Deutsche Flüchtlingspolitik: Das „Blinde Kuh“-Spiel ist ausgespielt

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Konnte die deutsche Politik, die weder einen Plan für eine Friedensstiftung im Irak, in Syrien, in Afghanistan oder in Afrika hat, wirklich damit kalkulieren, dass ihr die Frontex-Politik und das Dublin-Abkommen die Flüchtlinge aus dem Lande halten würden? Man hat in Berlin Vorbereitungen für die jetzt durchgebrochene Flüchtlingswelle bewusst unterlassen, weil man wohl darauf gebaut hatte, dass diese Dämme halten würden.

Das war entweder zynisch oder bodenlos dumm.

Und wenn jetzt Deutschland „Kontrollen an seinen Binnengrenzen vorübergehend wieder einführt“, dann verhält sich die Bundesregierung nicht anders als die Dänen oder die Briten am Kanal und nicht grundsätzlich anders als die in den Medien viel kritisierten Ungarn: Man versucht den „Stöpsel auf die Flasche“ zu kriegen, wie sich Bayerns Ministerpräsident zynisch äußerte. Mit der faktischen Außerkraftsetzung des Schengener Abkommens, wird offensichtlich, dass die Bundesregierung in der Flüchtlingspolitik seit Jahren politisch „Blinde Kuh“ gespielt hat, sich ein Tuch vor die Augen gebunden hat und nun verzweifelt versucht, einen neuen Blinden zu finden. Von Wolfgang Lieb.

Zugegeben, das ist ein sehr subjektiver Artikel unter dem Eindruck des Besuchs in einer überfüllten Aufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Köln-Chorweiler. Zugegeben auch, dass ich ratlos bin, wie eine Lösung aussehen könnte, wie man mit den Geflohenen dauerhaft menschenwürdiger umgehen könnte und vor allem welche Perspektiven sie bei uns oder in ihrer verlassenen Heimat haben. Bei aller emotionaler Betroffenheit will ich versuchen, mich dieser außergewöhnlichen Herausforderung so rational wie möglich zu nähern.

Da ist zunächst der Eindruck des Elends der Geflohenen: Ich denke bevor Leute sich den Mund über „die Flüchtlinge“ zerreißen, sollten sie einfach einmal eine der meist ganz in ihrer Nähe liegenden Aufnahmeeinrichtungen besuchen. Sie werden dort beeindruckt sein, von den vielen Spenden, die dort gelagert sind und dass man gebeten wird, zunächst nicht noch mehr Kleidung oder sonstige Gegenstände zu bringen, sondern eher z.B. Koffer, um die gespendeten Sachen zu ordnen. Sie werden überrascht sein, wie viele Menschen, darunter relativ viele in Deutschland angekommene Migranten ihre Hilfe anbieten und wie viele Leute ehrenamtlich helfen.

Wenn es Ihnen trotz der Sprachbarrieren gelingt, mit Flüchtlingen ins Gespräch zu kommen, dann werden Sie betroffen sein, von den Schicksalen und von den Nöten und (Todes-)Ängsten die diese Menschen hinter sich haben. Wer da zuhört und wer jungen Leuten, Müttern und Kindern in die Augen schaut und wem dabei kein Mitgefühl und ein Bedürfnis nach Hilfe aufkommt, bei dem kann es mit den abendländischen oder gar christlichen Werten nicht weit her sein. Man fragt sich, ob die Menschen, die sich mit Brandsätzen oder mit unsäglichen Schmähungen im Internet gegen die Flüchtlinge hetzen, jemals einem solchen Menschen begegnet sind. Wenn ja, dann haben solche Leute nach über einem halben Jahrhundert Grundgesetz unsere Verfassung nicht akzeptiert, die als obersten Grundsatz vorgibt, dass die Würde des Menschen unantastbar ist.

Wenn man das Elend konkret vor Augen hat, dann hilft einem auch die brillanteste Ursachenanalyse über die Fluchtursachen nicht weiter. Selbst wenn Krieg, Verfolgung, religiöser Fanatismus, Rassismus und andere Ursachen mehr in absehbarer Zeit beseitigt werden könnten – was ziemlich unwahrscheinlich ist -, die Opfer sind erst einmal vor unserer Tür.

Natürlich kommt auch Nachdenklichkeit auf: Wo sollen all die vielen Menschen ein festes Dach über dem Kopf bekommen? Wie will man ihnen zumindest für geraume Zeit ein menschenwürdiges Existenzminimum sichern? Wo wollen diese Menschen hin und wo werden sie hin verfrachtet? Wie können sie einfach nur deutsch lernen? Ist unser Schulsystem darauf vorbereitet? Können Studierende aus dem Irak oder Syrien hier überhaupt weiterstudieren? Wie und vor allem wann sollen sie mit ihren jeweiligen Qualifikationen Arbeit finden und sich (und ihre Familie) ernähren können?

Wenn man nur an die riesigen Probleme denkt, kann man verzagen und es schleichen sich Sorgen ein, ob diese Herausforderungen überhaupt zu bewältigen sind. Diese Sorgen, ja diese Ängste sind der Nährboden für Abwehrreaktionen, zumindest für einen Einreisestopp, schlimmer aber für Fremdenangst, die leicht in Hass und damit in Aggression gegenüber diesen Menschen umschlagen kann.

Der derzeit von der Politik angebotene Fluchtpunkt ist eine bessere Verteilung der Flüchtlinge, sowohl innerhalb Deutschlands und vor allem auch innerhalb der Europäischen Union.

Schon die meisten Bundesländer lassen mit unterschiedlichsten Begründungen den Ankunftsort München ziemlich hängen. Noch schlimmer verhalten sich aber die Länder der EU. Da wurden Griechenland und Italien schon lange Zeit im Stich gelassen und da wird nun auch Deutschland im Stich gelassen. Vielleicht sogar mit einer gewissen Schadenfreude über die europäische Hegemonialmacht.

Dank des Dubliner Abkommens lag Deutschland im letzten Jahr noch bei der Zahl der Asylanträge im Verhältnis zur Bevölkerungszahl weit hinter Schweden, dem jetzt vielgeschmähten Ungarn, Malta, Österreich, der Schweiz, Dänemark und Norwegen. In diesem Jahr hat sich das – jedenfalls in absoluten Zahlen – für Deutschland dramatisch zugespitzt.

Die vielgerühmte Solidarität innerhalb der Europäischen Union hat schon im Umgang mit Griechenland in der Sache Schiffbruch erlitten. Das Auseinanderdriften konnte man noch dadurch überdecken, dass innerhalb der Währungsunion 18 Länder gegen ein Land, nämlich Griechenland standen. Jetzt wo alle 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union gefordert wären, zeigt sich dass diese „Union“ nicht mehr ist als ein Wirtschaftsraum mit einer neoliberalen Wirtschaftsdoktrin und ansonsten ein egoistischer Haufen von Staatschefs, die um den Subventionstopf in Brüssel konkurrieren.

Während in Brüssel eine Nachtsitzung der anderen folgte, um den Griechen die Ladenöffnungszeiten vorzuschreiben. Herrscht bei der Lösung des Flüchtlingsproblems „hängen im Schacht“.

Dennoch, selbst wenn es ein Quotensystem gäbe, man mache sich nichts vor, die meisten Flüchtlinge aus Irak, Syrien, Afghanistan, Eritrea, Mali oder anderen gescheiterten Staaten Afrikas wollen nach Deutschland. Ihnen wäre mit Quotenlösungen auf europäischer Ebene auch nicht viel geholfen. Sicherlich viele, würden wegen der Sprachbarrieren auch nach England oder nach Schweden gehen, doch zunächst einmal sind diese Menschen hier bei uns im Lande. Und wer weiß, wie viele jemals von unseren Nachbarländern aufgenommen würden.

Die Bilder, die wir täglich von Flüchtlingen sehen, die übers Mittelmeer in Europa stranden, die über die Balkanroute in Ungarn landen und – dort schikaniert – mit allen Mitteln durch Österreich Deutschland zu erreichen versuchen, schaffen Mitgefühl und zugleich die beschriebenen Zukunftsängste.

Mit 800.000 Menschen und sogar mehr die sich in unser Land gerettet haben, wird in diesem Jahr geschätzt. Das scheint eine dramatisch hohe Zahl zu sein. Dabei wird allerdings vergessen, dass auch schon 2013 437.000 mehr Menschen nach Deutschland kamen, als das Land verließen. 2014 gab es laut Statistischem Bundesamt einen Wanderungsüberschuss von 550.000 Menschen. Es gab fast eineinhalb Millionen Zuzüge, davon zwar 830.000 aus anderen EU-Ländern – das heißt aber immerhin mehr als sechshunderttausend kamen von außerhalb der EU.

Quelle: Spiegel.de

Nüchtern betrachtet unterscheiden sich die derzeitigen Zahlen der „Zuzüge“ weitaus weniger dramatisch gegenüber den vorausgegangenen Jahren. Der wesentliche Unterschied ist eigentlich nur die Herkunft der Flüchtlinge und vor allem der plötzliche Ansturm der Menschen.

Betrachtet man die Wanderungsbilanzen über die Zeit für die Bundesrepublik Deutschland, so relativieren sich selbst die Zahlen, die aktuell kursieren.

Quelle: Mediendienst Integration

Wir haben nach dem Krieg zwölf Millionen Flüchtlinge aus dem Osten integriert, wir haben 4,5 Millionen Spätaussiedler einigermaßen aufgenommen, wir haben seit den 60er Jahren mehrere Millionen „Gastarbeiter“ zunächst angeworben, dann über die Niederlassungsfreiheit und Zuzugsregelungen mehr oder weniger akzeptiert.

Der entscheidende Unterschied zu allen früheren Zuwanderungswellen ist, dass wir uns jetzt überrascht zeigen. Wir stellen die derzeitige Situation so dar, als hätte sie uns überrascht.

Es ist doch nichts Neues, dass derzeit fast 60 Millionen Menschen auf der Flucht sind. Allein im Jahr 2014 mussten nach UNO-Angaben fast 14 Millionen Menschen aus ihrer Heimat fliehen. Allein über das Mittelmeer kamen nach Schätzungen des Flüchtlingswerks der UNO (UNHCR) schon im letzten Jahr ungefähr 218.000 Menschen aus Afrika übers Mittelmeer nach Europa. Wir wissen doch, dass dabei etwa 3.500 ertrunken sind. Wir haben doch die Szenen auf Lampedusa oder anderen Mittelmeerinseln, aber auch die Flüchtlingstrecks auf der Landroute aus dem Nahen Osten über Griechenland und den Balkan in den abendlichen Nachrichten verfolgen können. Konnten wir, vor allem konnte die Politik wirklich glauben, dass die Griechen oder die Italiener mit ihren Außengrenzen zu den Ländern, aus denen die Menschen fliehen, mit den Gestrandeten alleine fertig würden? War es realistisch, zu glauben, dass die eine Million Flüchtlinge (ein Drittel der Bevölkerung) auf längere Dauer ausweglos in den Lagern im Libanon bleiben würden? Jordanien gilt mit 1,9 Millionen Flüchtlinge als das „Flüchtlingshaus“ in Nah-Ost. Die Türkei hatte bislang weltweit die meisten Flüchtlinge aufgenommen. Konnte die deutsche Politik, die weder einen Plan für die Friedensstiftung im Irak, in Syrien, in Afghanistan oder in Afrika hat, wirklich damit kalkulieren, dass ihr die Frontex-Politik – mit der Sicherung der Außengrenzen – und das Dublin-Abkommen – wonach nur die Ankunftsstaaten der Flüchtlinge für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig sind – die Flüchtlinge aus dem Lande halten würden?

Das war entweder zynisch oder bodenlos dumm.

Man hat in Berlin Vorbereitungen für die jetzt durchgebrochene Flüchtlingswelle bewusst unterlassen, weil man blind darauf gesetzt hatte, dass die Dämme halten würden.

Wenn jetzt von deutschen Politikern Hilferufe an die europäische Gemeinschaft gehen, dann fragt man sich, warum blieben die Notrufe von Griechenland oder Italien ungehört? Und wenn jetzt Deutschland „Kontrollen an seinen Binnengrenzen vorübergehend wieder einführt“, und den Eisenbahnverkehr von Österreich nach Deutschland einstellt, dann verhält sich unser Land nicht anders als die Dänen oder die Briten am Kanal und nicht grundsätzlich anders als die in den Medien viel kritisierten Ungarn: Man versucht den „Stöpsel auf die Flasche“ zu kriegen, wie sich Bayerns Ministerpräsident zynisch äußerte. Der sich jetzt sogar noch von Viktor Orbán Rat holen will.

Das zeigt nur, wie wenig von der stets gelobten „Freizügigkeit“ in Europa durch das Schengener Abkommen zu halten ist, wenn es mal nicht darum geht, den freien Verkehr von Waren und Arbeitskräften zu gewährleisten.

Jetzt auf die Ursachen der Flüchtlingsbewegung zu verweisen und (wie seit Jahrzehnten) ständig zu wiederholen, man müsse die Fluchtursachen bekämpfen, ist angesichts der konkreten Lage, billige Polit-Rhetorik. Sie lenkt nur davon ab, dass die Bundesregierung in der Flüchtlingspolitik seit Jahren politisch „Blinde Kuh“ gespielt hat, sich ein Tuch vor die Augen gebunden hat und nun verzweifelt versucht einen neuen Blinden zu finden.

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