Gäbe es nicht die Fluchtmöglichkeiten der Arbeitgeber in prekäre Arbeit, hätte sicherlich die „Normalarbeit“ stärker zugenommen. In zahlreichen Studien und Statistiken ist doch belegt, dass in vielen Industriebetrieben Stammbeschäftigte durch Leiharbeiter und in vielen Dienstleistungsbetrieben sozialversicherungspflichtig Beschäftigte durch Minijobber und quer durch die Wirtschaft tariflich bezahlte Beschäftigte durch Niedriglöhner (oder Werkverträge) ersetzt wurden. (Siehe auch Bosch a.a.O.)

Das IZA konstruiert einfach einen kausalen Zusammenhang zwischen einem Zuwachs an Beschäftigung und – weil es so schon die dessen Ideologie passt – der Zunahme an flexiblen Arbeitsverhältnissen. (Siehe erster Satz der zitierten Pressmitteilung oben.)
Mit gleichem Recht könnte man jedoch behaupten, dass die Normalarbeitsverhältnisse wieder zugenommen haben, weil die Reallöhne wieder etwas angestiegen sind. (Diesen Gedanken verdanke ich Steffen Lehndorff vom IAQ.)

Diese These, dass mit einer besseren Lohnentwicklung sich Deutschlands Wirtschaft viel besser entwickelt hätte, als durch die lohnsenkenden „Reformen des Arbeitsmarktes und des Sozialstaats“ hat dieser Tage das “Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung“ (IMK) nachgerechnet [PDF – 1.8 MB].

Diese Studie hat allerdings kaum ein Medienecho gefunden – entstammt sich doch einem eher arbeitnehmernahen Forschungsinstitut und nicht von wissenschaftlichen Schreibtischen der Arbeitgeber und vor allem würden die Ergebnisse dieser Studien doch die bisherige Unterstützung der Agenda-Politik durch unsere Leitmedien in Frage stellen.

Kein Mensch bestreitet, dass der Zuwachs an Beschäftigung etwas mit der Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse zu tun hat, aber leider nur in dem Sinne, dass sich die Arbeit zu niedrigeren Löhnen leichter umverteilen ließ – und Flexibilisierung nichts anderes als Umverteilen der Arbeit und vor allem der Löhne und Arbeitsbedingungen nach unten meint.

Das Arbeitsvolumen der Arbeitnehmer hat im letzten Jahr im Vergleich zum Vorjahr um 1,2% zugenommen, das ist erfreulich. Betrachtet man allerdings das Arbeitsvolumen über einen längeren Zeitverlauf, so muss man nüchtern feststellen, dass sowohl das Arbeitsvolumen aller Erwerbstätigen als auch das Arbeitsvolumen der Arbeitnehmer vom Jahr 2000 bis 2012 selbst nach Auskunft der Bundesregierung gerade einmal um 0,3 Prozent zugenommen hat [PDF – 104 KB].

Unabhängig davon, dass die Wochen-Arbeitszeit aller Beschäftigten etwas zurückgegangen sein mag, bleibt es dabei, dass – wenn man Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten getrennt betrachtet – eben die Arbeitszeit nur umverteilt worden ist (Siehe die Zeitreihe ab 1991 zum Download.)

Und die Umverteilung der Arbeitszeit erfolgte folgendermaßen: Junge Menschen, Frauen und einmal arbeitslos gewordene Männer bekamen prekäre Jobs, die älteren Beschäftigten in den exportierenden Wirtschaftssektoren konnten ihre Normaljobs einigermaßen halten und zusätzliche Arbeit ging an Zeitarbeiter, Teilzeitarbeiter oder inzwischen sogar Werkverträgler.

Und darüber hinaus arbeitet jeder Fünfte für einen Lohn an der Armutsgrenze.

Die Begeisterung über die „Flexible Arbeitswelten“ ist offenbar ziemlich einseitig auf der Arbeitgeberseite und ihrer wissenschaftlichen Mietmäuler wie Bertelsmann und IZA anzutreffen. Es ist auch keineswegs so, dass die so hoch gelobte „Flexibilität“ etwa auf Freiwilligkeit der Arbeitnehmer beruhen würde:

6,7 Millionen Menschen wollen (mehr) Arbeit und 3,3 Millionen Erwerbstätige betrachten sich als (unfreiwillig) unterbeschäftigt, davon sogar 1,5 Millionen, die in Vollzeit arbeiten. Das meldete jedenfalls das Statistische Bundesamt im Herbst letzten Jahres.

P.S.: Das arbeitgebernahe „Institut zur Zukunft der Arbeit“ hat als alleinigen Gesellschafter die Deutsche Post-Stiftung und erhält seine Grundförderung aus dieser Stiftung. Präsident des Instituts ist nach wie vor der frühere Vorstandsvorsitzende der Deutsche Post World Net und wegen Steuerhinterziehung zu einer auf Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe verurteilten Klaus Zumwinkel.

Direktor des Instituts ist Klaus F. Zimmermann, der schon mal gerne in Anzeigen für die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft posiert und für die neoliberale Gleichschaltung des DIW gesorgt hatte und dort nach diversen Skandalen zurücktreten musste.

Lobbypedia berichtet: Zimmermann vertritt arbeitgebernahe Positionen und wirkt in Organisationen der Arbeitgeber mit. Er ist Mitglied von Wissopol, dem sozialpolitischen Gesprächsforum der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA).
Weiterhin ist er Autor im ÖkonomenBlog der Arbeitgeber-Organisation Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM).

Zu den Policy Fellows des IZA gehören die INSM-Kuratoren/Botschafter Johann Eekhoff, Florian Gerster, Oswald Metzger und Thomas Straubhaar sowie der ehemalige INSM-Geschäftsführer Tasso Enzweiler. Policy Fellows sind auch Nico Fickinger vom INSM-Finanzier Gesamtmetall und Karen Horn, die als wichtige Koordinatorin neoliberaler Netzwerke fungiert.

Das IZA ist neben dem arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Dauerauftragnehmer der INSM und dessen pseudowissenschaftliches Aushängeschild. So z. B., wenn es etwa um Jubelmeldungen über die Arbeitsmarktreformen, die „Arbeitspflicht für alle Hilfeempfänger“ oder die Anhebung der Bezugsdauer für das Arbeitslosengeld ging. Das Netzwerk zwischen INSM und IZA ist eng. Im Beirat (den Policy Fellows) des IZA finden wir viele Köpfe, die sich auch für die INSM hergeben. Unter anderen etwa den als Chef der Bundesagentur wegen dubioser Berateraufträge geschassten Florian Gerster, zwischenzeitlich als Präsident des Arbeitgeberverbandes Postdienste im Einsatz gegen den Mindestlohn bei den Briefzustellern, oder einmal mehr Prof. Dr. Thomas Straubhaar, Direktor des gleichfalls von der Wirtschaft ausgehaltenen Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI). Das IZA findet es nicht im Geringsten anrüchig, dass es regelmäßig Forschungsaufträge von einer Arbeitgeber-PR-Agentur annimmt, die diese dann wieder zum Zwecke ihrer politischen Propaganda nutzt. So viel zur ideologischen Grundhaltung und zur „Unabhängigkeit“ des von der Bertelsmann Stiftung beauftragten „Forschungs“-Instituts.

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