Franz Schuh: Memoiren. Ein Interview gegen mich selbst – Eine nachgeholte Rezension

Ein Artikel von Petra Frerichs

Manchmal fallen einem Bücher in die Hand, die so viel an Geistesschärfe und politisch-kultureller Relevanz aufweisen, dass man sie weiterempfehlen möchte, auch wenn es sich dabei um keine Neuerscheinung handelt. Dass das Buch des österreichischen Philosophen Franz Schuh schon 2008 erschienen ist, kann kein Argument gegen seine Empfehlung sein. Und wenn es eines aktualisierenden Bezuges bedürfte, ist dieser mindestens im Hinblick auf die Behandlung des Themas Erinnern und Vergessen der Vergangenheit im 70. Jahr nach Kriegsende gegeben. Die eigentliche ‚Unfähigkeit‘ zu trauern liegt … deshalb vor, weil die Leute … über das Geschehene nicht traurig waren; sie waren höchstens darüber traurig, dass sie einen Krieg verloren hatten, und darüber, dass man ihnen eine Schuld an mörderischen Grausamkeiten geben konnte, für die sie sich gar nicht verantwortlich fühlten; und viele glaubten, falls sie den Krieg gewonnen hätten, dann hätte ihnen auch keiner einen Vorwurf gemacht. Die ‚Banalität des Bösen‘ war für sie ein Sachverhalt, der sie nicht berührt hat.
Eine Besprechung von Petra Frerichs

Es ist erstaunlich, über welch eine gute Tradition an kritischen Intellektuellen Österreich und speziell Wien verfügt (dafür stehen bspw. Namen wie Karl Kraus, Ludwig Wittgenstein, Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek, Gerhard Amanshauser, Robert Menasse, Robert Misik u.a.). Hier nun wieder einer ihrer typischen, würdigen Vertreter: Franz Schuh, aus einfachen Verhältnissen stammend, gehört der Nachkriegsgeneration an (Jahrgang 1947), hat Philosophie studiert , über Hegel promoviert und sich auf vielen publizistischen Feldern einen Namen gemacht. Er selbst verortet sich als Philosoph in den Medienberufen, ist freiberuflich tätig und hat eine Reihe von Büchern geschrieben.

Das vorgelegte enthält schon im Titel eine doppelte Ironie: Es heißt nicht ein Interview „mit mir selbst“, sondern „gegen mich selbst“ und verspricht damit eine gewisse Selbstkonfrontation, das Infragestellen seiner selbst; mit der Form des Interviews wird hier gespielt, denn der Interviewer und der Interviewte sind ein und dieselbe Person, die ständig die Rollen wechseln – eine Methode, die der Intention der Konfrontation mit sich selbst entgegenkommt. Von Memoiren im klassischen Sinn kann eigentlich auch keine Rede sein, selbst wenn biographische Bezüge in den behandelten Themen existieren. Neben der ungewöhnlichen Form und Methode sind es vor allem diese Themen und die Art und Weise ihrer Abhandlung sowie die dazugehörige „Denke“ des Autors, die für die Originalität des Bandes sprechen.
Schuh ist ein dialektischer Kopf vor dem Herrn, wie sie leider nicht so oft zu finden sind; seine Argumentation ist voller (Selbst-)Ironie; er denkt in Widersprüchen, lässt nichts unhinterfragt und niemanden ungeschoren; Kritik als methodische Denkungsart hat er von der Pieke auf (bei Hegel und Marx) gelernt und versteht sie bestens anzuwenden.

Hier gleich ein erstes Beispiel: Schuhs Kritik am Literarischen Quartett, das er als eine Art von Reality Soap betrachtet:

Das ZDF kommt ins Haus und sieht nach, was ein paar Zeitungs- oder Universitätsangestellte, die sofort ein paar Bücher vom Regal nehmen, gerade bewegt. Vor der Kamera benehmen sie sich so schlecht sie nur können, und einer gewinnt immer, weil er das am besten kann. Das war lustig, das war eine Spaßgesellschaft, und ohne Zweifel war Intelligenz beteiligt. Aber mein Einwand gilt dem Gefälle von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, auf dem ich hier selbst, wie ich glaube, legitim segle. Da ich ein begeisterter Schreiber und ein begeisterter Leser bin, verachte ich es, wenn die Kritik sich dem Medium des Kritisierens entzieht. Lese ich von Herrn Karasek einen Satz, weiß ich sofort alles – aber reden tut er ja ganz gut. Angesichts der Fluchtmöglichkeit in die Rhetorik lassen sich ausgerechnet die redenden Kritiker nicht zur Rede stellen. Durch diese hervorstechenden, alle anderen überredenden Redner hat die Kritik die gemeinsame Basis mit der Literatur, die Schriftsprache, verlassen. Was aber die medialen Formen betrifft, erschien mir die Sendung völlig reaktionär: Bestimmte Persönlichkeiten hatten die Möglichkeit, sich als unreformierbar darzustellen; das hatte einen psychologischen und gruppendynamischen Sinn, aber medial war das vollkommen irrelevant, nämlich bloß theatralisch. Ich musste immer lachen, wenn Mitglieder des Quartetts, manchmal in aggressiv werdender Treuherzigkeit, einem versicherten, wie wichtig diese Sendung sei. Das war ja richtig: Für sie war es eine wichtige Sendung. Auch für mich war es eine wichtige Sendung. Durch sie wurde ich Augenzeuge eines bis heute anhaltenden Phantasmas. Ich sah, dass das Fernsehen eine völlig irre Macht über den Buchmarkt hat. Es ist ein Phantasma, weil diese Macht nur wirkt, indem alle an sie glauben: der Buchhändler, der Autor, sein Kritiker und nicht zuletzt der Verleger. (19f.)

Die Medien, besonders das Fernsehen, bilden einen Themenschwerpunkt des Bandes.
Zum einen als Arbeit- und Auftraggeber: Im Abschnitt Berufsbild hinterfragt Schuh den Status des Freiberuflers im Mediensektor, wägt zwischen der Utopie (Illusion) der Freiheit und der realen Unabhängigkeit (aus eigener Erfahrung) ab, beleuchtet die willkürlichen Selektionsmechanismen, die Meinungsmacht und die Marktgängigkeit des Medienapparats, um schließlich im Strukturwandel der Öffentlichkeit (Habermas) dem Internet und dem Computer die zwiespältige Chance auf radikale Eingriffsmöglichkeiten einzuräumen. Der Schnelligkeit des neuen technischen Zugriffs wohnt allerdings die Gefahr inne, dass diese Schnelligkeit zum letzten Inhalt, zur Botschaft der Arbeit wird: Der spezifische Widerstand des Materials wird ausgetrickst, und die Trickser kennen am Ende … keinen Widerstand mehr. Man darf glauben, dass die Technik kein unschuldiges Mittel ist, sondern dass sie die Inhalte, das Zugelassene und das Ausgeschlossene, selektiert, mit auswählt. Ja, das ist letztlich eine Zukunftsfrage der Medienberufe: die technisch ermöglichte Automatik einerseits und andererseits die alte, nicht überholte Selbstreflexion der Menschen in ihrer Gesellschaft, das, was so schön Öffentlichkeit heißt. (75)

Zum anderen lernt man Franz Schuh als Medienkonsumenten kennen, wobei seine Vorlieben nicht unbedingt in der sogenannten Hochkultur (sofern das Fernsehen diese überhaupt bedient) liegen, sondern ganz im Gegenteil: im Trash, im Müll oder Abfall. Was gewinnt, so fragt man sich, ein Intellektueller einer US-amerikanischen Comic-Serie wie den Simpsons ab?

Hierzu sagt Schuh:

Einerseits habe ich eine extreme Neigung zur Vereinsamung, in der ich mit den wertlosen Kommunikationsperlen spiele, die mir das fürsorgliche Fernsehen hinwirft. Die Eingeborenen, die Masseneremiten bekommen was hingeworfen, was die Leute, die vor Kommunikation platzen, fallen lassen. Das macht Freude, wenn die Unterhaltungsspezialisten ihre Perlen vor die Säue werfen. Andererseits muss man bedenken, dass mit Trash viel Geld verdient werden kann, und dass überall, wo Geld im Überfluss verdient wird, nolens volens eine Wahrheit über unsere Gesellschaft entweder offen gesagt wird oder schlicht begraben liegt. Außerdem finden sich überall, wo Geld im Übermaß verdient wird, hochintelligente Menschen ein. Dass sie gekauft sind, beeinträchtigt – zumindest an der Oberfläche – ihren intellektuellen Status nicht. Schon lange arbeite ich an diesen unübersichtlichen Schreibtischen hier, in dieser Wohnung genannten Abgrenzung von einer Außenwelt, über den Begriff des Ich. Naja, und dann dreh ich den Fernseher auf, und Lisa Simpson sagt plötzlich: ‚Ich selbst sein, hat nicht funktioniert, und jemand anders sein hat auch nicht funktioniert.‘ Man sieht, dass mitten im Trash veritable philosophische Aussagen zu finden sind. Und zwar nicht allein die Aussagen, sondern auch die Performance, die Gesten, die mit diesen Aussagen Hand in Hand gehen. (14)

In den Simpsons sieht Schuh zugleich den Ernst und die Parodie einer amerikanischen Familienserie. Diese zählt er ausdrücklich nicht selbst zum Trash, obwohl die Serie in diesem Kontext läuft. Denn sie sei manchmal ebenso lehrreich wie ein Exemplar der Edition Akzente. Auf die Frage, woher der Drang von Intellektuellen komme, eine Comic-Serie in den Rang von Weltliteratur (es war im Abschnitt Kleine Figuren, also dem über die Simpsons, schließlich auch von Montaigne, Peter Handke, Botho Strauß und Raymond Queneau die Rede, Amn. PF) zu erheben, antwortet Schuh:

Das kommt daher, weil dieser regressive Genuss, der einem von den Simpsons auch bereitet wird, vom Durchschnittsgebildeten – vor allem europäischer Natur – kaum ausgehalten wird. Man muss sich einen solchen Genuss versagen, man muss gegen die eigene Kindlichkeit antreten, um aus diesem Unernst, der einem so viel Freude macht, irgendwas Ernstes hervorzubringen. Quod erat demonstrandum. Aber andererseits steckt in der Serie sehr viel Intelligenz, die man herausarbeiten möchte, damit sie nicht im Spaß verloren geht. … Ich sehe die ‚Simpsons‘ in zweierlei Zusammenhängen: Fernsehen (und durch das Fernsehen die ganze Unterhaltungsindustrie) ist erstens unerträglich. Fernsehen ist prinzipiell ein solcher Mist, dass es sich überhaupt nur legitimieren kann, wenn auf diesem Mist gleichzeitig die Parodien auf das Fernsehen wachsen. Parodien, die diesen Mist benützen, ihn damit zugleich stabilisieren, die ihn im Benützen aber auch übertreffen, ihn in den Schatten stellen. (55f.)

Am scheinbar banalen Gegenstand wird dialektisches Denken exerziert – ein treffendes Beispiel für die intellektuelle Herangehensweise des Autors.

Franz Schuh ist ein sperriger, politisch denkender Zeitgenosse, der auch auf den sogenannten Eigensinn der Zweiten Österreichischen Republik nur mit Ironie oder Sarkasmus blicken kann. Immer wieder bilden die nationalsozialistische Vergangenheit und der vermeintlich glatte Wechsel zur Demokratie, Kontinuitäten im System, Erinnern und Vergessen einen thematischen Fokus im Band. Da bezieht er sich beispielsweise auf einen Film, der einen Auftritt der Wiener Sängerknaben vor britischen Soldaten (also eine der Siegermächte) 1945 zeigt. Den Konstümwechsel von der Nazi-Uniform zur Lederhose nimmt er symptomatisch:

Die Bilder … sind großartig, von großer Wahrheit. Sie sind das allerbeste Material für wirkliche Erinnerung (auch des nicht Selbsterlebten), und von diesen Bildern wurden mir einige zu einem Bild, das mich seiner Ambivalenz wegen ratlos macht. Da zeigt der Film die Wiener Sängerknaben; sie sind auf dem Land in Sicherheit, gerade noch haben sie ein NS-Kostüm getragen, eine Uniform, das Hakenkreuz gut sichtbar. Aber jetzt ist der Krieg zu Ende, die Engländer sind schon in der Nähe, jetzt heißt es umziehen, genauer: sich umziehen, und die Sängerknaben schlüpfen schnell in Lederhosen. Da – ein professionell militärisch-misstrauischer Trupp Engländer naht, die Sängerknaben haben Aufstellung genommen, die Engländer stehen vor ihnen, die Sängerknaben singen, ihre glockenhellen Stimmen erklingen, und – blame me! – was singen sie? Sie singen: ‚God safe the King‘.
Das ist eine Allegorie. Überlegt man, was sie bedeutet, kann man krank werden. … (I)st diese Interaktion inmitten der ländlichen Idylle, in der mit leichter Hand ein folgenschwerer Kostümwechsel stattfindet, ist sie nicht so etwas wie der eigentliche Eigensinn der Zweiten Republik oder wenigsten ein … wesentlicher Teil davon?

Die Knaben, so führt er weiter aus, hatten sich verhalten, als wären die Engländer Touristen, denen man im gut geführten Fremdenverkehrsbetrieb ein Ständchen bringt. Die Soldaten seien unter der Hand zum Publikum geworden: Eine perfekte Inszenierung der Realitätsverleugnung, einschließlich der Prämisse, Engländer seien Menschen, die sich dort willkommen fühlen, wo man ihnen ihre Hymne singt. (111f.)

Verleugnen (von Realität, von Schuld), Verdrängen, Vergessen – diesen Aspekten des Umgangs mit der Vergangenheit (vor dem Hintergrund politisch verordneter Erinnerung v.a. an Gedenktagen) sind im Kapitel Zum Vergessen konzentriert festgehalten (in meinen Augen das wichtigste im ganzen Band, auch weil es so komplex und vielschichtig angelegt ist).

Da geht es zunächst um die Frage, wie historische Ereignisse wie der Massentod des Ersten Weltkriegs, die Nazi-Herrschaft, die Judenvernichtung oder Folter zum Gegenstand in der Kunst gemacht werden können, interessanterweise aber unter dem Thema Vergessen in der Kunst, über das Schuh eine Lehrveranstaltung an der Wiener Universität gehalten hat.

Ihn interessiert daran, wie das Unausdenkbare, das nichtsdestoweniger real stattgefunden hat, künstlerisch darstellbar ist. Wie vergegenwärtigen die Künstler Geschehnisse, die sich per se sowohl den Künstlern als auch der Allgemeinheit der Kunst entziehen? Statt vergegenwärtigen könnte man auch erinnern sagen. Und eine seiner Antworten lautet:

Die wichtigste humanitäre und moralische Frage der Erinnerungsarbeit scheint mir darin zu bestehen, dass man nicht glaubt, die Erinnerung würde das Geschehene jemals abdecken können. Es geht ganz wesentlich darum, dass das reale Ereignis und die Erinnerung eine Differenz darstellen, und diese Differenz muss gegen alle Gedenkkulturen und gegen alle Gedenkroutinen in irgendeiner Form mit dargestellt werden. Andersfalls werden die Routinen des Gedenkens zu idiotischen Phrasen, die im Sinne einer Ablassveranstaltung suggerieren, das Erinnern könne dem Geschehenen Genüge tun. (177)

Gerade weil wir in 2014 und 2015 wieder solche Gedenkjahre hatten/haben, sind Schuhs Reflexionen über die Differenz oder Distanz zwischen den Ereignissen und dem Gedenken an diese Ereignisse so relevant und aktuell. Der künstlerischen Beschäftigung mit diesen Themen legt er verpflichtend nahe, diese Differenz in die Darstellung mit einzubeziehen, sie selbst mit zu ihrem Gegenstand zu machen; ansonsten trüge sie – womöglich wider Willen – mit dazu bei, Verzerrungen, Glättungen etc. in der Erinnerung Vorschub zu leisten und das kollektive Gewissen der Nation zu beruhigen statt es wachzurütteln.

Schuh differenziert weiter zwischen Erfahrung (eigener und fremder) und Erinnerung, willkürlicher und unwillkürlicher sowie aufgeschobener Erinnerung und kommt so zu einer Art Typologie im komplizierten Verhältnis von Erinnern und Vergessen, heruntergebrochen bis auf die Individualebene des Gedächtnisses und der Gedächtnislücken. Um dann aber wieder auf das kollektive Phänomen der Unfähigkeit zu trauern (Mitscherlich) zu sprechen zu kommen:

Meine These ist also, dass die Mehrheiten eben nicht verdrängt haben, sondern dass sie schlicht ungerührt geblieben sind, und dass daher die Versuche, ihnen ihre Verantwortung in Erinnerung zu rufen, deshalb ins Leere zielten, weil man von den Leuten gleichzeitig verlangte, sie sollten auch berührt davon sein, sie sollten darüber trauern. Dafür aber sahen sie keinen Grund. (181)

Dass weniger Verdrängung vorliegt als eine kollektive oder strukturelle Gleichgültigkeit, eine Gefühllosigkeit und ein unsäglicher Mangel an Empathie, verbunden mit der weit verbreiteten Auffassung, mit dem Grauen nichts zu tun zu haben und folglich dafür nicht verantwortlich gemacht werden zu können, ist eine starke Erklärung dafür, dass auch Erinnerungsappelle bei der Mehrheit ins Leere laufen, zumindest zu hohlen Ritualen verkommen.

Dieser Geisteshaltung entspricht Schuh zufolge das, was der Sozialphilosoph Hermann Lübbe das kommunikative Beschweigen genannt hat – ein verheerendes Phänomen, mit dem der Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen werden soll oder wird. Um sich an den Aufbau zu machen, muss der Blick ungetrübt nach vorne gerichtet sein; gemäß dieses dahintersteckenden Arguments:

Man kann nur dann sinnvoll weitermachen und aufbauen, wenn man die Erinnerung nicht als Dauerreflexion etabliert. Der Ausdruck ‚Aufbau‘ mit seinem Implement an faschistoidem Heroismus ist bereits verräterisch: Schon wieder handelt es sich um Bauten, bei deren Errichtung Reflexion, also Nachdenklichkeit hinderlich wäre. (185)

Das sogenannte Wirtschaftswunder ist auch das Resultat des kommunikativen Beschweigens, das Schuh für pathologisch erachtet.
Dieses Schweigen aufzubrechen, war ein zentrales Motiv der 68er Protestbewegung; ein weiteres und noch stärkeres Motiv war die Präsenz dieser Vergangenheit in Gestalt von restaurativen Tendenzen in Wirtschaft, Politik und öffentlichen Institutionen sowie von Personen, die trotz ihrer Nazi-Biographie politische Ämter bekleideten.

Franz Schuh gewinnt dem Thema des Vergessens noch eine weitere Variante ab. So ist für ihn die Strategie des Vergessens der sogenannten großen Erzählungen, wie sie die Postmoderne proklamiert, eine große Zumutung. Er bezweifelt das Ende der großen Erzählungen und hält bereits den Ausdruck, geschweige denn das Gemeinte für inakzeptabel.

Wenn es so ist, dass man die Erzählungen vergessen kann (also alles vergessen kann, was die Menschen einmal sein und von sich sagen wollten), wenn es so ist, dass das vorhin erwähnte Vergessen wirklich eine reale Basis hat und nicht nur auf der Behauptung eines Philosophen basiert (erstens könnte man der Erzählung von Ende der großen Erzählungen auch wie einer kleinen Erzählung lauschen, die groß werden will, und zweitens ist der Ausdruck ‚Erzählen‘ selbst ziemlich fragwürdig), wenn man das alles vergessen kann, dann ist praktisch nichts mehr vorhanden außer einer Art von Flachheit, die dann allerdings die Conditio humana wäre. (198)

Als Auswuchs solcher Flachheit der Geisteshaltung führt er beispielshaft den ersten gemeinsamen Fernseh-Auftritt von Harald Schmidt und Pocher mit ihrem „Nazometer“ auf, mittels dessen spaßeshalber die political (in-)correctness gemessen werden kann; der Apparat fiept immer dann, wenn in Gesprächen Ausdrücke wie Gasherde, Duschen etc. fallen. Hier ist wohl eher von Geschmacklosigkeit und Mangel an politischem Instinkt als von Satire zu sprechen.

Es gibt noch etliche interessante Aspekte und Themen in diesem Band, so beispielsweise die Frage nach Franz Schuhs Selbstverständnis angesichts seiner Vielseitigkeit – ob er sich als Philosoph, Kulturkritiker, Essayist oder Schriftsteller definiere, alles Felder, auf denen er tätig ist.

Wie er sich als Schriftsteller sieht, beantwortet er indirekt, bescheiden und mit der gebotenen ironischen Distanz:

Zunächst einmal sehe ich mich gar nicht als Schriftsteller, denn Schriftsteller ist das Produkt gesellschaftlicher Anerkennung. … Vor Ihnen ist jemand, der heute in der Früh seinen Blutdruck gemessen hat und entsetzt war über dessen Höhe. … Das ist zugleich jemand, der in der Fußgängerzone des zehnten Bezirks auf und ab ging und dieses Leben dort beobachtete. Und das ist jemand, der sich wünscht, im zehnten Bezirk eine Kleinwohnung als Arbeitsraum zu haben. Das ist jemand, der am Abend das Fernsehprogramm sieht und über das uniformierte Fernsehen so ähnlich entsetzt ist wie beim Blutdruckmessen, dass also bei 38 Sendern auf jedem einzelnen dasselbe Programm steht – diese gleichgeschaltete Fülle, ein Faszinosum. Das ist jemand, der in einem Wiener Vorstadtbezirk eine Geschichte hat, das heißt, das ist jemand, der zerfällt und sich im Zerfallen gleichzeitig doch eine unterschwellige Identität bewahrt, die er wortlos erduldet, also nicht einmal dann aussprechen kann, wenn er es unbedingt will. (121f.)

Auch als Gelehrter will er sich selbst nicht verstehen, obwohl er der Philosophie alles an Welterklären und kritischem Denken verdankt.

Ich wäre gerne ein Gelehrter und gerne ein Philosoph. Aber so wie Deleuze in seinem Beruf das Arbeiten am nächsten steht, ist es bei mir das Irren. … Und was den Philosophen betrifft, so ist der Terminus ursprünglich eine Formel der Bescheidenheit: Philosoph ist eben nicht der Weise, sondern der, der die Weisheit liebt, sie also dezidiert nicht hat. … Kein Mensch ist ‚ein Philosoph‘, bloß weil er Philosophie studiert hat. In diesem Sinne bin ich kein Philosoph, denn ich habe bloß Philosophie studiert. … Wenn sie die Liebe zur Weisheit ist, dann liebe ich die Liebe zur Weisheit. (213f.)

Man könnte den Eindruck gewinnen, Schuh kokettiere ein wenig mit seinem Status oder seiner Identität; doch das bestätigt sich schon deshalb nicht, weil der Stil seines Denkens und Schreiben ein durch und durch ironischer ist, und Selbstironie ist eine seiner Stärken. Dass Ironie, Dialektik und Kritik durch ein inneres Band verknüpft sind, darauf hat Hegel hingewiesen; und da Schuh ein intimer Hegel-Kenner ist, bei dem er – wie auch bei Marx – das dialektische Denken „gelernt“ hat, wird er auch hier fündig geworden sein, was die Ironie betrifft. Ebenso verhält es sich mit der Kritik, der dritten Säule von Schuhs Denkungsart.

Zum Abschluss noch ein letztes Beispiel, das von besonderem Humor mit Augenzwinkern zeugt: Es geht um die Frage, ob Schuh Materialist sei.

Damit begebe man sich in die Welt der Gegenstände, der Dinge, und wenn es ein Ding gebe, das ihm wichtig sei, so sei das seine Tasche. Eine ganz gewöhnliche Tasche, die aber viele Fächer aufweist, die wiederum die Möglichkeit bieten, eine gewisse Ordnung in seine laufenden Sachen zu bringen.

Ich habe, wie alle Menschen, ein Ordnungsproblem. Die einen haben ihr Ordnungsproblem durch Pedanterie und Starrsinn, und die anderen haben ihr Ordnungsproblem durch Chaos. Ich neige zum Chaos. Und einem Menschen im Chaos sind die Taschen enorm hilfreich. Oder mir insbesondere ist diese Tasche hilfreich. (271)

Und dann erzählt Franz Schuh seinem fiktiven Gesprächspartner minutiös, welche Zettel in welche Seitentaschen kommen, welche Unterlagen er noch für sein laufendes Projekt in welche Vor- und Haupttaschen hineinlegt, um sie immer bei sich zu haben und wiederzufinden, wo seine Schlüssel, wo seine Medikamente ihren Platz finden in dieser Tasche – und so weiter, und so fort.

Es bereitet einem einfach eine Lust am Lesen und Begreifen, wenn man diesen Wiener Intellektuellen, der keiner sein will, sich zu Gemüte führt – ob es sich dabei um die Themen von großem Ernst und Gewicht (wie Vergangenheit, Erinnern und Vergessen bspw.) handelt oder eben um solche wie die Bedeutung einer lächerlichen Tasche.

Franz Schuh: Memoiren. Ein Interview gegen mich selbst, Zsolnay-Verlag Wien 2008

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