Der lange Marsch durch die Institutionen

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Wie es zum Konstruktionsfehler der Wirtschaftspolitik und insbesondere der Geldpolitik in Deutschland und darauf folgend in Europa kam.

Auszug aus „Machtwahn. Wie eine mittelmäßige Elite uns zugrunde richtet“, Seite 88 folgende:

Der lange Marsch durch die Institutionen – Eine Lehre setzt sich durch

Die Bilanz des Wirkens unserer Eliten, wie im letzten Kapitel aufgeführt, liest sich kaum weniger dramatisch als die Rede des Bundespräsidenten anlässlich der Auflösung des Deutschen Bundestages im Juli 2005. Doch anders als der Bundespräsident glauben machen will, sind die Strukturen unseres Landes nicht verantwortlich für die wirtschaftliche Krise, in der wir uns be­finden. Wir sind in einer weitgehend selbstgemachten Krise. Die seit Jahren Verantwortlichen, unsere Eliten in Politik und Wissenschaft, in Medien und Wirtschaft, sind nicht fähig und nicht bereit zu einer klugen Steuerung der gesamtwirtschaftlichen Abläufe. Statt dessen laufen sie seit über zwei Jahrzehnten einer Ideologie hinterher, der wir einen Großteil unserer Probleme zu verdanken haben.

Vom Sonderfall deutsche Einheit abgesehen, gibt es eigentlich keine nachvollziehbaren Gründe dafür, dass unser Land schlechter hätte abschneiden müssen als vergleichbare Länder wie Schweden, Österreich, die Niederlande, Großbritannien oder die USA. Die Globalisierung, die häufig angeführt wird, trifft Österreich, die Niederlande, Schweden, Großbritannien und die USA schließlich in gleicher Weise. Auch Österreich grenzt an Ost­europa. Auch zwischen Schweden und China gibt es Liefer- und Konkurrenzbeziehungen. Trotzdem werden die Standardfloskeln über die angeblich neuen Herausforderungen immer nur auf uns angewandt: Globalisierung, Wissensgesellschaft, Dienstleistungsgesellschaft, Demographie.

Demographie – dieses unendlich bemühte Problem als Ursache unserer wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu bezeichnen ist geradezu abenteuerlich. Selbst wenn man die künftige Entwicklung der Zahl der hier lebenden Menschen und der Alterung unserer Gesellschaft für gravierend hält, die heutigen Ziffern sind es nicht. Wir haben aufgrund der Babyboomer-Generation ein eher günstiges Verhältnis von arbeitender Generation zur Rentner­generation. Gegenwärtig haben wir also gar kein bedrängendes demographisches Problem.

Niemand kann ernsthaft behaupten, eine schlechtere Jung-Alt-Relation im Jahr 2010 oder 2020 strahle auf heute ab und sei für die Wachstumsschwäche und die Schulden von heute verantwortlich. Auch die Vorstellung, unsere Wachstumsraten seien deshalb gering, weil die Geburtenrate niedrig ist, ist abwegig. Die auf eine niedrige Geburtenrate zurückgehende Konsum- und Nachfrageänderung findet ja nicht schlagartig statt und ist um vieles geringer als die durch Konjunktur und Arbeitslosigkeit bedingten Nachfrageänderungen. Auch minimale Veränderungen der Erwerbsquote – wenn beispielsweise ein spürbar höherer Anteil von Frauen die Möglichkeit hat zu arbeiten – haben gewichtigere Auswirkungen auf den privaten Verbrauch und damit auf die Nachfrage als noch so niedrige Geburtenraten. Wenn bei uns ernsthaft diskutiert wird, dass die Geburtenrate und ihre Veränderung von nennenswerter makroökonomischer Bedeutung sei, so ist das schlicht abenteuerlich und zeugt von der mangelnden Kompetenz unserer Eliten.

Es muss also andere Gründe für die Krise geben, und es gibt sie auch. Diese Gründe sind allerdings eher banaler Natur: die Unfähigkeit unserer Eliten zu einer umsichtigen, undogmatischen und pragmatischen Wirtschaftspolitik; ihre Unfähigkeit und ihr Unwille, zu erkennen, dass wir unsere Ökonomie im Inneren durch eine völlige Missachtung der notwendigen Binnennachfrage haben verdursten lassen, dass wir die öffentlichen Investitionen heruntergefahren haben und damit auch unsere Infrastruktur vernachlässigen, was noch nicht jetzt unmittelbar, aber auf Dauer gefährlich werden kann; dass die Lohn- und damit die Masseneinkommen in den letzten Jahren verkümmerten und damit das Geld zum Kauf vieler Produkte fehlte, die das heimische Gewerbe für den heimischen Markt produziert und die über den Einzelhandel verteilt werden sollten. Im Gastgewerbe beispielsweise sind die Umsätze seit 2002 im Durchschnitt der Jahre um über 4 Prozent eingebrochen.

Wir sind in einen Sog nach unten geraten: Weil die Binnennachfrage fehlte, wuchsen die Arbeitslosigkeit und das Ungleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt. Die Arbeitnehmer sind hoffnungslos am kürzeren Hebel, von echtem Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt kann man nicht mehr sprechen. Die Eliten, die diese Entwicklung angestoßen und begleitet haben, haben offenbar nicht verstanden oder wollen nicht verstehen, dass Löhne nicht nur Kostenfaktoren, sondern auch wichtige Elemente von Kaufkraft und damit Bestandteil der Dynamik einer Ökonomie sind.

In keinem anderen Land ist der makroökonomische Sachverstand so gering wie bei uns. Wir leiden heute unter einer ideologischen Wende, die Anfang der siebziger Jahre begann. Mit dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems, einem internationalen Währungsabkommen, das auf festen Wechselkursen gegenüber dem US-Dollar als Leitwährung beruhte, erlangte die Deutsche Bundesbank die uneingeschränkte Herrschaft über die deutsche Geldpolitik. Die Bundesbank benutzte diesen Machtzuwachs, um den Vorrang der Preisstabilität über die anderen drei zentralen wirtschaftspolitischen Ziele – hoher Beschäftigungsstand, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und angemessenes Wachstum – durchzusetzen. Nur so sind die drei schweren Rezessionen von 1975, von 1981/82 und 1993 zu verstehen. Seit Anfang der siebziger Jahre ist in Deutschland kein Aufschwung an Altersschwäche ausgelaufen, sondern er wurde jedesmal frühzeitig von der Bundesbank abgebrochen. Die seitdem propagierte Regel, dass die Stabilität des Preisniveaus unabdingbare Voraussetzung für hohen Beschäftigungsstand und Wachstum sei, hat sich nicht erfüllt. Deutschland war in den letzten dreißig Jahren zwar immer Stabilitätsweltmeister, aber bei den realwirtschaft­lichen Zielen Wachstum und Beschäftigung haben wir es im internationalen Vergleich nur zu höchst bescheidenen Ergebnissen gebracht.

Als der damalige »Superminister« für Wirtschaft und Finanzen Helmut Schmidt im Oktober 1972 sagte, das deutsche Volk könne 5 Prozent Preissteigerung besser vertragen als 5 Prozent Arbeitslosigkeit, entfachte er einen Sturm der Entrüstung seitens der neoliberalen wirtschaftspolitischen Institutionen und Vertreter. Die einschlägige ökonomische Wissenschaft leistete kräftig Schützenhilfe, indem sie behauptete, ein gewisser Teil der Arbeitslosigkeit sei strukturell bedingt und könne durch Nachfra­geexpansion nicht beseitigt werden. Es wurden hochwissenschaftliche Berechnungen ins Feld geführt, die so ausfielen, dass angeblich nur 1 Prozentpunkt, allenfalls 2 Prozentpunkte der ­Arbeitslosenquote durch mangelnde Nachfrage bedingt seien. Der weitaus größere Teil habe eben strukturelle Gründe. Flankierend wurde zum einen die gesamtwirtschaftliche Nachfrage­lücke – ein wesentlicher Bestandteil der keynesianischen Über­legungen – kleingerechnet und zum anderen der Glaubenssatz aufgestellt, dass expansive Staatsausgaben allenfalls ein Strohfeuer entfachen können, das nur zu mehr Staatsverschuldung führe. Bundesbank, Sachverständigenrat, die Forschungsinstitute – bis vor kurzem mit Ausnahme des DIW-Berlin –, die Masse der Wirtschaftsprofessoren, aber auch die OECD schwenkten auf diese Linie ein und immunisierten den Ansatz damit gegen jede Kritik.

Das Ergebnis dieser einseitigen Ausrichtung der Wirtschaftspolitik, die in Deutschland seit über dreißig Jahren konsequent verfolgt wird, sehen wir heute. Die Erkenntnis, dass die reale Bedrohung durch Arbeitslosigkeit wirklich schlimmer sein kann und schlimmere Folgen haben kann als eine leichte Preissteigerung, ist ganz offensichtlich richtig. Nur in den Arbeitszimmern der Zentralbanker, also bei Bundesbankpräsident Axel Weber und EZB-Chef Jean-Claude Trichet, und bei ihren Chefvolkswirten ist sie noch nicht angekommen.

Die Geldpolitiker der Bundesbank konterkarierten schon Anfang der siebziger Jahre die Fiskalpolitik der Bundesregierung. Die Bundesbank trat brutal auf die Zinsbremse. So erhöhten sich die kurzfristigen Zinsen von 5,7 Prozent 1972 auf 12,2 Prozent 1973, das ist ein Anstieg um 114 Prozent und damit ein echter Schock. Ähnlich wurde die Vereinbarung des Bonner Weltwirtschaftsgipfels von 1978 geldpolitisch »begleitet«: Die kurzfristigen Zinsen wurden von 3,7 Prozent (1978) bis auf 12,2 Prozent (1981) hochgetrieben. Das wirkte enorm dämpfend auf die Konjunktur. Beim Bonner Weltwirtschaftsgipfel hatten sich die Teilnehmer einschließlich Deutschlands jedoch zu Maßnahmen zur Belebung der Wirtschaft verpflichtet. Die Bundesregierung wollte aufgrund dieser Verabredung 1 Prozent des Bruttosozialprodukts zusätzlich für konjunkturanregende Maßnahmen ausgeben.

So waren die siebziger Jahre vom gegenläufigen Kräftespiel zwischen Wirtschafts- und Finanzpolitik auf der einen Seite und Geldpolitik auf der anderen Seite geprägt. War die Wirtschafts- und Finanzpolitik stark, wie es von 1974 bis 1979 der Fall war, dann schaffte sie es, wirtschaftliche Schwierigkeiten zu überwinden. Das beste Beispiel sind die beiden Ölpreisexplosionen vom Oktober 1973 und im Jahr 1979. Nach der ersten Ölpreisexplo­sion ging das Wachstum 1975 unter die Nullinie: minus 1,3 Prozent. Ein Jahr später war ein Wachstum von 5,3 Prozent erreicht. Zusammen mit den darauf folgenden drei Jahren kam die deutsche Volkswirtschaft auf ein durchschnittliches reales Wachstum von 3,8 Prozent – davon würde man heute träumen.

Vier Jahre hintereinander 3,8 Prozent – das ist kein Strohfeuer, wie die späteren Propagandisten gegen die Konjunkturprogramme behaupteten. Die Arbeitslosenquote ging von 4,7 auf 3,8 Prozent zurück, bevor diese Politik abgebrochen wurde, und mit den öffentlichen Investitionen wurde viel Vernünftiges gemacht: Kläranlagen gebaut, Städte saniert, Schulen und Hochschulen gebaut, Flüsse saniert.

Aber der Einfluss der monetaristischen und angebotsökono­mischen Kräfte, wie man diese wirtschaftspolitische Richtung nannte, wuchs. Dann kam das sogenannte Lambsdorff-Papier im September 1982, das bereits die Grundzüge der heutigen Reformpolitik enthielt. Dieses Memorandum des damaligen FDP-Wirtschaftsministers Otto Graf Lambsdorff markiert das Ende der ­sozialliberalen Koalition und prägte die Regierung Kohl mit. Es wurde dann zwar nicht in Reinkultur nach neoliberalem Rezept reformiert, aber reihenweise wurden soziale Errungenschaften abgebaut. Es wurde Druck auf die Löhne und die Arbeitnehmer ausgeübt. Die Lohnsteigerungen blieben unterhalb der Produk­tivitätsentwicklung. Es wurde dereguliert und privatisiert. Bei all­dem blieben die Löhne beachtlich unterhalb der Möglichkeiten, die im Rahmen der Produktivitätsentwicklung gelegen hätten.

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