Buchbesprechung: Stephan Hebel „Deutschland im Tiefschlaf – Wie wir unsere Zukunft verspielen“

Rudolf Hickel
Ein Artikel von Rudolf Hickel

Wider das herrschaftssichernde Weiter-so à la Merkel: Machtpolitisch unterdrückte Alternativen sind machbar.
Wie gelingt es dieser Großen Koalition bis auf wenige populistische Ausnahmen eine Politik der Status-quo-Stabilisierung durchzusetzen? Welches sind die Kosten, die der Gesellschaft zur ungebrochenen Stärkung der privatisierten Gewinne aufgebürdet werden? Und vor allem wie kann diese als neoliberale „Sachlogik“ zementierte Politik durch gestaltende Alternativen abgelöst werden?
Auf diese brennenden Fragen gibt Stephan Hebel in seinem neuen Buch beeindruckend gut lesbare klare Antworten. Eine Rezension von Rudolf Hickel.

Die Herausforderungen an die aktuelle Politik in Deutschland sind gigantisch. Mitten im Nachbeben der ersten Runde der Finanzmarktkrise, der noch lange nicht bewältigten Eurokrise, wachsender sozialer Ungleichheit, Belastungen der öffentlichen Infrastruktur und neuer geopolitischer Risiken wäre ein demokratisches, strategisch-fundiertes Regierungshandeln dringend erforderlich. Vielleicht haben Viele gerade angesichts dieser Herausforderungen Hoffnungen auf eine Große Koalition gesetzt. Bereits nach einem knappen Jahr der Bundes-GroKo sind solche Erwartungen jedoch zutiefst enttäuscht worden. Das Merkel-Prinzip eines lähmenden „Weiter-so“ prägt mit einigen nur scheinbaren Kurskorrekturen die Politik. Sicherlich liegen zwischen dem Wechsel vom kleinen, liberalistisch frech wie dummen Koalitionspartner FDP zur alten SPD programmatisch Welten. Trotz vordergründigen Streits etwa über die Regulierung der Arbeitsmärkte setzt sich jedoch am Ende die brutale Merkel-Kompromissmaschine in Diensten der Stabilisierung der privilegierten Herrschaftsverhältnisse durch. Obwohl regierungsoffiziell der Begriff Neoliberalismus kaum auftaucht, ja am Rande sogar kritisiert wird, dient diese GroKo- Politik im Sinne der Marktpflege als Erfüllungsgehilfe der Wirtschaftsmächtigen, die die Wettbewerbswirtschaft oftmals auch gegen die Interessen der kleinen und mittleren Unternehmen dominieren. Da stellen sich viele grundlegende Fragen: Wie gelingt es dieser Großen Koalition bis auf wenige populistische Ausnahmen diese Politik der Status-quo-Stabilisierung durchzusetzen? Welches sind die Kosten, die der Gesellschaft zur ungebrochenen Stärkung der privatisierten Gewinne aufgebürdet werden? Und vor allem wie kann diese als neoliberale „Sachlogik“ zementierte Politik durch gestaltende Alternativen abgelöst werden?

Auf diese brennenden Fragen gibt Stephan Hebel in seinem neuen Buch beeindruckend gut lesbare klare Antworten. Der Titel lautet: „Deutschland im Tiefschlaf – Wie wir unsere Zukunft verspielen“. Diese engagierte Analyse steht für einen unerschrocken aufklärenden Journalismus, der jedoch im medialen Meinungsstrom nur noch am Rande vorkommt. Stephan Hebel vertieft und führt seine Enttarnung des „Merkelismus“ im Vorgängerbuch „Mutter Blamage“ von 2013 fort. Damals stellte er fest:

„In mehr als zwei Jahrzehnten Politikbeobachtung habe ich niemals einen derart eklatanten Widerspruch erlebt zwischen dem Image einer politischen Persönlichkeit und ihrer tatsächlichen Politik. Nie ist es einem Politiker in Deutschland gelungen, derart konsequent auf Kosten der Mehrheit zu handeln und zugleich die Sympathie dieser Mehrheit zu gewinnen.“

Das jetzt auf den Stand der ersten wichtigen Erfahrungen mit der GroKo konzentrierte Buch führt nach einer souverän dokumentierten Analyse zu dem Fazit: Auch mit dem neuen Koalitionspartner SPD ist die Auflösung dieses Widerspruchs nicht zu erkennen. Von den Sympathiewerten Merkels trotz einer schlechten Politik wird jedoch die SPD, die für diese Politik nunmehr (Mit-) Verantwortung trägt, nicht profitieren.

Stephan Hebels wählt für den Buchtitel den mehrfach variierten Begriff „Schlaf“. Konsequent lauten neben dem „Tiefschlaf“ im Buchtitel die vier Kapitelüberschriften: „Wie wir uns in den Schlaf wiegen“, „Verschlafen: Vom Ende der Alternativen“, Verschnarcht: Politik des Stillstands“ und „Aufgewacht: Protest und Widerstand“. Die fundierten Ausführungen zu den Kapiteln zeigen jedoch, vor allem hinter diesem gesellschaftlich erzeugten Tiefschlaf, der am Ende systemstabilisierenden Stillstand gebiert, verbergen sich harte Auseinandersetzungen allerdings mehr außerhalb des Parlaments sowie die klammheimliche Sicherung der Privilegien der hochkonzentrierten Wirtschaft und der Vermögenden. Schlaf wird zur Droge, die dem Einsatz für Alternativen durch „Protest und Widerstand“ entgegengesetzt wird.

Auf dem Hintergrund der großen Herausforderungen begründet Stephan Hebel sein bitteres Urteil mit vielen Fakten und guten Argumenten. Die GroKo sei die beste Garantie dafür, dass sich trotz eines vorgespielten Aktivismuses an der wachsenden sozialen Ungerechtigkeit, am Abbau von Umweltbelastungen, aber auch an der Benachteiligung des Mittelstands durch den Vorrang für den monopolistischen Wettbewerb grundsätzlich nichts ändern wird. Gemessen am Titel des Koalitionsvertrags vom Dezember 2014 „Deutschlands Zukunft gestalten“ ließen sich die Defizite plakativ benennen: Außer dem Wort Deutschland erwiesen sich die Begriffe „Zukunft gestalten“ als substanzlose, dilatorische Floskeln.

Die kritisch durchleuchteten aktuellen Aktionsfelder der Politik, die meistens mit der Hoffnung auf marktkonforme Selbstlösung wegdefiniert werden, sind: das die Armut nicht bewältigende Sozialsystem, die nach innen und außen rücksichtslose Exportexpansion, die durch unzureichende Verteilung vernachlässigte Binnenwirtschaft, die nicht beherrschte Finanzmarktkrise, die weiter treibende Arbeitsmarktspaltung, die finanzpolitische Schwarze-Null-Manie im Dienste der Schuldenbremsen, die verpassten Chancen der Energiewende sowie die spalterische Europolitik zu Lasten verarmender Krisenländer. Auch die Notwendigkeit einer gerechteren Umverteilung vor allem mit den Instrumenten der Steuerpolitik wird in diesem „Weckruf“ eindrucksvoll begründet. Aber auch die konzeptionslos gefährliche Außenpolitik, die derzeit den Ost-West-Konflikt schürt sowie die Rolle der hochkonzentrierten Unternehmen in der Internetwirtschaft zusammen mit der Verletzung der Persönlichkeitsreche durch subtile Spionageinstrumente werden offengelegt.

Gegenüber diesen lesenswerten Politikfeldern wäre es hilfreich, wenn Stephan Hebel zum einen auf die organisierte Lobbyarbeit stärker eingegangen wäre. Die erfolgreichen Bremsmanöver in Deutschland und in der EU bei den sog. Finanzmarktreformen sind ohne die Lobbyarbeit der Finanzmarktoligarchen nicht zu verstehen. Viele gut gemeinte Gesetzesvorhaben, wie das Beispiel Mindestlohn zeigt, werden am Ende auch noch in der letzten Phase der Implementierung durch massive Lobbyarbeit durchlöchert. Zum anderen wäre es hilfreich, die Anatomie Wettbewerbsverhältnisse, die durch die machtvolle und die Politik beeinflussende Unternehmenskonzentration geprägt sind, stärker zu berücksichtigen. Schließlich waren es große Versicherungsunternehmen, die die rot-grüne Bundesregierung erfolgreich für expandierende Lebenversicherungsgeschäfte im Rahmen der ausgeweiteten privaten Kapitalvorsorge bestochen haben.

Dagegen liefert die Verortung des Einflusses der Medien neue Erkenntnisse durch den Insider Stephan Hebel. Es sind vor allem der Kommerzialisierungsdruck sowie die Boulevardisierung, die die neoliberale Grundorientierung zugunsten der Wirtschaftsmächtigen erzeugen. Dabei geht es weniger um direkte Zensur, sondern vor allem um Zugangssperren für kritische Themen. Über Alternativen wird nicht mehr nur unrichtig, sondern gar nicht mehr informiert. Hier zeichnet sich das Ende einer pluralistischen Aufklärung der Öffentlichkeit ab. Hebel spricht von einer systematischen „Analphabetisierung“ durch die Medien.

Stephan Hebel bringt viel Mühe auf, die Rolle der SPD in der GroKo zu analysieren. Schon allein am Wahlprogramm 2013 der Sozialdemokraten gemessen fällt das Urteil über die aktuelle Regierungspolitik negativ aus. Die SPD hält sich zugute, im Koalitionsvertrag einige positive Marken gesetzt zu haben. So etwa die Überschrift zum Arbeitsmarktkapitel „gute Arbeit“, die aus dem gewerkschaftlichen Vokabular stammt. Hier steht der flächendeckende Mindestlohn im Zentrum. Jedoch sind im Gesetz untragbare Ausnahmen etwa für Arbeitslose, die einen neuen Job finden wolen, eingeführt. Auch bei der Kontrolle seien ärgerliche Aufweichungen vorgenommen worden.

Hebel macht deutlich, dass die SPD das Vertrauen in eine Politik für soziale Gerechtigkeit so lange nicht zurückgewinnen wird, so lange sie sich für die Hartz-Gesetzgebung feiern lässt. Dabei wäre die Entschuldigung gegenüber vielen Betroffenen so logisch wie einfach. Denn die heutigen Mindestlöhne sind die Antwort auf eine Spaltung des Arbeitsmarktes, den die SPD zusammen mit den GRÜNEN vor allem über die Hartz IV-Zumutbarkeitsklausel ausgelöst hatten. Das Hebelsche Fazit leuchtet ein: Wer auf Hartz IV politisch besteht, der wird bei den Mindestlöhnen auch nicht ernst genommen. Auch in anderen wichtigen Feldern zeigt der Autor die Glaubwürdigkeitsfalle der SPD. Auf einen höheren Spitzensteuersatz, eine Vermögensteuer sowie wieder die volle Versteuerung der Kapitaleinkünfte im Rahmen der Einkommensteuer verzichtet die Regierungs-SPD. Dabei ist die wahlpolitische Folge absehbar: Diese Hilfsdienste für die Vermögenden und die konzentrierte Wirtschaft wird, da hat Hebel recht, bei der ökonomisch geförderten Klientel nicht zu wachsender Wertschätzung der SPD führen. Allerdings ist der Frust der von Arbeitsplätzen Abhängigen gewiss.

Der dem Stillstand im Buch gegenübergestellte „Weckruf“ für Alternativen setzt auf „Proteste und Widerstand“. Es geht um eine Zurückdrängung der marktkonformen Ökonomisierung aller Gesellschafts- und Lebensverhältnisse. Die Transformation zielt auf die Rückbettung einer der großen Mehrheit dienenden Ökonomie in die Gesellschaft. Dabei setzt Hebel nicht auf eine Zurückdrängung des zerstörerischen Kapitalismus durch große revolutionäre Bewegungen. Anstatt jedoch auf den den St. Nimmerleinstag zu warten, werden erfolgreiche Projekte als „Inseln das Fortschritts“ propagiert. Sie dienen zugleich zur Überwindung der vorangeschrittenen Entdemokratisierung: Zum Beispiel die Proteste gegen die Kommerzialisierung des ehemaligen Flughafens Tempelhof und gegen den Ausbau der Flugbahnen in Frankfurt. Hebel verweist auf Personen im Kampf gegen üble Behördenwillkür gegenüber Arbeitslosen, auf eine Renaissance der Dorfläden durch Genossenschaften, auf Projekte lokaler Energieversorgung sowie auf die Kampagnen zur Sicherung von Wasser als öffentliches Gut. Auch Rekommunalisierungen privatisierter Dienstleistungen stehen auf der alternativen Agenda. Widerstandsbewegungen wie „OCCUPY“ gegen die Finanzmarktmonopole sowie die neuen Protestgruppen gegen TISA und TTIP sind für Hebel hoffnungsvolle Aktionen des Widerstands. Dieser Pragmatismus, mit dem sich zugleich neue Demokratiepotenziale bilden können, ist zwar zurückhaltend, aber mit großer perspektivischer Reformkraft ausgestattet.

Stephan Hebels Buch geht weit über den selbst gesteckten Anspruch eines „Weckrufs“ hinaus. Im Mittelpunkt steht eine „solidarische Gesellschaft, die den gleichen Zugang zu den wichtigsten Gemeingütern sichert“. Allein die passive Lektüre dieses Buchs lohnt sich. Der volle Ertrag geht jedoch erst auf, wenn die Erkenntnisse aktiv in eine der vielen Bewegungen für eine solidarische Gerechtigkeit, zu der vor allem eine gerechte Teilhabe am Einkommen und Vermögen gehören, eingebracht und weiterentwickelt werden.

Stephan Hebel „Deutschland im Tiefschlaf – Wie wir unsere Zukunft verspielen
Westend Verlag GmbH Frankfurt/Main 2014; ISBN 978-3-86489-067-3
€ 16,99 (D) € 17,50 (A)