Wider das Davonstehlen vor der Geschichte – Der Briefwechsel zwischen Rudi Dutschke und Peter Paul Zahl ist endlich veröffentlicht

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Gut zwei Wochen nach dem Tod von Rudi Dutschke schlägt Peter-Paul Zahl Helmut Gollwitzer im Januar 1980 vor, den Briefwechsel zwischen ihm und Dutschke zu veröffentlichen. Der Schriftsteller, der zu dieser Zeit bereits gut sieben Jahre im Gefängnis sitzt, hatte erfahren, dass Gollwitzer mit dem Rowohlt-Verlag über die Herausgabe von Dutschkes Aufsätzen verhandelt und war „schlicht entsetzt“, denn: „Ich hielte es für einen riesigen Opportunismus, mit Rudis Arbeiten zu einem bürgerlichen Verlag zu gehen; zudem zu einem, der Zensur übt.“ Schließlich seien die Texte in der kapitalistischen Welt nur eins: Tauschwert. Dagegen setzte er den Vorschlag, die „ungemein anregende“ Korrespondenz zwischen den beiden zu veröffentlichen. Eine Rezension von Helge Buttkereit

„Jede Frage Rudis – und er stellte so viele Fragen und provozierte ein jedes Mal intensive Fragen und Antworten! War ‘Retten der Erbschaft’, ist die ‘Negation von Nostalgie und Geschichtsbetrug’“, zitiert Zahl aus Dutschkes Briefen und trifft damit – wie wir jetzt sagen können – den Kern der Auseinandersetzung zwischen zwei sehr unterschiedlichen Protagonisten der antiautoritären Revolte der 1960er Jahre, die auch zehn Jahre nach 1968 um eine bessere Welt ringen. Zahls Vorschlag blieb ungehört, die Texte Dutschkes wurden, unsystematisch, teilweise stark redigiert und gekürzt, Anfang der 1980er Jahre unter anderem in zwei Bänden bei Rowohlt veröffentlicht und wie von Zahl vorhergesehen später verramscht. Der Briefwechsel in dem es unter anderem um eine komplette Überarbeitung von Dutschkes „Bibliographie des revolutionären Sozialismus“ ging, blieb unveröffentlicht. Bis jetzt.

Auf gut 250 Druckseiten – dazu kommt ein umfangreicher Anhang sowie ein Vorwort zum Verhältnis der beiden Protagonisten – ist dabei ein Dokument herausgekommen, das auch heute noch wichtige Fragen der Gegenwart zu klären hilft. Es ist besonders die Auseinandersetzung um die eigene Geschichte, die Geschichte der antiautoritären Bewegung und die Stellung der beiden Briefpartner in ihr, die die Lektüre der Briefe auch noch 35 Jahre später so fruchtbar macht. Gelingt es Dutschke und Zahl doch, ihre jeweils eigene Position historisch zu verorten, ihre „Erbschaft zu retten“, wie es Dutschkes ausdrückt. Sie binden dabei ihre Aussagen immer wieder an die aktuellen Kämpfe und aktuellen Aufgaben und Analysen zurück, wobei an dieser Stelle insbesondere auf die Analyse des Realsozialismus zu verweisen ist.

Dutschke hatte einige Jahre zuvor in seiner Doktorarbeit die russische Revolution historisch-materialistisch untersucht und das politische System der Sowjetunion nach diversen Kritiken an seiner Arbeit und der Zusammenarbeit mit dem ehemaligen Spanienkämpfer Günther Berkhahn mittlerweile auf den Begriff „Staatssklaverei“ gebracht. Grundlage der Analyse war Marx’ Begriff der „asiatischen Produktionsweise“. Diese Grundformation in der Geschichtstheorie von Marx wurde im Ostblock kaum beachtet bis ignoriert, was sich auch daran ablesen lässt, dass eines der wichtigsten Werke von Marx zur russischen Geschichte – die „Geschichte der Geheimdiplomatie des 18. Jahrhunderts“ – nicht in die offizielle Werkausgabe aufgenommen wurde. Auf Grundlage von Marx konnte Dutschke gemeinsam mit Berkhahn die Kontinuität der asiatischen Produktionsweise in der russischen Geschichte, in der sich die „Staatssklaverei“ durchgesetzt hatte, bis in die Zeit der Sowjetunion nachweisen.

Den so gewonnenen Begriff der Staatssklaverei stellte er der „Lohnsklaverei“ im kapitalistischen Westen gegenüber. Zahl wiederum spricht in den Briefen immer wieder vom „realen Dingsbums“ oder von einem Tick Dutschkes, sich so auf die Analyse von Ostblock und auch der DDR zu stürzen, während ihm selbst (und den größten Teilen der damaligen Linken) der Westen oder auch Lateinamerika näher war als die Landsleute jenseits der Mauer. Die Verknotung von Sozialismusfrage und der Frage nach der deutschen Geschichte, die Dutschke sah, war für Zahl nicht gegeben. So lässt sich an der Auseinandersetzung zwischen beiden sehr gut darstellen, was eines der Dilemmata der Geschichte der deutschen Linken ist, die sich fortwährend aus der eigenen Geschichte stiehlt.

Während sich Zahl – und hier gleicht er den meisten Linken bis heute – seit der Flucht seiner Familie aus der DDR 1953 seines „Deutschseins“ schämte, geht es Dutschke „allein darum, theoretisch und politisch klarzumachen, wie dieses Zentrum Mitteleuropa sich nicht davonstehlen kann, erst recht nicht die Sozialisten, Kommunisten und Demokraten europäischer Klassenkampfgeschichte, – diese komischen Deutschen kommen da nicht drum rum, es sei denn, sie stehlen sich davon, haben den Schwanz eingezogen oder sind mit dem bestehenden ‘Status Quo’ der herrschenden Supermächte einverstanden, ‘Leben’ mit Atombomben und schwelenden Krisen.“ Natürlich hätten die Amerikaner, die imperialistische Supermacht die überall auf der Welt wie auch die Sowjetunion jede „radikale sozialistische Wendung“ ausschalten wollen, Deutschland vom Faschismus befreit. Das deutsche Volk, die deutsche Arbeiterklasse war dazu unfähig. „Verlieren wir aber damit das Recht aufrecht gehen zu lernen?“, fragt Dutschke.

Seine Briefe zeugen davon, wie sehr er selbst die Maxime des Lernprozesses, der Selbstveränderung der Revolutionäre, der stetigen Infragestellung der einmal gewonnen Position verinnerlicht hat und in die Tat umsetzt. Dies ist in gewisser Weise auch das Verdienst von Zahl, der Dutschke immer wieder vor neue Aufgaben der Reflexion stellt, der ihn anregt. Zahls Verstocktheit gerade in der Frage der deutschen und realsozialistischen Geschichte und Gegenwart führt Dutschke so auch immer wieder zu erneuten Anläufen der Erklärungen. Wenn Zahl davon spricht, dass es in den 1960er Jahren einen „Dutschkismus“ gegeben habe, dann sehen wir ihn hier in den Briefen Dutschkes immer wieder manifest werden.

Dass von einem „Dutschkismus“ im Sinne einer antiautoritären politischen Theorie gesprochen werden kann, hat parallel zur Veröffentlichung des Briefwechsels Carsten Prien nachgewiesen. „Im individuellen Selbstbewusstsein eines Einzelnen, der sich selbst als geschichtliches Wesen zu begreifen versucht, wird zugleich eine bestimmte historische Situation ihrer selbst bewusst“, schreibt er zur Erläuterung des Begriffes in seinem Buch mit dem gleichen Titel. Im Briefwechsel zwischen Zahl und Dutschke wird deutlich, was dies konkret auf Grundlage der unverfälschten Originaltexte heißt. Vor diesem Hintergrund ist er – trotz aller editorischer Mängel, die eine Rezeption durch fehlende Kommentierung erschweren – mit großem Gewinn zu lesen und für die geschichtslose Linke der Bundesrepublik (und darüber hinaus) im Sinne von Karl Marx ein Geschichtsbuch zur Selbstveränderung und der Veränderung der Umstände.

Mut und Wut. Rudi Dutschke und Peter-Paul Zahl. Briefwechsel 1978/79. Bearbeitet von Gretchen Dutschke, Christoph Ludszuweit und Peter-Paul Zahl. Edition Stadtmuseum „Berliner Subjekte“, Verlag M, Berlin 2015, 342 Seiten, 24,90 Euro

Carsten Prien, Dutschkismus. Die politische Theorie Rudi Dutschkes. Mit einem Text von Rudi Dutschke & Günter Berkhahn, Über die allgemeine reale Staatssklaverei, Ousia Lesekreis Verlag, Seedorf 2015, 164 Seiten, 10 Euro

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