Versicherungslobbyist Raffelhüschen ist wieder auf Werbetour, jetzt für die Privatisierung der Pflegeversicherung

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Nachdem nun bei der Rente der Durchbruch in die private Vorsorge geschafft ist, soll als nächstes die gesetzliche Pflegeversicherung sturmreif geschossen werden. Vorneweg als Sturmstaffel mal wieder die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ und die ach so seriöse „FAZ“. Im Auftrag der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung stellte der als wissenschaftliches Sturmgeschütz der Versicherungswirtschaft (ver)dienende Professor Raffelhüschen „wissenschaftliche Berechnungen“ an. Diese beweisen – natürlich streng wissenschaftlich: „Spätestens im Jahr 2045 (!) müssen Arbeitnehmer rund sieben Prozent ihres Einkommens für die Pflegeversicherung abführen. Das ist eine Steigerung um mehr als 400 Prozent im Vergleich zum heutigen Satz.“ Für den „Wissenschaftler“ sind die Konsequenzen aus dem „erschreckenden Befund“ offenkundig: Das umlagefinanzierte System müsse schnellstens reformiert werden. Am einfachsten ginge das bei der Pflege. „Noch können wir aus der umlagefinanzierten Pflegeversicherung aussteigen“, alarmiert Raffelhüschen. Wolfgang Lieb

Obwohl kaum ein seriöser Wissenschaftler eine sichere Prognose darüber wagen würde, wie hoch die Beschäftigung im kommenden Jahr sein wird, weiß der Freiburger Finanzwissenschaftler Bernd Raffelüschen schon heute genau wie hoch die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Berufstätigen in knapp vierzig Jahren sein wird:

Im Jahr 2045 wird es ein Viertel weniger Berufstätige geben, die Beiträge zur Sozialversicherung zahlen. Das hat Konsequenzen: Im Jahr 2045 liegt der Beitrag zu den Rentenkassen bei mindestens 22 Prozent, bis zu 27 Prozent beansprucht allein die gesetzliche Krankenversicherung und weitere 2,5 Prozent verlangt die Arbeitslosenversicherung. Addiert man die Einzelposten (inklusive zwei Prozent für die gesetzliche Unfallversicherung) heißt das, dass bald 60 Prozent des Bruttoeinkommens an die Sozialkassen abgeführt werden müssen, ein Betrag, den sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber teilen. Zieht man noch die Steuerbelastung von durchschnittlich 31 Prozent in Betracht, offenbaren die Berechnungen ihre absurde Konsequenz: Das umlagefinanzierte System der sozialen Sicherung wird unfinanzierbar. „Das kann nicht eintreten, weil es nicht mehr funktioniert“, sagt Raffelhüschen.

Dass diese „Berechnungen“ „absurd“ sind, erkennt unser „Wissenschaftler“ wenigstens selbst. Schaut man diese „Berechnungen“ einmal genauer an, so gehen als „Datengrundlage“ ein: „Erstens ein geschlossenes Budget der SPV (Soziale Pflegversicherung) für das Basisjahr 2004, zweitens altersspezifische Querschnittsprofile, um die makroökonomischen Größen auf die individuelle Ebene herunterzubrechen und drittens eine umfassende Bevölkerungsprojektion.“ [PDF – 52 KB]

Wie alle, die die Alarmsirenen wegen der demografische Entwicklung schrillen lassen, nimmt auch Raffelhüschen die Modellrechnungen (also keineswegs Prognosen) des Statistischen Bundesamtes über die Bevölkerungsentwicklung als „Datengrundlage“. Dass diese Berechnungen jedoch unsicher sind, wissen selbst die amtlichen Statistiker. Deshalb bieten sie selbst eine Vielzahl von Modellvarianten an. Danach liegt etwa die Spannbreite der Bevölkerungszahl in Deutschland im Jahre 2050 zwischen 67 und 81 Millionen Menschen. „Von Sicherheit keine Spur!“, sagt dazu der Statistiker Gerd Bosbach und fügt hinzu: „Vorhersagen der Bevölkerungsentwicklung sind nichts anderes als Modellrechnungen, die bekannte Trends fortschreiben. Strukturbrüche können sie nicht prognostizieren. Eine 50-Jahres-Prognose aus dem Jahr 1950 hätte weder den Pillenknick noch den Babyboom, weder den Zustrom ausländischer Arbeitnehmer und osteuropäischer Aussiedler noch den Trend zu Kleinfamilie und Single-Dasein berücksichtigen können. Eine Berechnung von 1900 für das Jahr 1950 hätte sogar zwei Weltkriege übersehen müssen. Nur heute wird anmaßend behauptet, man könne trotz unserer schnelllebigen Zeit so weit in die Zukunft genauestens vorausschauen.“

Würde man die „wissenschaftlichen Berechnungen“ des Herrn Raffelshüschen beispielsweise einmal auf die Vergangenheit übertragen, so wären die seit Bismarcks Zeiten eingeführten umlagefinanzierten sozialen Sicherungssystemen wegen der zwischenzeitlichen „Überalterung“ der Bevölkerung schon längst kollabiert. So stieg die Lebenserwartung der Bevölkerung im letzten Jahrhundert um 30 Jahre. Die von den Experten erwartete Erhöhung der Lebenserwartung soll in den nächsten 50 dagegen „nur“ um 6 Jahre Jahren steigen. Dieser vergleichsweise geringe Anstieg soll aber jetzt in die Katastrophe führen.
Solche „Prognosen“ über einen so langen Zeitraum sind so unsinnig oder so sinnvoll, wie die Berechnungen von Wissenschaftlern vor zweihundert Jahren, wonach London wegen des zunehmenden Verkehrs mit Pferdekutschen schon längst hätte in Pferdemist versunken sein müssen.

Aber selbst wenn man einmal die „Datengrundlagen“ für die Prophezeiungen des Herrn Raffelshüschen als unumstößlich unterstellte, so müsste man seriöserweise diesen Daten gleichfalls entnehmen, dass ein beachtlicher Anstieg der Rentnerzahlen und damit einhergehend (sofern sich sonst nichts ändert) ein nennenswerter Abgang aus dem Erwerbspersonenpotential frühestens ab 2025 erfolgte. Dann nämlich, wenn die geburtenstarken Jahrgänge von Anfang der sechziger Jahre das Renteneintrittsalter erreicht haben werden. Weil also die nächsten 20 Jahren für das Erwerbspersonenpotential völlig undramatisch sind und es in der kommenden Dekade viel eher ein Problem sein dürfte, wie der dramatische Anstieg der Studierendenzahlen um 40 % bewältigt werden soll und wie ausreichend Ausbildungsplätze für die künftigen Beitragszahler zur Verfügung gestellt werden können, müssen die Panikmacher wie Raffelhüschen ihre „Berechnungen“ auf das Jahr 2045 und damit kaum noch seriös prognostizierbare Zukunft verlegen, um mit ihren Katastrophen-Hochrechnungen Ängste schüren zu können.

Aber jenseits der Ausblendung der einigermaßen absehbaren Zukunft und der Leugnung der Tatsache, dass jedenfalls für die kommenden zwanzig Jahre die demografische Entwicklung nicht das eigentlich Problem für die Finanzierung der gesetzlichen Pflegeversicherung darstellt, lassen die ach so „wissenschaftlichen Berechnungen“ des Herr Raffelshüschen so ziemlich jeden Faktor außer Betracht, der nicht in das Untergangsszenarium passen könnte, das er als Drohkulisse für den Ausstieg aus der umlagefinanzierten Pflegeversicherung aufbaut.

Wir haben z.B. im letzten Jahrhundert sowohl beim Älterwerden als auch beim Rückgang des Anteils der Kinder und Jugendlichen an der Bevölkerung „viel mehr verkraftet, als für die Zukunft erwartet wird. Und das bei massiv steigendem Wohlstand für alle und einem Auf- und Ausbau der Sozialsysteme. Altern und weniger Kinder erzwingen also mitnichten einen Abbau sozialer Leistungen“, rechnet Bosbach vor.

Dass etwa die Entwicklung der Arbeitslosigkeit, die Ausschöpfung des Erwerbspersonenpotentials, also z.B. die Erwerbsquote der Frauen oder die Beschäftigung älterer Menschen (und sei es nur die Angleichung des tatsächlichen an das gesetzliche Renteneintrittsalters) wesentlich größere Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme haben, als die demografische Entwicklung, wird schlicht unterschlagen.

Dass die Entscheidung von Familien in Zukunft wieder mehr Kinder auf die Welt zu bringen etwas mit der der Kinder- und Familienfreundlichkeit der Gesellschaft – also auch mit Politik – zu tun haben könnte, kommt den demographischen Alarmisten schon gar nicht in den Sinn.

Die Steigerung der Produktivität pro Erwerbstätigem wird gleichfalls (bewusst) übersehen, obwohl die Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit in der Vergangenheit den zu verteilenden „Kuchen“ um so viel größer hat werden lassen, dass (fast) alle davon ein Stückchen mehr abhaben konnten. Bosbach: „Dabei würde selbst eine geringfügige Steigerung von 1,25 Prozent pro Jahr (Prognose der Herzog-Kommission) in 50 Jahren die Leistung jedes Erwerbstätigen um 86 Prozent steigen lassen. Und davon könnten Junge und Ältere gleichermaßen profitieren, einschränken müsste sich keiner.“

Der „Wissenschaftler“ Raffelhüschen tut aber so, als sei die Entwicklung bis 2045 fest programmiert, als gäbe es keine Bewegungsspielräume mehr, als wäre die Zukunft nicht mehr gestaltbar. Dass die Arbeitnehmer etwa am Produktivitätsgewinn teilhaben könnten und höhere Löhne beziehen könnten, aus denen auch locker ein höherer Beitrag für die Pflegeversicherung abgezweigt werden könnte, dass auch in Zukunft der größere Kuchen gerecht verteilt werden könnte oder dass auch andere Einkommensbezieher als sozialversicherungspflichtig Beschäftigte an der Finanzierung der Pflegekosten beteiligt werden könnten, all diese (politischen) Gestaltungsmöglichkeiten schließt er aus.

Man müsste und könnte noch viele andere Einflussfaktoren erwähnen (siehe dazu nochmals Gerd Bosbach, die die „wissenschaftlichen Berechnungen“ von Herr Raffelhüschen als das erkennbar machen würden, was sie in Wahrheit sind, nämlich plumpe Propaganda für die Privatisierung der Pflegeversicherung.

Doch selbst wenn die „erschreckenden Befunde“ über die unfinanzierbaren Beitragssteigerungen für die soziale Pflegeversicherung, die Rentenkassen und die gesetzlichen Krankenkassen tatsächlich dazu führen würden, „dass bald 60 Prozent des Bruttoeinkommens an die Sozialkassen abgeführt werden müssen, ein Betrag, den sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber teilen“, dann müsste Raffelhüschen wenigstens plausibel begründen, warum seine Alternative, dass die Menschen sich privat versichern, geringere Kosten verursachte und warum der Anteil für die private Vorsorge am Bruttoeinkommen niedriger läge als bei der umlagefinanzierten. Er müsste dazu hin noch offen legen, warum die Arbeitnehmer sich mit einer privaten Pflegeversicherung besser stellen sollten, obwohl die Kosten für die private Vorsorge sich dann Arbeitnehmer und Arbeitgeber nicht mehr teilen würden, sondern ausschließlich aus dem Nettoeinkommen der Arbeitnehmer finanziert werden müssten.

Wir haben das gleiche Gauklerstück schon einmal bei der Riester-Rente erlebt: Um die Beiträge für die paritätisch finanzierte Rente unter 20 Prozent zu halten, wird die private Zusatz-Rente – zwar staatlich subventioniert – von den Arbeitnehmern (wohlgemerkt) aus ihrem Nettoeinkommen finanziert und die Arbeitgeber konnten sich aus der Finanzierung der Riester-Rente verabschieden. Dass „nur“ 8 Millionen von etwa 27 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, obwohl ihnen allenthalben vorhergesagt wird, dass die gesetzliche Rente ein Armutsrisiko darstellt, eine Riester-Rente abgeschlossen haben, beweist doch überdeutlich, dass die Leute 1 und 1 zusammenzählen können. Sie merken das doch unmittelbar in ihrem Portemonnaie, dass eine Zusatzrente zusätzliches und mehr Geld kostet als eine Anhebung der Rentenbeiträge um ein paar Zehntel. Die Belastung für die Altersvorsorge für den einzelnen Arbeitnehmer mit einer Riester-Rente liegt doch schon heute höher, als wenn die Rentenversicherungsbeiträge um einen oder maximal 2 Prozentpunkte angehoben worden wäre – dies dann allerdings paritätisch finanziert.

Der gleiche Rosstäuschertrick soll nun bei der Pflegeversicherung noch einmal vorgeführt werden. Herr Raffelhüschen, die INSM, die FAZ und die vielen anderen Protagonisten der privaten Vorsorge in der Politik und den Medien meinen wohl immer noch, dass sie mit ihren Milchmädchenrechnungen über die Pflegeversicherung und ihrer Propaganda für die Privatisierung der Vorsorge die Menschen ein weiteres Mal täuschen könnten. Die Privatisierungslobby steht dabei allerdings einmal mehr vor dem „Vermittlungsproblem“, dass weniger Menschen an deren Verheißungen glauben, als es Lobbyisten gibt, die solche angeblich objektiv notwendigen „Reformen“ den Leuten glauben machen wollen.

Dass sich „Wissenschaftler“ wie Raffelhüschen und andere dabei zu wohlfeilen Erfüllungsgehilfen der Versicherungswirtschaft machen, stört sie offenbar gar nicht.
Dass die privaten Rentenversicherer und Finanzdienstleister die Pflegeversicherung gerne ihrem Protofolio einverleiben möchte versteht sich von selbst. Die Beiträge für die gesetzliche Pflegeversicherung addieren sich derzeit auf über 16 Milliarden Euro pro Jahr. Dass sich die Finanzwirtschaft dieses hübsche Sümmchen über Versicherungsbeiträge gerne aneignen möchte, kann man ihr aus ihrem Interessenhorizont noch nicht einmal vorwerfen.

Vorwerfen muss man allerdings den Medien (wie etwa in diesem konkreten Falle der FAZ) oder den Propagandaagenturen (wie der INSM) und den „Wissenschaftlern“ wie Raffelhüschen, dass sie sich zu Mietmäulern der Versicherungswirtschaft machen lassen. Und vorhalten muss man der Politik und den Parteien, dass sie diese Interessen nicht offen thematisiert, sondern wie etwa bei der Rente sich sogar als Vollzugsorgane dieser Interessen einspannen lassen.

Dass gerade Herr Raffelhüschen ein Lobbyist der Versicherungswirtschaft ist, das haben wir auf den NachDenkSeiten schon oft thematisiert.
Er ist Direktor des „Forschungszentrums Generationenverträge(!)“ in Freiburg. Unter dem Forschungsschwerpunkt „Alterssicherung“ konnte man vor kurzem noch nachlesen: „Die Forschungstätigkeit in diesem Bereich erfolgt mit freundlicher Unterstützung der Victoria Versicherung und ERGO People & Pensions.“ Man scheute sich bis vor einiger Zeit noch nicht einmal die Links zu diesen Versicherungskonzernen zu setzen. (Nachdem Raffelhüschen wegen dieser Verbindungen in die Kritik geraten war, scheint man solche Hinweise aus dem Internetauftritt genommen zu haben.)

Das Freiburger Forschungszentrum hat einen Förderverein und den Vorstand dieses Fördervereins bilden Günther Knortz und Professor Bernd Raffelhüschen. Günther Knortz war Vorstandsmitglied bei der ERGO-Versicherungsgruppe, befindet sich jetzt in Altersteilzeit. Professor Raffelhüschen sitzt im Gegenzug im Aufsichtsrat der ERGO-Versicherungsgruppe.
Wie hieß es doch auf der Website des „Forschungszentrums Generationenverträge“ bis vor kurzem so passend:
Wir bedanken uns bei den nachstehenden Förderern für die Unterstützung:

  • BDO Deutsche Warentreuhand AG
  • Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft
  • Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft
  • SICK AG
  • Süddeutsche Krankenversicherung a.G.
  • Verband der privaten Krankenversicherung e.V.

Dass Raffelhüschen Vorstandmitglied der Stiftung Marktwirtschaft und versicherungswirtschaftlicher Hausberater der INSM ist versteht sich sozusagen von selbst.
Es wundert einen auch nicht, dass Raffelshüschen als Werbeträger des Finandienstleisters MLP durch die Lande tingelte und über auf mehr als 40 Veranstaltungen seine Werbebotschaften für die private Vorsorge verkündete.

An solche „Wissenschaftler“ gibt die FAZ Forschungsaufträge, ohne auch nur den kleinsten Hinweis darauf zu geben, von welchen Interessen sie „gefördert“ werden.

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