Der Maidan heute: Ein Platz ohne Zivilgesellschaft

Stefan Korinth
Ein Artikel von Stefan Korinth

Ein Rundgang durch das Stadtzentrum Kiews
Kiew im Juli 2014: Die ukrainische Metropole flirrt tagelang vor Hitze. Klar, dass eher wenige Menschen im Zentrum unterwegs sind. Viele Kiewer sind gerade sowieso auf ihren Datschen (Nutzgärten mit Sommerhäuschen) außerhalb der Stadt. Auch nur wenige Touristen sind auszumachen, obwohl es hier quasi „Geschichte Live“ zu sehen gibt.
Gerade die Innenstadt Kiews erhielt vor einigen Monaten eine Menge internationale Aufmerksamkeit. Noch im Februar tobten hier extrem brutale Kämpfe mit mehr als einhundert Toten, über tausend Verletzten, brennenden Gebäuden und Barrikaden. Der Präsident verließ fluchtartig das Land: Eine „Revolution“ – wie Maidan-Befürworter es nennen. Von Stefan Korinth.

Wie ein Freilichtmuseum

Die Ereignisse der letzten acht Monate sind im Stadtzentrum Kiews allgegenwärtig. Die Innenstadt wirkt heute wie ein großes Freilichtmuseum. In jeder Ecke auf und um den Maidan sind Devotionalien ausgestellt, die an die Kämpfe erinnern. Zu sehen sind Helme, Schilder, Gasmasken – als ob die Regierungsgegner sie gerade erst abgelegt hätten.

Zahlreiche Barrikaden an den Zugängen des Platzes stehen immer noch teils meterhoch. Nur durch schmale Durchgänge kommen Menschen auf den Platz. Einschusslöcher in Gebäuden und Bäumen oder ausgebrannte Polizeibusse machen nachdrücklich deutlich, dass das Kiewer Stadtzentrum ein Schlachtfeld war.

Überall ist die „Himmlische Hundertschaft“

Der blutige Machtkampf in Kiew wird in der Ukraine heute als „Revolution der Würde“ bezeichnet. Dies hört sich recht harmlos an. Dass die Vertreibung der damaligen Machthaber jedoch zahlreiche Leben gekostet hat, ist an vielen Stellen des Stadtzentrums zu sehen. Dort stehen Holzkreuze und Grabsteine und überall hängen Plakate, die an getötete Regierungsgegner gedenken. Freilich nur an sie. An die 20 Polizisten (alles Ukrainer, 18 davon in Kiew) unter den Todesopfern wird hier nicht erinnert. An den kleinen Gedenkstätten legen Trauernde Blumen nieder und bekreuzigen sich – manche weinen.

Hinter dem Hotel „Ukraina“ nahe bei der Stelle an der am 20. Februar viele der vorrückenden Maidan-Kämpfer von Scharfschützen erschossen wurden, steht nun sogar eine kleine Holzkirche zum Gedenken an die sogenannte „Himmlische Hundertschaft“. Der Ausdruck „Hundertschaft“ bezieht sich auf die paramilitärischen Organisationseinheiten der „Maidan-Selbstverteidiger“. Der Begriff sollte jedoch nicht wörtlich genommen werden. Einerseits gibt es bis jetzt keine einheitlichen Zahlen zu Opfern.[1] Andererseits steigen die Zahlen weiter: Bis heute sterben Menschen an den Verletzungen, die sie in jenen Tagen erlitten haben, oder an deren Folgen.

Die Zivilgesellschaft ist verschwunden

Die ukrainische Zivilgesellschaft, die von vielen Maidan-Befürwortern immer wieder lobend als Triebfeder der Proteste hervorgehoben wurde, ist vom Platz verschwunden. Künstler, Studenten, Priester oder Menschenrechtsaktivisten sind dort nicht zu sehen. Letztere sitzen stattdessen etwa in der deutschen evangelischen Kirche ein paar Minuten Fußweg weiter. Dort bieten sie Opfern Rechtsberatung oder erstellen medizinische Protokolle.[2]

„Heute leben auf dem Maidan vor allem Obdachlose und Alkoholiker“, ist von Einheimischen mehr beschwichtigend als erklärend zu hören. Die jetzigen Bewohner der Zeltstadt repräsentierten nicht den wahren Maidan. Doch ob die dort Lebenden tatsächlich keine Wohnung haben und/oder alkoholkrank sind, ist nicht auszumachen. Verhärmt oder betrunken wirkt dort niemand. Klar zu sehen ist jedoch, dass so gut wie alle Maidan-Bewohner Uniformen tragen – einige auch martialische Holzknüppel oder andere Schlagstöcke. Die überwältigende Mehrheit sind Männer. Fast alle Behausungen sehen aus wie Armeezelte, an denen die Nummern, Namen und Herkunftsorte der darin lebenden Kampfgruppen und Hundertschaften prangen.

Kämpfer statt Bürgeraktivisten

Es hört sich paradox an: Der Platz im nun wieder friedlichen Stadtzentrum, der eigentlich die politischen Handlungen der neuen Machthaber kontrollieren wollte, beherbergt keine zivilgesellschaftlichen Wächter. Stattdessen tummeln sich dort Kämpfer, die nach ihrem Selbstverständnis doch eigentlich die Unabhängigkeit und Einheit der Ukraine im Osten des Landes verteidigen sollten. Wer durch die Straßen rund um den zentralen Unabhängigkeitsplatz streift, wird auch dort auf vermummte, mit Knüppeln ausgerüstete, junge Männer treffen, die dort patrouillieren. Dass diese „Kämpfer“ die neuen Machthaber kontrollieren, ist schwer vorstellbar.

Doch so paradox, wie die Situation auf dem Maidan heute wirkt, ist sie gar nicht. Denn eine Trennung in friedliche Zivil-Aktivisten und gewaltbereite Regierungsfeinde war spätestens seit Mitte Januar Makulatur. Die Zivilgesellschaft des Euromaidan hat die Gewalt von „Aktivisten“ nicht nur hingenommen, sie hat die Gewalttäter im Verlauf der Proteste zuarbeitend unterstützt und von ihnen erstürmte Gebäude von Beginn an mitgenutzt. Nach einigen Aufrufen zur Gewaltlosigkeit im Dezember hat sich kein führender Kopf des zivilen Maidan von Hooligans, Rechtsradikalen und anderen Schlägern distanziert. Diese waren auch keine „gewalttätige Minderheit“, die sich an den Barrikaden einschmuggelte. Die Maidan-Kämpfer, die zum Teil eben auch heute noch auf dem Platz leben, waren und sind der „Sicherheitsdienst“ im arbeitsteiligen Mikrokosmos der Zeltstadt.
 
Nationalismus regiert auf dem Platz und in den Köpfen

Wer sich derzeit in der Ukraine aufhält, erlebt eine ungebrochene Welle des Patriotismus‘. Im Fernsehen etwa ist auf allen Kanälen die Rede von Banditen, Parasiten und Terroristen, wenn es um Regierungsgegner im Osten des Landes geht. Regierungstreue Soldaten hingegen lesen an der „Front“ für die TV-Kameras Briefe vor, die ihnen Kinder zur Motivation und Unterstützung geschickt haben. Sympathie für die eigene Seite, für den bewaffneten Kampf und für die Nation wird immer wieder geschürt. Der Hass auf die Gegner im Osten des Landes natürlich auch.

Der Maidan ist nur das sichtbarste Zeichen für diesen kampfbereiten Nationalismus. Abgesehen von den gelb-blauen Nationalfahnen und den zahlreichen Geldsammel-Boxen für „Helden“ und Frontkämpfer ist der Platz gespickt mit Flaggen, Parolen und Symbolen rechter Organisationen. Das rot-schwarze Banner der ukrainischen Nationalisten weht hier überall. Dreizack, Wolfsangel oder das Konterfei des „Nationalhelden“ Stepan Bandera unterstreichen diesen Befund. Die politische Vielfalt der Bewegung, die Unterstützer immer wieder betonten, ist, zumindest was die Symbolik angeht, nicht auszumachen. Einzige Ausnahme ist ein stilisiertes Mitglied der Kommunistischen Partei. Die lebensgroße Figur wurde an einem Mast aufgeknüpft.

Hauptfeind der Maidan-Bewegung neben dem früheren Staatsoberhaupt Janukowitsch ist jedoch der russische Präsident Wladimir Putin. Die meisten Parolen, Zeichnungen oder Plakate richten sich gegen ihn. Ein Schriftzug fordert: „Alle zusammen gegen Putin“. Die zahlreichen Souvenirhändler auf und um den Platz versuchen mit dem Hass ihr Geschäft zu machen. Sie bieten Klopapier und Fußabtreter mit Putins Gesicht darauf zum Kauf an. Für die Europäische Union, gegen Korruption oder gegen Oligarchie finden sich im Übrigen so gut wie keine Schriftzüge.

Desillusionierende Wirklichkeit
 
Der Maidan heute ist absolut desillusionierend für jeden, der offen für die idealistischen innergesellschaftlichen Reformziele der Maidan-Bewegung ist. Uniformierte überall präsentieren unzweifelhafte Symbolik und lassen auch keinen Zweifel daran, wer hier das Gewaltmonopol hat. Statt progressiver Reformforderungen oder kritischer Begleitung der aktuellen Machthaber gehen vom Maidan heute vor allem Hass und Nationalismus aus. Der Platz ist ein Ort zum Fürchten geworden.

Anmerkung JB: Die Eindrücke von Stefan Korinth werden auch durch eine aktuelle Studie der Friedrich Ebert Stiftung bestätigt

In Search of Sustainability – Civil Society in Ukraine

  • In terms of number and variety of organizations, as well as levels and range of activities, civil society and free media in Ukraine are the richest in the former Soviet Union, despite difficult institutional conditions and irregular funding.
  • The strength of civil society in Ukraine has been tested by time. Confronting historical socio-political challenges, ranging from political impasse, internal civil war-like conditions to external threats and aggression, from the Orange revolution in 2004 – 2005 to the Euro-Maidan uprising that started at the end of 2013, civil society in Ukraine is marked by spontaneous unity, commitment, and speedy mobilization of resources, logistics and social capital. It benefits from a confluence of grassroots activism, social networks and formalized institutions.
  • Despite its resilience in crisis, however, Ukraine’s civil society is yet to develop sustainable interaction in policy dialogue and to have the desired impact on changing people’s quality of life. State institutions lay down the terms of cooperation with civil society and not vice versa. In the current economic crisis, political turmoil and corruption, civil society has yet to become a systemic tool in policymaking, relying on outreach through grassroots communication, social and new media networks.
  • Ukraine’s civil society has campaigned mainly with non-violent means. Now, after the Euro-Maidan experience it is well placed to face the post-crisis development challenges; namely more transparency, overcoming social and political polarization and establishing a human rights-based approach to heal the broken social fabric. This will be successful only if, in parallel, genuine reform of the law enforcement and the judicial system is undertaken, with more assistance from the international and especially the European community.

Quelle: Friedrich-Ebert-Stiftung Study [PDF – 260 KB]


[«1] Im Internet finden sich verschiedene Listen. Schon auf den ukrainisch-, englisch- und russischsprachigen Wikipedia-Seiten zu den Todesopfern gibt es jeweils mehrere voneinander abweichende Zahlen. Die derzeit höchste Angabe stammt von der Initiative „Euromaidan SOS“. Sie spricht von 123 Toten. Zudem gibt es laut der Initiative immer noch 32 vermisste Personen. Problematisch ist bei allen Listen, wer als Opfer gezählt wird und wer nicht. So zählen einige etwa den 53-jährigen Zurab Kurtsia mit. Der Georgier war aus Interesse zum Maidan gekommen und starb dort am 18. Februar an einem Herzinfarkt. Ebenso unklar ist etwa, ob der Tod der beiden Verkehrspolizisten Wladimir Jewtuschok und Petro Sawitzki etwas mit dem Maidan zu tun hatte. Beide wurden in der Nacht vom 18. Auf den 19. Februar bei einer Verkehrskontrolle außerhalb des Kiewer Stadtzentrums vom selben unbekannten Täter aus einem Auto heraus erschossen.

[«2] Siehe: „Der Maidan wirkt nach“

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