Literatur der Arbeitswelt

Ein Artikel von Joke Frerichs

Der Werkkreis Literatur der Arbeitswelt wurde Ende der sechziger Jahre mit dem Ziel ins Leben gerufen, die bis dahin in den Medien weitgehend vernachlässigte industrielle Arbeitswelt zum Gegenstand von Literatur zu machen. Ziel war nicht die abstrakte Darstellung der kapitalistischen Verhältnisse – das gab es zu dieser Zeit zuhauf in den studentischen Zirkeln, die sich mit der Politischen Ökonomie von Marx auseinandersetzten – sondern die Beschreibung der betrieblichen Arbeitsverhältnisse als Mittel der subjektiven Bewusstmachung, als allgemeine Informationsquelle und als Ausgangsanalyse für objektive Veränderung. Die Beschäftigten selbst sollten – als Experten ihrer Arbeitssituation – motiviert werden, über die Zustände in ihren Betrieben zu berichten. Die Arbeitswelt zum Thema zu machen: damit verfolgten die Initiatoren und Teilnehmer der Werkkreise von Anfang an den Zweck, Öffentlichkeit herzustellen über diesen Bereich der unterschlagenen Wirklichkeit (Negt). So gesehen verstanden sie ihr Engagement als einen Beitrag zur Demokratisierung der Literatur hinsichtlich ihrer tradierten Produktions- und Rezeptionsformen und zur Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, weil Themen und Wirklichkeitsausschnitte öffentlich gemacht wurden, die ansonsten kaum thematisiert wurden und in vielen Fällen sogar der Geheimhaltung unterlagen. Von Joke Frerichs.

Unter dem Titel Erasmus Schöfer: Schriftsteller im Kollektiv[1], ist jetzt ein umfangreicher Band erschienen, der Texte aus den Entwicklungsphasen des Werkkreises zwischen 1969 und 1984 dokumentiert. Darin wird insbesondere das Wirken Erasmus Schöfers sichtbar, der wie kaum ein anderer die Arbeit des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt gestaltet hat: konzeptionell, organisatorisch und selbst schreibend. Günter Wallraff nannte ihn eine Art Hölderlin, der unter die Arbeiter gefallen ist. Und in der Tat: Erasmus Schöfer hat nicht nur selbst einige Jahre in Fabriken gearbeitet; er hat die Epoche, um die es hier geht, auch zum Gegenstand seines literarischen Hauptwerkes Die Kinder des Sisyfos gemacht; eines 4-bändigen Zeitromans, den man getrost als anschauliches Geschichtswerk dieser Jahre verstehen kann, weil darin alle wesentlichen sozialen Konflikte und Kämpfe dieser Zeit ihren literarischen Ausdruck gefunden haben.[2]

Der vorliegende Band stellt eindrucksvoll dar, unter welch schwierigen materiellen, organisatorischen und personellen Bedingungen die Werkkreise ihre Arbeit verrichten mussten. Es schmerzt geradezu, aus heutiger Sicht nachzuvollziehen, mit welchen Alltagsproblemen die Teilnehmer zu kämpfen hatten. Alles musste ehrenamtlich, d.h. neben der eigentlichen Berufstätigkeit, in der Freizeit, bewältigt werden. Dass es dabei zu erheblichen Reibungsverlusten und Konflikten kam, kann daher nicht überraschen. Die jetzt vorliegenden Texte dokumentieren die genannten Probleme eindringlich. Gleichwohl gelang es, über fünfzig Werkstattgründungen (die teilweise Jahrzehnte bestanden), über 100 Buchveröffentlichungen (mit Auflagen von teilweise mehreren Zehntausend) und einen aufwändigen Organisationsrahmen aufrechtzuerhalten – durch Teilerlöse aus den Büchern und Spenden, vor allem aber durch das Engagement der Beteiligten. Eine der Hauptaktivitäten des Werkkreises waren z.B. Lesungen in Schulen, Betrieben und Gewerkschaften.

In vielen Büchern des Werkkreises wurde in nie dagewesener Weise vom Alltag in bundesrepublikanischen Betrieben berichtet. Dabei handelt es sich um einzigartige Dokumente, die gleichzeitig einen intellektuellen Aneignungs- und Reflexionsprozess darstellen, in dem soziale Verwerfungen, aber auch Widerstandsformen und Ohnmachtserfahrungen geschildert werden. Oft dienten diese Texte auch dazu, gemeinsame Lernprozesse zwischen Literatur, Wissenschaft und Arbeitswelt anzuregen; zum Nutzen aller Beteiligten.
Angesichts der gegenwärtigen ökonomischen Krise, der Einschränkung demokratischer Rechte, der drohenden Gefahr militärischer Konflikte und (hoffentlich) erstarkender sozialer Proteste dagegen, könnte die Wiederentdeckung der in diesem Buch dokumentierten Texte von kaum zu überschätzender Aktualität sein. Sie enthalten Erfahrungen und Anregungen, von denen zu lernen ist.


[«1] Volker Zaib/Werner Jung (Hg.): Erasmus Schöfer – Schriftsteller im Kollektiv, KlartextVerlag Essen 2014

[«2] S. unsere Besprechung: Ästhetik und Politik; NachDenkSeiten v. 5.7.2013

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