Tarnen und Täuschen in der Diskussion über die Hartz-Reform

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Die Diskussion über die Verlängerung des Bezugs von Arbeitslosengeld macht alte Fronten sichtbar. Vordergründig geht es um die Frage, ob es zumutbar und gerecht sein kann, wenn ein lterer Arbeitsloser nach spätestens 18 Monaten auf ein Sozialhilfeniveau heruntergestuft wird und einen Gutteil seiner privaten Altersvorsorge auflösen muss, falls er bis dahin keinen Arbeitsplatz gefunden hat.
Der Streit jedoch wird deswegen so heftig geführt, weil die Kotrahenten sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber haben, wie das Verhältnis zwischen Fördern und Fordern in der Arbeitsmarktpolitik aussehen soll. Ein Beitrag eines Arbeitsmarktfachmanns, der nicht genannt werden möchte.

Ein geradezu primitives Argument der Beck-Kritiker ist die Warnung, dass alle Dämme brechen würden, wenn der Gesetzgeber die Hartz-Reformen an einer Stelle – wenn auch geringfügig und mit guten Gründen – korrigierte. Das ist der Versuch, ein mit heißer Nadel gestricktes Gesetzespaket gegen jeden Verbesserungsvorschlag abzuschotten.
So argumentieren diejenigen, die einseitig im Fordern, im Druck auf die Arbeitslosen, den wirksamsten Hebel der Arbeitsmarktpolitik sehen. Sie behandeln die Arbeitslosen grundsätzlich wie Drückeberger, während sie vergleichbare pauschale Urteile über die eigenen sozialen Gruppen als gesellschaftsfeindlich zurückweisen und bei Fehlleistungen in der eigenen sozialen Gruppe von Einzeltaten einiger schwarzer Schafe sprechen. Hier werden Denkschablonen des Klassenkampfes von gestern reaktiviert.

Die „Verteidiger“ der geltenden Dauer des Bezugs von Arbeitslosengeld täuschen darüber hinweg, dass die Bundesagentur für Arbeit Kernelemente der Hartz-Reform nicht oder unzureichend umsetzt. Hier geht es um die Frage, wie das Verhältnis zwischen Fördern und Fordern derzeit aussieht und wie sich eine Verlängerung des Arbeitslosengeldes für Ältere darauf auswirkt.

Das zentrale Ziel der Hartz-Reform ist es, das Fördern und Fordern zu intensivieren und die Balance zwischen beiden auf hohem Niveau zu sichern. Dabei gibt das Gesetz (Sozialgesetzbuch III) der Vermittlung und der Arbeitsförderung den Vorrang mit dem Ziel, Langzeitarbeitslosigkeit zu vermeiden. Im Gegenzug gibt das Gesetz der Arbeitsverwaltung weitreichende Möglichkeiten, versicherungswidriges Verhalten von Arbeitslosen zu sanktionieren, z. B. die Ablehnung eines zumutbaren Stellenangebots oder einer Fördermaßnahme.

Tatsächlich erfüllt die Bundesagentur diese Vorgaben der Hartz–Reform und des Gesetzes nicht ausreichend. Zwar kümmert sich die Bundesagentur um die Arbeitslosen, die leicht vermittelbar sind, aber sie bleibt bei der Betreuung und den Hilfen für die Arbeitslosen, die nicht oder unzureichend ausgebildet oder mit multiplen Vermittlungshemmnissen belastet sind, weit hinter dem Willen des Gesetzgebers und hinter ihren eigenen (auch finanziellen) Möglichkeiten zurück. Dass das geradezu absichtlich geschieht, lässt sich belegen:

  • Die Haushaltsmittel der Bundesagentur für Eingliederungshilfen werden seit Jahren – auch in Zeiten steigender Massenarbeitslosigkeit – kontinuierlich gekürzt. Die Bundesagentur lädt dazu ein und verschärft den Sparkurs, indem sie seit 2000 – und auch nach Inkrafttreten der Hartz-Reform – von den zugewiesenen Mitteln Jahr für Jahr rd. eine Mrd. € nicht einsetzt, also einspart und damit „Gewinne“ macht.
  • Von den Fördermaßnahmen haben rund 80 % eine Dauer von 1-6 Monaten. Anspuchsvollere Hilfen werden nur selten angeboten. So hat die Bundesagentur 2006 nur 5200 Umschulungen bewilligt.
  • D.h. die Bundesagentur verletzt die Balance zwischen Fördern und Fordern. Sie setzt in erster Linie auf Druck. Das Sonderprogramm „Integrationsfortschritte für Betreuungskunden“ (Arbeitslose mit multiplen Vermittlungshemmnissen) signalisiert noch keinen Kurswechsel. Es bleibt im Hinblick auf sein Volumen und die angebotenen Maßnahmen weit hinter dem zurück, was das Gesetz ohnehin vorsieht.

Die Bundesagentur begründet ihre Politik mit der Behauptung, eine intensivere Förderung „rechnet sich nicht“. Sie sagt das, obwohl ein größerer Teil der Arbeitslosen nicht oder unzureichend qualifiziert ist und selbst im Konjunkturaufschwung kaum Vermittlungschancen hat. Sie sagt das, obwohl europäische Länder, die erfolgreicher als wir Arbeitsmarktpolitk betreiben, intensiv aktive Hilfe leisten und dabei vor allem die Weiterbildung fördern.

In diesem Zusammenhang ist die Aussage von Müntefering zu sehen, wonach er die Mittel, die für eine Verlängerung des Arbeitslosengeldes eingesetzt werden müssten, lieber für zusätzliche Qualifizierungsmaßnahmen ausgeben würde. Hier wird über einen wichtigen Tatbestand hinweggesehen: Das neue Recht gibt schon jetzt den Spielraum, mehr für die Qualifizierung der Arbeitslosen zu tun – auch über die Dauer des Bezugs von Arbeitslosengeld I hinaus. Allerdings ist nicht bekannt, dass der jeweils zuständige Fachminister in den letzten Jahren dazu aufgefordert hätte, wenigstens die vorhandenen finanziellen Spielräume für Qualifizierungsmaßnahmen auszuschöpfen.

Schließlich bleibt in der öffentlichen Diskussion über die Hartz-Reform unerwähnt, und zwar wider besseres Wissen der Fachleute, dass die neue Organisationsstruktur der Arbeitsmarktpolitik der zu kritisierenden Haltung der Bundesagentur Vorschub leistet.

Vor der Reform waren die Vermittlung der Bezieher von Arbeitslosengeld und von Arbeitslosenhilfe, das Fördern und das Fordern. in einer Hand. Es gab einen Graben und Verschiebebahnhöfe zwischen der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe. Das hat die Hartz-Reform beseitigt. Allerdings wurden auf politischer Ebene Kompromisse vereinbart, die dazu führten, dass für die Betreuung der Bezieher von Arbeitslosengeld I und Arbeitslosengeld II unterschiedliche Institutionen zuständig sind. Jetzt gibt die Bundesagentur unversorgte Arbeitslose nach 12, spätestens nach 18 Monaten automatisch an den Hartz IV-Bereich (Sozialgesetzbuch II) ab. Damit ist aus dem früheren Verschiebebahnhof eine Einbahnstraße geworden. Jetzt ist es für die Bundesagentur finanziell attraktiv, anspruchsvollere Maßnahmen zur Betreuung und Qualifizierung von Arbeitslosen nur in Ausnahmefällen zu bewilligen und die unversorgten Fälle in die Langzeitarbeitslosigkeit abzuschieben. Auch das ist eine – fragwürdige – Quelle für die Überschüsse der Bundesagentur.

Eine Verlängerung des Arbeitslosengeldes I würde die Lage der älteren Arbeitslosen auch insofern verbessern, als die Bundesagentur einen größeren Anreiz hätte, sie zu fördern und zu vermitteln.

Was die BA bisher an Zusammenarbeit mit den SGB II-Institutionen anbietet, hat eher Alibicharakter. Mit einer Verbesserung der misslungenen Organisationsstrukturen kann auf absehbare Zeit ebenfalls nicht gerechnet werden. Es wäre daher verdienstvoll, wenn die Politik und der zuständige Fachminister für eine zuverlässige Verzahnung der beiden Regelkreise sorgen würden.

Bei dieser Sachlage ist es nicht nachvollziehbar, wenn die Gegner Beck-Initiative jede Weiterentwicklung der Hartz-Gesetze einen Rückschritt nennen, während sie selber mit ihrem „Druck“-Konzept auf die frühkapitalistischen Methoden des 19. Jahrhunderts zurückgreifen. Das ist alles andere als eine moderne und zukunftsweisende Arbeitsmarktpolitik.

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