Merkel und Schäuble spielen die hässlichen Deutschen und hinterlassen uns damit eine schwere Hypothek

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

„Deutschland ist besser als Frau Merkel“ heißt eine Zwischenüberschrift in einem bemerkenswerten Artikel des französischen Ökonomen Jacques Sapir mit dem Titel „Haïr l’Allemagne?“. „Deutschland hassen?“ fragt Sapir und analysiert den Umgang Merkels und Schäubles mit der frei gewählten Regierung Griechenlands und den rücksichtslosen Umgang mit dessen Volk. Es gab Zeiten, als wir die Nachbarschaft zu anderen Völkern pflegten und als Freunde angesehen waren. Das haben wir alle genossen. Jetzt erscheinen wir als ein Volk, das andere Völker zu knebeln versucht, von ihrer Regierung die totale Kapitulation verlangt und gleichgültig ist gegenüber dem maßgeblich von unserer Regierung verursachten Leid. Sapir sieht die deutsche Führung im Dienste „nur einer kleinen Minderheit“. Er beschreibt die kritische Lebenslage auch der Mehrheit in Deutschland.- Carsten Weikamp hat den Artikel des französischen Wissenschaftlers übersetzt. Es lohnt sich, den Text zu lesen. Für Freunde der französischen Sprache hier auch noch der Link auf das Original. Am Ende des Textes füge ich einige kurze Anmerkungen zum erkennbaren Werteverlust des von der CDU/CSU-Spitze repräsentierten konservativen Bürgertums und einige Fragen an psychologisch geschulte Leserinnen und Leser der NachDenkSeiten an. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Hier also die deutsche Übersetzung:

Deutschland hassen?
20. Februar 2015
Von Jacques Sapir
Quelle: russeurope.hypotheses.org

Der Konflikt zwischen Griechenland und Deutschland polarisiert zur Zeit die Völker der Eurozone. Die geringschätzende Antwort des Berliner Finanzministers auf den Vorschlag aus Athen ist die beste Demonstration dafür, dass es Deutschland darum geht, eine Regierung, die aus freien, demokratischen Wahlen hervorgegangen ist, zu zerstören, und darüber hinaus Griechenland, für das die abscheulichsten und ehrenrührigsten Bezeichnungen gebraucht werden, wie zum Beispiel “Olivenpflücker”. Das provoziert die Ressentiments all derer gegen Deutschland, die die selbstmörderische Austeritätspolitik verdammen und ablehnen. Muss man Deutschland also hassen?

Die wiederholten Sünden von Frau Merkel und Herrn Schäuble

Die Regierung aus Athen hatte am Donnerstag, den 19., einen Antrag nach Brüssel geschickt. Darin bestätigte sie ihre Bereitschaft, «eng mit den europäischen Institutionen und dem IWF zusammenzuarbeiten», genauso wie die, «seine finanziellen Verbindlichkeiten gegenüber seinen Gläubigern anzuerkennen». Sie verpflichtete sich dazu «jede neue Maßnahme voll zu finanzieren und keine einseitigen Maßnahmen zu ergreifen, die die Budgetziele, die wirtschaftliche Erholung oder die finanzielle Stabilität untergraben könnten». Das einzige, worum sie bat, war die Einführung einer «Flexibilität», die «substantielle Reformen» erlauben würde, um «den Lebensstandard von Millionen griechischer Bürger wiederherzustellen». Und das ist kein leeres Wort. Jedes vierte Schulkind in Griechenland leidet Hunger. Fast die Hälfte der Bevölkerung hat aufgehört, sich im Krankheitsfall behandeln zu lassen. Die Zahl der Selbstmorde ist in den vergangenen fünf Jahren um 40% gestiegen.

Das hat aber in Berlin niemanden zu Tränen gerührt. Ein paar Stunden später ist die Antwort ertönt, ein «Nein» das zugleich gebieterisch und verächtlich war. Aus Kommentaren, die über den Umweg Edward Conways durchgesickert sind, den leitenden Wirtschaftsredakteur der britischen Sky News, und dann über Reuters, erfährt man, welche demütigenden und beleidigenden Bedingungen die Berliner Regierung für ihre Zustimmung stellte. Sie will nicht weniger als eine totale Kapitulation der griechischen Regierung und ihr einen Knebelvertrag diktieren, einen karthagischen Frieden, bei dem die frei gewählte Regierung für jede geplante Änderung seiner Wirtschaftspolitik die vorherige Zustimmung der «Troika» einholen muss. Mit anderen Worten, man verweigert Athen das geringste Maß an Souveränität.

Wie soll man in dieser Einstellung nicht das ferne Echo des Ultimatums erkennen, das das österreichisch-ungarische Kaiserreich Serbien gestellt hatte und welches den Ersten Weltkrieg auslöste? Wie soll man darin nicht die Arroganz Hitlerdeutschlands sehen, das im Mai 1941 Jugoslawien und Griechenland ein weiteres Ultimatum stellte? Frau Merkel sollte aufpassen. Ihr Verhalten erinnert immer mehr an das, was man an Deutschland am meisten hasst. Man könnte übrigens auch Frau Merkels Erinnerung auffrischen, zum Beispiel an die diversen Gelegenheiten, bei denen Deutschland profitiert hat von einem partiellen Schuldenschnitt (Dawes-Plan, Young-Plan, Übereinkunft von 1953) oder an die ultimativen Konsequenzen der germanischen Hybris, die vor 70 Jahren die Streitkräfte der roten Armee nach Berlin geführt hat.

Deutschland ist besser als Frau Merkel

Wir wissen aber natürlich, dass Frau Merkel nicht für ganz Deutschland steht, wo andere Stimmen, ob in der Partei der «Grünen» oder bei «Die Linke» oder sogar in der SPD und bei den Gewerkschaften, sich regen. Nicht ganz Deutschland identifiziert sich mit der merkantilistischen Politik, die seit 2003 gefahren wird. Nicht ganz Deutschland erkennt sich wieder in dieser Gläubiger-Politik. Denn ein guter Teil Deutschlands leidet darunter, man weiß zum Beispiel, dass die Zahl der Arbeitnehmer (in Vollzeit), die weniger als das den Mindestlohn verdient, nie so groß war, mit mehr als 7 Millionen Arbeitern. Die Investitionen in die Infrastruktur waren nie auf so niedrigem Niveau, was heute ein Problem für die Bevölkerung darstellt (es ist bekannt, dass die Zugverspätungen in Deutschland praktisch dreimal so hoch sind wie in Frankreich), aber auch für die Industrie und die Wirtschaft im allgemeinen. Diese Politik dient tatsächlich nur einer kleinen Minderheit.

Aber diese Minderheit hat einen Teil der Bevölkerung von der Logik ihrer Politik überzeugt. Deshalb ist Frau Merkel heute Kanzlerin, und deshalb verhält sich die SPD, die gemeinsam mit ihr in der Regierung sitzt, so zaghaft und so willfährig

Es ist eine Regel der Demokratie: Die Regierung, die man gewählt hat, repräsentiert einen, und man wird mit der Politik dieser Regierung identifiziert, außer man nimmt aktiv dagegen Stellung. Die Geschichte lacht diejenigen aus, die dabei nur Zuschauer sein wollen.

Deutschland in unseren Köpfen

Man muss Deutschland, oder genau genommen die vorgefasste Meinung, dass die Merkel-Schäuble-Politik das Musterbeispiel der Effektivität sei, auch in unseren Köpfen sehen. Die morbide Faszination, die Deutschland, das am schlimmsten davon befallen ist, auf die französischen Eliten ausübt, schreit förmlich nach einer Massenpsychoanalyse, falls so etwas möglich wäre. Man kann, man muss darin das ferne Echo der Niederlage von 1940 sehen und ein Sich-dem-Schicksal-überlassen, dessen sich die französischen Eliten, sowohl der Rechten als auch der Linken, schuldig machen. Die Freiheit, die Republik und die Ehre sind nur von einer Handvoll Ausgestoßener gerettet worden, «himmlischer Penner», um eine Formulierung Romain Garys aufzunehmen, der selbst der kleine Jude aus Wilna war. Im Grunde, und das sieht man gestern wie heute, ist es die Aufgabe der Souveränität, aus der sich diese Politik der Unterwerfung speist. Man erkennt, wie heute in der Sprache der französischen Rechten, aber auch in einem Teil der Linken, die guten alten Zeiten der Sichtweisen von Vichy wieder aufleben, nicht wahr, Herr Manuel Valls oder Herr Emmanuel Macron, mit dieser permanenten Anklage der Bevölkerung, sich nicht genug anzustrengen, nicht genug leiden zu wollen. In dieser Denke und dieser Politik steckt eine sado-masochistische Dimension. Aber diese Dimension ist nicht nur Widerschein eines zu lange verdrängten Unbewussten. Sie ist auch ein Ausdruck von Interessen, die man klar identifizieren kann.

Sagen wir es also: Dieses Deutschland kann man hassen.

Falls es morgen triumphieren sollte, falls es die Hoffnung der Griechen auslöschen sollte mit dem, wofür es steht, dann soll es wissen, dass unsere Entschlossenheit, uns ihm entgegenzustellen und es zu zerstören, erbarmungslos sein wird. Auch der Nationalsozialismus ist unter den Ketten sowjetischer Panzer gestorben.

Soweit der Text von Jacques Sapir. Hier die angekündigten Ergänzungen:

Der Werteverlust jener, die besonders oft von Wertegemeinschaft sprechen

Wenn Sie die öffentliche Debatte in Deutschland verfolgen, wird Ihnen schon aufgefallen sein, wie oft für den Westen in Anspruch genommen wird, wir lebten in einer Wertegemeinschaft. Richtig ist schon, dass wir in einer Gemeinschaft leben. Dass diese von Werte geprägt sei, stimmt schon lange nicht mehr.

Der Umgang mit den Schwachen in unserer eigenen Gesellschaft, mit jenen die keine Arbeit haben oder Arbeit suchen, ist nicht an Werten orientiert. Die Regierung ist für die Oberen da. Je mehr sie haben, umso mehr „Pferdeäpfel“ fallen für die Masse ab. So die schon von Ronald Reagan und Margret Thatcher gepflegte Vorstellung, die sich in der Oberschicht unter dem Einfluss der politischen Führung durchgesetzt hat.

Im Umgang mit dem griechischen Volk wird beispielhaft sichtbar, dass dessen soziale Lage, dass der Ausfall der medizinischen Versorgung für einen beachtlichen Teil des griechischen Volkes, die extrem hohe Arbeitslosigkeit, das Fehlen einer beruflichen Perspektive für die Mehrheit der Jugendlichen und der deutliche Anstieg der Selbstmorde die führenden politischen Kräfte offensichtlich völlig kalt lässt.

Letzthin wurde der deutsche Innenminister de Maizière vom Deutschlandfunk interviewt. Es ging dabei um Zuwanderung. Dabei stellte dieser Christdemokrat vor allem ökonomische Erwägungen an: Was nutzen uns die jungen Zuwanderer, die aus ihren Ländern flüchten oder die ihrer Länder verlassen, weil sie als Griechen oder Spanier dort keine Perspektive mehr haben. Viel, so der Innenminister meinungsführend Wir profitieren von der Not der anderen – das ist die unausgesprochene und sogar ausgesprochene Mentalität der herrschenden konservativen Kreise in Politik und Wirtschaft. In meiner Heimat sprach man im Blick auf solche Personen von Koofmich-Seelen. Sie bestimmen heute die Führung von CDU und CSU – und leider auch weite Teile der SPD-Führung.

Schäubles Verhalten gegenüber Griechenland ist vom selben Geist geprägt, kombiniert mit einer eigenartigen menschenverachtenden Grundeinstellung und Hybris. Sapir spricht im Blick auf frühere Zeiten von einer germanischen Hybris.

Die seelischen Ab- und Hintergründe?

Ich kann das Verhalten zum Beispiel von Wolfgang Schäuble nicht verstehen und gerate deshalb laienhaft ins Grübeln über nur psychologisch zu verstehende Zusammenhänge und zu Grunde liegende Erfahrungen. Hat die Rücksichtslosigkeit im Umgang mit den Menschen, die ja vom harten Umgang mit der griechischen Regierung direkt betroffen sind, irgendwelche Hintergründe, die man mit reiner Vernunft nicht zu ergründen vermag?

Wie ist zu erklären, dass Merkel und wohl auch Schäuble in Deutschland so bewundert werden und dass, wie der Autor Jacques Sapir berichtet, auch „französische Eliten, sowohl der Rechten als auch der Linken“ von dieser „morbiden Faszination“ erfasst sind?

Leider kommt man mit Versuchen zur rationalen Erklärung dieser offensichtlich zerstörerischen Entwicklung im Euro-Europa nicht weiter, genauso wenig wie beim Versuch der Erklärung des Aufreißens und der aggressiven Pflege eines neuen Ost-West-Konfliktes.

Wir waren schon so viel weiter in der Politik und sind jetzt in die Fänge von seelisch kranken Menschen geraten. Das wäre meine laienhafte Erklärung für manche Fehlentwicklung.