Sich nicht irre machen lassen – Überlegungen zur Berichterstattung über den Mordanschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Fast alle sind über den Mordanschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo tief betroffen und empört. Das ist verständlich, der Schock über den sinnlosen Tod von 17 Menschen sitzt tief. Das enthebt aber nicht davon, das Pressegeschehen weiter kritisch zu analysieren und zu begleiten. Von J.K.

Am vergangenen Freitag wurde anlässlich des Attentats auf Charlie Hebdo dieser Aufruf der deutschen Zeitungsverleger veröffentlicht:

„Die Medien und gerade auch die Zeitungen tragen durch Kommentare und Hintergrundberichte zur Reflexion über unsere zivilen Standards bei.
Sie sind, mit allen Fehlern und Schwächen, mit ihren Stärken und Vorzügen, eine Errungenschaft unserer Demokratie, die wir stets aufs Neue verteidigen müssen.
Beharren wir, Zeitungen und Leser gemeinsam, auch weiterhin selbstbewusst auf der Pluralität der Meinungen und der Freiheit, sie zu äußern.“

Es ist schon erstaunlich, dass die deutschen „Qualitätsmedien“ plötzlich von einem Tag auf den anderen ihre Liebe zu Meinungsfreiheit und Meinungspluralität entdeckt haben wollen – und das gegenüber einem Medium, nämlich Charlie Hebdo, das sie in normalen Zeiten aufgrund seiner religionskritischen Ausrichtung wohl kaum jemals zitiert hätten, schon gar nicht zustimmend. Die Redaktion von Charlie Hebdo hatte sich ja immer auch über die herrschende Elite lustig gemacht und sah sich als politisch links positioniert. So engagierte sich etwa der Herausgeber Stéphane Charbonnier für den “Front de gauche”, einen Zusammenschluss linker Parteien. Dass die Meinungsmacher in Deutschland diese nun vereinnahmen ist fast schon zynisch. Man darf Charlie Hebdo wohl eine wichtige Rolle für die Meinungsvielfalt zugestehen, auch wenn dessen Titelbilder nicht immer unumstritten waren. Die deutschen Mainstreamjournalisten, die nun ihre Empörung und Betroffenheit inszenieren, haben in der Vergangenheit immer wieder bewiesen, dass sich ihr Kampf für die Meinungsvielfalt in Grenzen hielt. Die NachDenkSeiten dokumentieren und kritisieren dies seit Jahren.

Noch am Montag vor dem Anschlag in Paris war das ganz konkret mit der „Pluralität der Meinungen“ nicht so weit her. Kaum war die Druckerschwärze auf der Meldung getrocknet, dass es am 25. Januar Neuwahlen in Griechenland geben würde, fanden sich in praktisch allen Leitmedien fast gleichlautende Kommentare und Stellungnahmen: Auf keinen Fall dürfe von der „Sparpolitik“ abgewichen werden, ein Wahlsieg der „linksradikalen“ Syriza würde die Erfolge der „Reformpolitik“ gefährden und Griechenland, ja ganz Europa in eine noch schlimmere Finanzkrise stürzen, der Austeritätskurs der Troika sei alternativlos. Kein Funken Empathie und Mitgefühl mit dem Leid und der Not der griechischen Bürger war sichtbar, und kaum ein Ansatz einer kritischen Bestandsaufnahme und einer objektive Bilanz der bisherigen „Sparpolitik“. Die NachDenkSeiten haben die einseitigen Pressestimmen zu den griechischen Neuwahlen dokumentiert. Wo war da die Pluralität?

Noch drastischer fiel die Kampagne gegen die Friedenswinter Demonstrationen im Dezember des vergangenen Jahres aus, die Menschen die für ein friedliches Miteinander auf die Straße gingen, wurden in den Leitmedien mit nahezu identischer Wortwahl als Verschwörungstheoretiker, Antisemiten, Wirrköpfe, Neurechte und Putin-Versteher diffamiert. Auch dazu findet sich auf den NachDenkSeiten eine Dokumentation. Auch zur einseitigen Berichterstattung über Russland – ein trauriger Höhepunkt war das Spiegel-Titelbild „Stoppt Putin“ nach dem Abschuss des Malaysia-Airlines-Fluges MH 17 – findet sich auf den NachDenkSeiten eine große Zahl an Belegen.

Und so mancher „Elitejournalist“ konnte offenbar nicht der Versuchung widerstehen, die Gelegenheit zu nutzen, um den großen Hammer zu schwingen und Medienkritiker mundtot zu machen. So scheut sich einer der Herausgeber der FAZ, Berthold Kohler, nicht, die Ermordung der Redakteure von Charlie Hebdo zu instrumentalisieren, um pauschal eine kritische Haltung gegenüber den Leitmedien zu diffamieren. Er unterstellt in einem Kommentar den Kritikern der Mainstreammedien, sie würden sich mit Terroristen, mindestens mit den Pegida-Anhängern, gemein machen und seien damit per se gegen die Meinungsfreiheit.

Kurt Kister hingegen ergreift in der Süddeutschen Zeitung die Gelegenheit, die Presse als Vorkämpferin für die Ideale der Aufklärung, der grundlegende Menschenrechte und das Recht auf Leben und freie Entfaltung zu feiern. Das gibt uns an dieser Stelle die Gelegenheit, anlässlich von zehn Jahren Hartz IV zu fragen: gelten diese, in vielen Blättern nun beschworenen grundlegenden Menschenrechte und das Recht auf freie Entfaltung auch für Hartz IV- Bezieher in Deutschland? Oder gelten diese nur auf Zeitungspapier? Dazu hilft es, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass es sich bei Hartz IV um ein System handelt, das Jahr für Jahr vier bis fünf Millionen Menschen in diesem Land einem repressiven, demütigenden und entmündigenden Prozess unterwirft. Die Sanktionsmöglichkeiten des Hartz IV Systems machen eine Absenkung der Grundsicherung bis weit unter das Existenzminimum möglich. Werden so die grundlegenden Rechte der betroffenen Menschen gewahrt? Und hat nicht gerade die „Qualitätspresse“ maßgeblich die Agenda 2010 mit herbeigeschrieben und mit Diffamierungskampagnen gegen Erwerbslose deren Durchsetzung flankiert? Hat sich jemals ein „Qualitätsjournalist“ mit Menschen, die diesem System ausgeliefert sind, solidarisiert und die Achtung ihrer grundlegenden Rechte eingefordert? Die geballte Inszenierung der Betroffenheit und Empörung, und das flammende Eintreten für Meinungsvielfalt und die Ideale der Aufklärung in den deutschen Leitmedien aus Anlass der Morde in Paris muten einem da doch ziemlich seltsam an.

Auch fällt es einem letztendlich schwer in Personen, wie Josef Joffe, Mitglied in diversen transatlantischen Elitezirkeln und Mitherausgeber der Zeit, die seit den Ereignissen auf den Maidan in Kiew eine Hetzkampagne gegen Putin und Russland fährt, wie es sie wohl seit Zeiten des Kalten Krieges nicht mehr gegeben hat, einen Vorkämpfer für Pluralismus und Meinungsvielfalt zu sehen – ebenso wenig wie in dem ebenfalls transatlantisch bestens vernetzten Stefan Kornelius von der Süddeutschen Zeitung oder gar Ulf Poschardt und Kai Diekmann von den Springer-Hetzblättern Welt und BILD, und in vielen andere „Elitejournalisten“.

Und wie zur Bestätigung erschien am Freitag nach dem Anschlag dieser unglaublich infame Beitrag in der Bild: „Warum wir die Überwachung der NSA gegen den Terror brauchen“, der in der Behauptung gipfelt, wer „Je suis Charlie“ sage, könne nicht gleichzeitig Snowden als Held verehren. Also wird hier im schönsten orwellschen Neusprech erklärt: NSA = Freiheit. Besser lässt sich die Heuchelei des Medienmainstreams nicht belegen. Von wegen „Je suis Charlie“. Das Attentat wird gerade wieder einmal von den Springer-Blättern schamlos instrumentalisiert.

Da mag sich dann jeder seine eigene Meinung zu dem eingangs zitierten flammenden Aufruf der deutschen Zeitungsverleger für die Presse- und Meinungsfreiheit bilden und fragen, wie Totalüberwachung und Meinungsfreiheit zusammen gehen?

Als Ergänzung weitere Beiträge auf den NachDenkSeiten zu einer kritischen Reflektion des Themas Meinungsvielfalt in der deutschen Presselandschaft:

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