Informationen und Anmerkungen zum Ergebnis der französischen Regionalwahlen am 13. Dezember 2015

Ein Artikel von Christoph Habermann

Die Stimmen sind ausgezählt und die Ergebnisse der französischen Regionalwahlen liegen vor. Mit Analysen und Interpretationen sollte man aber vorsichtig sein, weil die nackten Zahlen keine ausreichende Grundlage dafür sind, politische Schlüsse zu ziehen. Von Christoph Habermann [*]

Das lässt sich an einem Beispiel gut nachvollziehen: Die Sozialistische Partei (PS) hatte ihre Listen für den zweiten Wahlgang in den Regionen Provence-Alpes-Cote d´Azur und Nord-Pas de Calais-Picardie zurückgezogen, um einen Sieg des rechtsextremen Front National zu verhindern. Das Ergebnis scheint diese Strategie zu bestätigen: Die bürgerliche Rechte hat sich in beiden Regionen deutlich durchgesetzt. Im Norden erreichte die Vorsitzende des Front National Marine Le Pen 43,23 Prozent, ihre Nichte Marion Maréchal Le Pen erreichte im Südosten Frankreichs mit 45,22 Prozent das beste Ergebnis für ihre Partei.

Im Osten Frankreichs, in der Region Alsace -Lorraine – Champagne, hatte der Spitzenkandidat der Sozialisten gegen den erklärten Willen der Parteiführung und auch des Ministerpräsidenten seine Kandidatur aufrechterhalten. Auch in dieser Region hat die bürgerliche Rechte klar gewonnen und die Linke ihr (schlechtes) Ergebnis des ersten Wahlgang bei deutlich höherer Wahlbeteiligung gehalten. Der Front National kam hier auf 36,08 Prozent der Stimmen.

Welche Veränderungen des Wahlverhaltens zwischen dem ersten und zweiten Wahlgang der Regionalwahlen dahinter stehen, lässt sich gegenwärtig noch nicht sagen. Klar ist das Ergebnis: In den beiden Regionen, in denen der PS seine Liste zurückgezogen hat, werden in den kommenden Jahren nur die bürgerliche Rechte und die Rechtsextremen im Regionalparlament vertreten sein; der PS, Parteien links davon und Grüne werden keinen einzigen Sitz in den Parlamenten zweier Regionen haben, die bisher und seit langer Zeit von einer linken Mehrheit aus Vertretern der Sozialistischen Partei, Linken, Kommunisten und Grünen regiert worden waren.

Nach dem französischen Wahlrecht für die Regionalwahlen 2015 bekommt die stärkste Partei vorab ein Viertel aller Sitze und drei Viertel der Sitze werden nach dem prozentualen Ergebnis der Parteien verteilt. Diese Prämie für die relativ stärkste Partei führt dazu, dass die anderen Parteien deutlich weniger Parlamentssitze bekommen als es ihrem Stimmenanteil entspricht.

Deshalb bekommt der rechtsextreme Front National, der in keiner Region die meisten Stimmen erreicht hat, viel weniger Sitze als es seinem Stimmenanteil entspräche. Auch diesen Umstand muss man – nicht nur, aber besonders – mit Blick auf die Präsidentschaftswahl im Jahr 2017 berücksichtigen.

I Wahlbeteiligung stark gestiegen

Die stark gestiegene Wahlbeteiligung zwischen erstem und zweitem Wahlgang kann man mit aller Vorsicht als Zeichen dafür sehen, dass eine grosse Gruppe von Wählerinnen und Wählern – trotz massiver Enttäuschung über die Politik des sozialistischen Präsidenten Francois Hollande und seiner Regierung – verhindern wollte, dass der Front National zum ersten Mal in der Geschichte Frankreichs die politische Macht in einer Region übernimmt.

Die Wahlbeteiligung ist um knapp zehn Prozent gestiegen, von 49 Prozent im ersten Wahlgang auf 58,53 Prozent im zweiten Wahlgang. Das ist der stärkste Anstieg zwischen erstem und zweitem Wahlgang seit der Präsidentschaftswahl 2002, bei der im
ersten Wahlgang der sozialistische Kandidat Lionel Jospin ausgeschieden war und Jacques Chirac im zweiten Wahlgang mit etwa 80 Prozent gegen Jean-Marie Le Pen vom Front National gewählt worden war.

Die Tatsache, dass der Front National entgegen vieler Erwartungen in keiner Region die Mehrheit und die Präsidentin bzw. den Präsidenten stellen wird, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er bei höherer Wahlbeteiligung sein Wahlergebnis noch einmal verbessert hat. 6,71 Millionen Französinnen und Franzosen haben den Front National gewählt, so viele wie noch nie bei einer Wahl. Bei der Präsidentschaftswahl 2012 waren es bei höherer Wahlbeteiligung 6,42 Millionen.

II Zu den Ergebnissen in den dreizehn Regionen

Die bürgerliche Rechte aus der Partei „Les Républicains“ des früheren Präsidenten Nicolas Sarkozy und von Parteien der Mitte hat die Mehrheit in sieben Regionen. Das ist deutlich weniger als nicht nur die Verantwortlichen dieser Partei noch vor wenigen Wochen erwartet hatten. Herausragender Erfolg ist, dass die bürgerliche Rechte in Zukunft die Mehrheit in der Region Ile de France hat, zu der auch Paris gehört.

In fünf Regionen hat die Sozialistische Partei die Mehrheit gewonnen. In der Bretagne gelang ihr das mit ihrem Spitzenkandidaten, dem französischen Verteidigungsminister Yves Le Drian, alleine, in den vier anderen Regionen hatte sie nach dem ersten Wahlgang
ein Bündnis mit der Linken und den Grünen gebildet. In Korsika hat eine regionalistische Liste die Wahl gewonnen.

Im Vergleich zu den letzten Regionalwahlen im Jahr 2010 hat sich die politische Landkarte damit stark verändert. Damals hatte die Sozialistische Partei gemeinsam mit ihren Partnern auf der linken Seite des politischen Spektrums insgesamt in allen der damals noch 22 französischen Regionen die Mehrheit, mit Ausnahme der Region Elsass-Lothringen.

Auch bei dieser Wahl bestätigt sich, dass der Front National in den grossen Städte deutlich schlechter abschneidet als im Durchschnitt. Von den zehn grössten französischen Städten wählen zwei, Marseille und Nizza, bei allen Wahlen der vergangenen Jahre überdurchschnittlich stark die rechtsextreme Partei, in den acht anderen liegt der Stimmenanteil des Front National deutlich unter dem Durchschnitt, am stärksten in Paris mit 6,1 Prozent, in Nantes mit 8,94 Prozent und in Bordeaux mit 9,78 Prozent.

III Gründe für das starke Abschneiden des rechtsextremen Front National

In der Berichterstattung und in der politischen Diskussion über die Erfolge des rechtsextremen Front National spielen in Frankreich, aber noch stärker in Deutschland und anderen Ländern, Fragen von Sicherheit, Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus eine grosse Rolle. Viele Untersuchungen aus den vergangenen Jahren und aus jüngster Zeit weisen aber darauf hin, dass die wesentlichen Gründe für den Erfolg des Front National im wirtschaftlichen und sozialen Bereich liegen: Steigende Arbeitslosigkeit, vor allem bei jungen Menschen, wachsende soziale Ungleichheit und die Angst vor sozialem Abstieg, die an die Stelle von Aufstiegshoffnungen getreten ist.

In seinem Buch „Le Pari du FN“, das im Oktober 2015 erschienen ist, untersucht der französische Historiker und Demograph Hervé Le Bras, worauf die sehr unterschiedliche Stärke des Front National in den verschiedenen Teilen und Regionen Frankreichs zurückzuführen ist.
Dafür hat er nicht nur Regionen und Départements verglichen, sondern die Ergebnisse auf der Ebene der Städte und Gemeinden analysiert.

Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die Erfolge des Front National in starkem Masse mit fünf Formen der Ungleichheit in Frankreich einhergehen:

  • Anteil der 15 bis 24jährigen, die arbeitslos sind,
  • Anteil der 25 bis 34jährigen ohne Berufs- oder Studienabschluss,
  • Anteil Alleinerziehender,
  • Einkommen der 10 Prozent Ärmsten,
  • Einkommensunterschied zwischen den reichsten und den ärmsten 20 Prozent.

Was die Rolle der Einwanderung angeht, stellt er aufgrund einer Analyse aller Wahlen zwischen 2002 und 2012 fest:

„In jedem Département steigt der Stimmenanteil des Front National zwischen 2002 und 2012 umso stärker, je kleiner und damit ländlicher eine Gemeinde ist und, Hand in Hand damit, je geringer der Anteil von Einwanderern ist.“

In einem am 12. Dezember in „Le Monde“ erschienenen Artikel kommen zwei Ökonomen aufgrund der statistischen Analyse der Ergebnisse des ersten Wahlgang zu einem ganz ähnlichen Schluss:

Wichtig für die Auseinandersetzung mit dem Front National seien ökonomische Themen und nicht gesellschaftspolitische.

„Drei Antworten ökonomischer Natur müssen Vorrang haben: Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit, die Verbesserung der sozialen Aufstiegsmöglichkeiten und der Abbau der regionalen Unterschiede.“

Zur Bedeutung der sogenannten Sicherheitsthemen stellen die Autoren fest:

„Um es zu vereinfachen kann man sagen: Je weniger Kriminalität und Delikte es örtlich gibt und je weniger Fremde, umso stärker wurde am 6. Dezember Front National gewählt.“

Schlussbemerkung

Die gestrigen Wahlen waren die letzten vor der Präsidentschaftswahl im Jahr 2017.
In allen Parteien wird es jetzt darum gehen, welche Deutung des Wahlergebnisses vom Sonntag sich durchsetzt.

Bei den regierenden Sozialisten werden Präsident Hollande und Ministerpräsident Valls keinen Anlass sehen, ihre Politik zu ändern. Sie können dabei darauf hinweisen, dass weder die im „Front de Gauche“ zusammengeschlossenen kleinen linken Parteien noch die Grünen vom schlechten Abschneiden der Sozialisten im ersten Wahlgang profitieren konnten; die Grünen haben gegenüber der Regionalwahl 2010 ihren Stimmenanteil sogar halbiert.
Die innerparteilichen Kritiker der Wirtschafts- und Finanzpolitik Frankreichs sind durch die Wahlen eher geschwächt als gestärkt. Das gilt auch für die Bürgermeisterin von Lille, die frühere Arbeitsministerin Martine Aubry, die im vergangenen Jahr immer deutlicher Kritik an einer zu marktgläubigen Politik geübt hatte. In ihrer Region, bisher eine sozialistische Hochburg, hatten die Sozialisten im ersten Wahlgang ein katastrophales Ergebnis erzielt und waren im zweiten Jahrgang nicht mehr angetreten, um die Wahl von Marine Le Pen zur Präsidentin der Region zu verhindern.

Bei der bürgerlichen Rechten wird die Auseinandersetzung darum gehen, wer Kandidat für die Präsidentschaftswahl 2017 werden wird. Aus heutiger Sicht wird sich diese Frage zwischen dem früheren Präsidenten Nicolas Sarkozy und seinem damaligen Aussenminister, dem heutigen Bürgermeister von Bordeaux, Alain Juppé entscheiden.
Sarkozy wird auch aus den eigenen Reihen der Vorwurf gemacht, den Front National dadurch gefördert zu haben, dass er dessen Themen übernommen oder stark gemacht habe. Juppé steht dagegen gesellschaftspolitisch mehr für Mitte-rechts, vertritt in Fragen der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik aber klar marktradikale Positionen.

Der Front National wird das Ergebnis der Wahlen als Verschwörung aller anderer Parteien, der Medien und der französischen Eliten gegen die einzige Partei des Volkes darzustellen versuchen, wie das Marine Le Pen gestern Abend schon begonnen hat.

Ob es dem Front National gelingen wird, sich zugleich als Sieger und Opfer zu stilisieren, hängt weniger vom politischen Schlagabtausch zwischen den Parteien ab als von den praktischen Ergebnissen der französischen Politik im Interesse der grossen Mehrheit der Menschen. Nach den bisherigen Erfahrungen gibt es da leider keinen Grund zu grossen Hoffnungen.


[«*] Christoph Habermann war u.a. stellvertretender Chef des Bundespräsidialamtes in der Amtszeit von Bundespräsident Johannes Rau, von Ende 2004 bis 2007 war er Staatssekretär im Sächsischen Staatsministerium für Wirtschaft und Arbeit und danach Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesund, Familie und Frauen von Rheinland-Pfalz.