Inklu…was?

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Inklusion – was ist das eigentlich? Viele Menschen haben den Begriff schon gehört. Immer öfter findet man ihn in Zeitungen und Diskussionen um notwendige Reformen im Bildungssystem – das meist im Kontext sich verschlechternder Bedingungen. Aber was genau steckt dahinter? Und was bedeutet Inklusion für jeden von uns persönlich? Jens Wernicke sprach hierzu mit Brigitte Schumann, die als ehemalige NRW-Landtagsabgeordnete inzwischen als Bildungsjournalistin mit Schwerpunkt Inklusion tätig ist.

J.W.: Frau Schumann, Sie sind seit Längerem als Journalistin mit Spezialgebiet Inklusion unterwegs. Inklusion, das bedeutet für viele: Noch mehr Stress und Ärger um und in Schule; bedeutet, dass der Anteil schwieriger Kinder „im Normalbetrieb“ steigt und Lernen in aller Regel noch anstrengender wird. Meint das Inklusion: Bildungsabbau und Vereinheitlichung?

B.Sch.: Nein, genau das meint Inklusion nicht. Inklusion ist ein Menschenrecht, das allen Kindern, auch jenen mit Behinderungen, gleiche Teilhabe und qualitativ hochwertige Bildung in einem System ohne Diskriminierung, Selektion und Aussonderung zusichert.

Dafür muss das System sich allerdings dem Lernprozess des einzelnen Kindes anpassen. Also flexibel werden, sich von starren normativen Vorgaben lösen und für „angemessene Vorkehrungen“ im Einzelfall sorgen. Das gibt die UN-Behindertenrechtskonvention [PDF – 126 KB] als Menschenrechtskonvention vor, die seit dem 26. März 2009 auch in Deutschland gültig ist. Dieses Verständnis von Inklusion kann man aber auch schon in der Salamanca-Erklärung [PDF – 66,1 KB] der UNESCO von 1994 nachlesen.

Die deutsche Politik sträubt sich jedoch sehr gegen die nun notwendigen Veränderungen, weil etwa durch den Verzicht auf Selektion und Konkurrenz unser bestehendes Schulsystem sowie dessen Selbstverständnis grundsätzlich in Frage gestellt würden. Um sich dem Reformdruck der Menschenrechtskonvention zu entziehen, werden daher politische Tricks angewandt. Und der einfachste besteht schlicht darin, einfach zu behaupten, man verwirkliche Inklusion, auch wenn de facto das Gegenteil der Fall ist.

J.W.: Wie meinen Sie das?

B.Sch.: Nun, nehmen wir Hessen als Beispiel. Da hat die Zivilgesellschaft unlängst ein „Schwarzbuch Inklusion“ [PDF – 984 KB] veröffentlicht. Das skizziert sehr klar, was Inklusion meint und wie solidarische Bildung funktionieren würde; es macht aber auch deutlich, dass die Politik in Hessen alles in ihrer Macht Stehende tut, um den erforderlichen Veränderungen einen Riegel vorzuschieben und diese sogar öffentlich zu diskreditieren. Konkret geschieht das insbesondere dadurch, dass im Namen der Inklusion, die ja bessere Bedingungen für alle Kinder und Jugendlichen will, Kürzungen und Verschlechterungen [PDF – 26,3 KB] durchgesetzt werden. Und dann denken die Leute halt – und sollen dies wohl auch -: Oh Gott, das ist Inklusion – bloß wieder weg damit!


Aktion Mensch: Inklusion in 80 Sekunden erklärt


J.W.: Wenn das, was wir bildungspolitisch aktuell beobachten, aber in der Regel nicht Inklusion ist – was ist sie dann; ganz konkret?

B.Sch.: Nun, Inklusion meint einen sorgfältig und verantwortungsvoll organisierten Transformationsprozess weg von einem gegliederten selektiven Schulsystem und einem ausdifferenzierten Sonderschulsystem hin zu einer guten Schule für wirklich alle Kinder. Das Sonderschulsystem läuft während dieses Prozesses planvoll aus, weil auch Kinder mit Behinderungen und Beeinträchtigungen von Anfang an in der Regelschule unterrichtet und gefördert werden. Eine „Schule für alle“ bis zum Ende der Vollzeitschulpflicht ersetzt die bisherigen „weiterführenden“ Schulformen, also auch das Gymnasium, während die Grundschule sich zur Grundstufe der inklusiven Schule von 1-10 weiterentwickelt.

J.W.: Das verstehe ich, hatte ich aber nicht gemeint. Ich meinte: Was ist Inklusion inhaltlich, was zeichnet ihre Praxis aus? Die Kinder aller Schulformen in nur noch einer Schule zu „vereinen“, ist gemeinhin ja – und sicher nicht nur zu Unrecht – mit Assoziationen von Lärm, Krach, Störungen und anderem verbunden. Ein Hauptschüler schafft eben nicht einfach so den Stoff der vermeintlich „höheren“ Schulformen. Und ein Förderschüler dürfte, das versichere ich Ihnen, große Probleme mit Integralrechnung unter Notendruck haben. Wie also … kann und soll das gehen?

B.Sch.: Worüber wir hier sprechen, das ist vor allem die grundsätzliche Frage: Was ist der Mensch? Gibt es mehr oder weniger „kluge“ Menschen und Schule bildet diese biologischen „Begabungsunterschiede“ dann einfach nur noch ab? Oder ist es nicht eher so, dass die Schule seit jeher das Oben und Unten in unserer Gesellschaft als „naturgegeben“ biologisiert und somit sozial und kaum je hinterfragt reproduziert hat?

Kinder aus privilegierten Verhältnissen verfügen eben über entsprechende familiäre Ressourcen – und nicht etwa angeborene „Fähigkeiten“ – für eine erfolgreiche Bildungsbiografie. Dieses Ergebnis wird dann jedoch allein der Leistungs- und Bildungsfähigkeit der Betreffenden selbst zugeschrieben. Sie gelten als besonders klug. Kindern aus sozial benachteiligten Verhältnissen hingegen, die auch im Bildungserwerb benachteiligt sind, wird die Erfolglosigkeit im unfairen Wettbewerb schließlich als Unfähigkeit oder sogar als persönliches Versagen angelastet.

Das Schlimme ist, dass die Betreffenden das auch meistens selbst so sehen. Für alle Kinder, auch für jene mit einer so genannten geistigen Behinderung muss jedoch gelten, dass ihnen kein Bildungsinhalt oder Lerngegenstand als für sie per se „ungeeignet“ vorenthalten werden darf. Stattdessen kommt es darauf an, jedem Kind angemessene pädagogisch-didaktische Zugänge zu verschaffen und anzuerkennen, dass jedes Kind auf seiner Stufe des Lernens kompetent ist und sich weiterentwickeln kann und auch will. Die alltäglichen sozial-vergleichenden Leistungsbewertungen mit Ziffernnoten in unserem sozial selektiven Schulsystem erzeugen insofern untaugliche und schädliche Hierarchisierungen. Nicht umsonst wird Schule auch besonders von den Kindern als feindselig erlebt, die sich durch den Vergleich abgewertet wissen und die Rolle des Versagers zugeschrieben bekommen.

Kurzum: Die Probleme unserer Schülerinnen und Schüler sind zu einem großen Teil das Resultat der Selektionsfunktion unserer Schule. Eine Vielzahl von Studien belegt hier entsprechend klar und eindeutig, dass die frühe Aufteilung nach Leistung bereits Grundschulkinder ängstigt und krank macht. Spätestens mit Klasse 3 steigt der Leistungsdruck dann noch enorm an, weil der Übergang zum Gymnasium für Kinder und deren Eltern ein Muss geworden ist. Schule rangiert daher inzwischen noch vor der Familie als Stressfaktor Nr. 1 im Leben von Kindern und Jugendlichen.

Und die Kinder, die es nicht aufs Gymnasium schaffen und dann im wahrsten Sinne auf Haupt- und Sonderschulen „zurückgelassen“ werden, sind völlig demotiviert und entwickeln auch ein entsprechend pessimistisches Selbstbild [PDF – 78,1 KB]. Bei ihnen handelt es sich in aller Regel um Kinder aus den benachteiligten sozialen Schichten, die auf diese Art schulisch abgetrennt werden von den Kindern der oberen sozialen Schichten. Diese soziale Apartheid im Bildungssystem fördert bei Jugendlichen aus den privilegierten Milieus dann die oftmals ohnehin vorhandene Tendenz, sich von Jugendlichen aus den unteren Schichten abzugrenzen bzw. diese auszugrenzen.

Die UNESCO hat daher „learning to live with others“ zu einer der wichtigsten Dimensionen des Lernens für das 21. Jahrhundert erklärt [PDF – 2,5 MB]. Und zwar vollkommen zu recht, wie ich finde. Denn welches gesellschaftliche Konfliktpotential da aufgebaut wird, wenn Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen sozialen und kulturellen Herkünften nicht einmal in der Schule mehr lernen können, miteinander zu leben, wird ja zunehmend evident.

Der vorhandene Zwang zu Selektion und Homogenisierung hat jedenfalls negative Folgen für Lernende und Lehrende. Er begünstigt beispielsweise den gleichschrittigen Unterrichtsstil, der in unseren Klassenzimmern leider immer noch vorherrscht. Kinder werden so unter- oder überfordert. Kein Kind bekommt das, was es eigentlich braucht. Gefördert wird dadurch auch eine eher negativ geprägte, defizitorientierte Einstellung der Pädagogen zu ihren Schülerinnen und Schülern. Dieser „Haltungsschaden“ bei unseren Lehrerinnen und Lehrern hängt eng damit zusammen, dass an den vermeintlichen Defiziten des einzelnen Schülers jeweils die Frage entschieden wird, ob er oder sie noch in die Lerngruppe passt oder eine Klasse wiederholen muss, ob er oder sie an der Schule richtig ist oder die Schule und damit die Schulart wechseln muss, ob er oder sie den E- oder den G-Kurs an der Gesamtschule besuchen darf und so weiter und sofort.


Blind Foundation: Inklusion


J.W.: Und wie sähe bzw. sieht inklusive „Praxis“ denn dann konkret aus?

B.Sch.: Also, inklusive Unterrichtspraxis ist keine Wundertüte oder etwas, das man erst noch erfinden müsste. Innere Differenzierung und Individualisierung sind neben der Pflege von Gemeinsamkeiten und der positiven Haltung zu Heterogenität und Diversität der Schlüssel für guten inklusiven Unterricht.

Die Bausteine dafür sind längst pädagogisch erprobt, aber viele Lehrerinnen und Lehrer haben sich in ihrem Schulalltag damit noch nicht vertraut gemacht, weil sie sich am gleichschrittigen Unterrichtsmodell im Klassenzimmer orientieren.

Freiarbeit mit Hilfe von Tages- und Wochenplänen für frei gewählte oder vorgegebene fachliche Aufgaben, fächerübergreifendes Lernen in Projekten sowie kooperative Lernformen ermöglichen aktives, selbstgesteuertes Lernen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und auf unterschiedlichen Niveaus. Das kann alleine, mit einem Partner oder in der Gruppe stattfinden. Dass Schülerinnen und Schüler sich dabei gegenseitig helfen, kann besonders wirksam werden in altersgemischten Gruppen. Während die Lernenden arbeiten, haben die Lehrerinnen und Lehrer Zeit für individuelle Lernbeobachtung, Lernberatung und Lernunterstützung.

Allerdings ist die Vorbereitung dieser Lernarrangements mit entsprechenden Materialien und Aufgabenformaten äußerst aufwendig und kann deshalb nicht von einem Lehrer oder einer Lehrerin alleine dauerhaft geleistet werden. Deshalb ist die Entwicklung einer solchen Unterrichtskultur auch eine Gemeinschaftsaufgabe, die in kooperativer Zusammenarbeit in Jahrgangsgruppen, Fachteams und Fachkonferenzen entwickelt werden muss.

An Schulen mit einer solch entwickelten Unterrichts- und Schulkultur werden Sonderpädagogen dann nicht mehr gebraucht, um den hilflosen „allgemeinen“ Pädagogen die schwierige Arbeit mit den „besonderen“ Schülerinnen und Schülern abzunehmen und sie im Nebenraum zum Klassenzimmer zu fördern. Sie sind Teamkollegen, die die Lernprozesse aller Kinder zusammen mit den Lehrerinnen und Lehrern der allgemeinen Schulen wirksam unterstützen und dabei ihr Spezialwissen einbringen. Multiprofessionelle Teamarbeit dient dazu, den Unterricht so zu gestalten, dass die Kinder viel mehr als bisher ihre eigenen Bedürfnisse, Interessen und Fähigkeiten in ihr Lernen einbringen, die Schule also endlich „kindgerecht“ wird.

Aber auch hier muss wieder auf die Paradoxie von Inklusion in einem selektiven Schulsystem hingewiesen werden. Inklusive Unterrichtspraxis und soziale Leistungsvergleiche durch Ziffernnoten mit den negativen Folgen von Klassenwiederholungen und Abschulungen vertragen sich nämlich nicht.

J.W.: Welche konkreten politischen Schritte und Maßnahmen sind zur Realisierung sozusagen „wirklicher Inklusion“ denn notwendig?

B.Sch.: Alles fängt an mit der politischen Botschaft, dass die Selektionsfunktion von Schule überwunden und die Selektionsinstrumente zur Herstellung scheinbar homogener Lerngruppen abgebaut werden müssen, damit Inklusion in den Schulen wirklich gelebt und Unterschiedlichkeit wertgeschätzt wird. Für die Abschaffung der äußeren Systemdifferenzierung und die Entwicklung eines inklusiven Schulsystems braucht es zusätzlich einen klaren Fahrplan.
Die Monitoringstelle am Deutschen Institut für Menschenrechte hat einen Fahrplan für ein inklusives Schulsystem vorgelegt [PDF – 122 KB], der leider noch zu kurz greift. Sie fordert zwar den Verzicht auf das Sonderschulsystem, aber nicht den Umbau des allgemeinen selektiven Schulsystems zu einer „Schule für alle“. Damit wird die Forderung der UN-Menschrechtskonvention nach einem inklusiven Schulsystem nicht eingelöst. Ich bin aber sicher, dass bei der Überprüfung des Ersten Staatenberichts der Bundesregierung zur Umsetzung der Konvention in Deutschland [PDF – 934 KB] durch den UN-Fachausschuss in Genf im nächsten Jahr die menschenrechtlichen Verstöße gegen Inklusion in unserem Schulsystem aufgedeckt und als solche auch international öffentlich gemacht werden. Diese Öffentlichkeit wirkt dann hoffentlich wie ein Pranger.


Kongress “Inklusion (er)leben”: Impulsreferat von Brigitte Schumann


J.W.: Noch ein letztes Wort?

B.Sch.: Ja. Mit der zunehmenden Ökonomisierung der Lebensverhältnisse haben gesellschaftliche Prozesse der Ausgrenzung, Desintegration, Exklusion und Extinktion von Menschen und bestimmten Gruppen inzwischen dramatische Ausmaße angenommen. Das Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld stellt diesbezüglich auch bezogen auf Deutschland die Zunahme „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ gegenüber solchen Gruppen fest, die als „schwach“ stigmatisiert sind. Diese Tendenz lässt sich – wohlgemerkt – in allen sozialen Milieus nachweisen. Deshalb ist die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ein Glücksfall für uns. Sie setzt gegen Unmenschlichkeit das Menschenrecht auf soziale Inklusion und Teilhabe als Gesellschaftsmodell. Sie ist daher eine Aufforderung an uns alle, unser aller Menschenbild einmal grundlegend zu überdenken. Das ist aktuell so dringend notwendig wie seit Langem nicht mehr.

J.W.: Ich bedanke mich für das Gespräch.

Brigitte Schumann (Dr. phil.) war 16 Jahre Lehrerin an einem Gymnasium, zehn Jahre Bildungspolitikerin und Mitglied des Landtags von Nordrhein-Westfalen. Der Titel ihrer Dissertation lautete: „‚ Ich schäme mich ja so!‘ – Die Sonderschule für Lernbehinderte als ‚Schonraumfalle‘“. Derzeit ist Brigitte Schumann als Bildungsjournalistin tätig.

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