Tod auf dem Hochsitz

Ein Artikel von Joke Frerichs

Vor einigen Tagen meldeten die Medien, dass sich ein 58 Jahre alter Mann auf einem Hochsitz zu Tode gehungert hat. Er hinterließ ein Tagebuch, in dem er sein Sterben dokumentierte. Weiter heißt es: „Aus dem in blaues Plastik eingebundenen Büchlein geht hervor, dass der frühere Außendienstler schon länger arbeitslos war. Seine Ehe sei gescheitert, seine erwachsene Tochter habe sich von ihm losgesagt“. Er bekam kein Arbeitslosengeld mehr. Er musste seine Wohnung räumen. Er hätte Hartz IV beantragen können, tat dies aber nicht, so dass er völlig ohne Geld dastand. Das Tagebuch des Toten wird an seine Tochter geschickt. Der Tote hatte in dem Büchlein darum gebeten.

Soweit die Meldung. Was mag in dem Büchlein gestanden haben? Vielleicht das Folgende.
Von Joke Frerichs.

„Liebe Frau, liebe Tochter. Eure Namen mag ich nicht mehr aussprechen. Es tut zu sehr weh. Ich befinde mich auf einem Hochsitz irgendwo im Solling. Ich bin entschlossen, einen Schlussstrich zu ziehen. Bin mit dem Fahrrad einfach losgefahren. Ohne Ziel. Immer nur nach Süden. Soweit ich konnte. Nur weg von allem. Hier – in einer idyllischen Umgebung – habe ich einen Hochsitz entdeckt, den sobald wohl keiner aufsuchen wird. Die Planken sind morsch. Ich hatte Mühe, heraufzukommen. Hier sitze ich nun und versuche, meine Gedanken zu ordnen. Ich fühle mich unendlich müde und ganz leer. Hier oben ist es feucht und kalt. Ich weiß nicht, wie lange ich durchhalte. Geld habe ich keines mehr. Auch keine Lebensmittel. Nur eine Flasche Wasser habe ich dabei.

Da ihr euch von mir abgewendet habt, schreibe ich auf, was ich noch zu sagen habe. Es ist alles in dem kleinen, blauen Büchlein enthalten. Viel ist es ohnehin nicht. In meinem Kopf geht alles durcheinander. Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll. Das ein oder andere wird euch bekannt vorkommen. Einiges vielleicht überraschen. Vor allem möchte ich, dass ihr wisst, dass ich an euch gedacht habe. Bis zuletzt. Ihr wart ja alles, was ich hatte. Trotz allem, was geschehen ist.

Es geht mir nicht darum, mich zu rechtfertigen. Auch möchte ich euch keine Schuldgefühle machen. Zu vieles habe ich falsch gemacht. Gerade in der letzten Zeit. Ich weiß nicht, was mit mir los war. Ich war nicht mehr ich selbst. Ich fühlte mich von allen gedemütigt, missverstanden, ja verraten. Das hat mich misstrauisch gemacht – gegen jeden. Ich ließ niemanden mehr an mich heran. Hab mich eingekapselt. War nur noch mit mir beschäftigt. Fühlte mich irgendwie schuldig. Beschämt. Ich will versuchen, es euch zu erklären.

Wenn man einmal seine Arbeit verloren hat in meinem Alter, kommt es einem vor, als würde man in ein tiefes, schwarzes Loch fallen. Man fühlt sich entwurzelt. Alles bricht zusammen. Man verliert die Orientierung. Glaubt an nichts mehr. Nicht sofort. Aber ganz allmählich löst sich alles auf. Ohne dass es einem zunächst bewusst wird. Anfangs hofft man noch. Klammert sich an jeden Strohhalm. Aber mit jeder Absage, die man erhält, wird man buchstäblich kleiner. Man schrumpft förmlich zusammen. Von Mal zu Mal. Von Niederlage zu Niederlage.

Ich weiß, dass viele in der gleichen Situation sind wie ich. Ich weiß nicht, wie sie es machen, damit fertig zu werden. Ich habe mir lange überlegt, ob ich mit einigen einmal reden sollte. Habe es auch das eine oder andere Mal versucht. Aber ich habe sehr bald gespürt, dass die meisten daran nicht interessiert sind. Viele blocken ab. Es ist ihnen peinlich, über sich zu reden. Über ihre Gefühle. Wie sie mit der Situation klar kommen. Die meisten schimpfen zwar auf die Mitarbeiter der Agentur, auf die Politiker, auf das ganze System. Aber das bringt gar nichts. Am Ende steht jeder wieder allein da. Macht alles mit sich selbst aus. Man bekommt ja auch kaum Hilfe. Die Mitarbeiter der Agentur sind völlig überlastet. Man hat schnell das Gefühl, ihnen lästig zu sein. Man füllt Formulare aus. Nimmt an Informationsveranstaltungen teil. Meldet sich in regelmäßigen Abständen. Zeigt damit, dass man dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht. Aber das alles dient wahrscheinlich nur der Statistik. Denn das Entscheidende fehlt: Dass man Angebote bekommt. Dass einem gesagt wird, wie es weitergeht.

Vielleicht hätte ich versuchen sollen, mit euch zu reden. Als das noch möglich war. Stattdessen habe ich meinen Frust an euch ausgelassen. Habe an allem rumgenörgelt. Als wärt ihr für meine Situation verantwortlich. Lange Zeit habe ich auch geglaubt, allein mit meiner Situation fertig zu werden. Zu lange. Ich wollte nicht als Verlierer dastehn. Als Versager. Ich hatte es doch immer aus eigener Kraft geschafft. Damals, als mein Vater früh starb und ich die Schule abbrechen musste. Ich habe mir eine Lehrstelle besorgt. Habe Mutter unterstützt. Bin an Vaters Stelle getreten. Habe Verantwortung übernommen, wie es so schön heißt. War stolz darauf, gebraucht zu werden. Bin mit der Aufgabe gewachsen. Bis zum Ende der Lehre. Als ich dann nicht übernommen wurde, habe ich dies nach einer kurzen Zeit der Enttäuschung und Wut relativ leicht überwunden. Ich war jung. Die Welt stand mir noch offen. So glaubte ich jedenfalls. Doch es war auch schon damals schwierig, wieder Fuß zu fassen. In meinem erlernten Beruf konnte ich nicht bleiben. So habe ich umgeschult und bin dann schließlich im Außendienst gelandet. Lange Zeit ging es ganz gut, obwohl ich eigentlich nie ein „Verkäufertyp“ war. Nach einigen Jahren wurde ich sogar Distriktleiter. Auch privat lief zunächst alles glatt. Ich gründete eine Familie. Das erste Kind kam. Alles schien bester Ordnung zu sein. Bis vor einem Jahr die Katastrophe geschah und ich meine Arbeit verlor. Von heut auf morgen.

Wenn ich heute daran denke, kommt es mir vor, als hätte ich in einer anderen Welt gelebt. In einer Art früherem Leben. So ist es ja in gewisser Weise auch. Was jetzt mit mir geschah, war ein totaler Bruch mit allem, was mir vertraut war. Wie viel Niederlagen habe ich seitdem erlitten. Wie konnte es nur so weit kommen? Ich kann einfach nicht begreifen, dass jemand, der arbeiten will, keine Chance mehr bekommt. Dass man schlichtweg überflüssig ist. Ausschuss. Das hat mir nach und nach mein Selbstbild zerstört. Das Selbstvertrauen genommen. Jedenfalls das bisschen, was davon noch übrig war. Denn als die Firma von einem neuen Eigentümer übernommen wurde, verlor ich ja schon meinen Posten als Distriktleiter. Musste wieder in den Außendienst. An die Front, wie wir zu sagen pflegten. Die Gebiete, die wir zu betreuen hatten, wurden immer größer. Was früher drei Mitarbeiter machten, wurde jetzt auf zwei verteilt. Das bedeutete natürlich mehr Stress für jeden. Vor allem aber war man weniger zu Hause. Immer öfter musste ich auswärts übernachten. An den Abenden saß ich allein in meinem Hotelzimmer oder in irgendeiner Kneipe. Es war ziemlich trostlos. Ich trank mehr als ich wollte. Versuchte, irgendwie die Zeit totzuschlagen. Wenn ich heute darüber nachdenke, glaube ich, dass schon damals die ersten Risse in unserem Familienleben entstanden. Ich war häufig ausgelaugt, wenn ich nach Hause kam. Nervös, besonders wenn ich wenig Abschlüsse gehabt hatte. Oft, ja allzu oft, habe ich meine Enttäuschung an euch ausgelassen. Kein Wunder, dass ihr irgendwann genug davon hattet.

Heute wird mir klar, wie falsch wir gelebt haben. Wie viel wertvolle Zeit wir vertan haben. Man tut immer so, als hätte man unendlich viel Zeit zum Leben. Als ließe sich alles auf später verschieben. Irgendwann einmal nachholen. Im Urlaub. Oder wenn man in Rente geht. Was hätte man alles machen können? Gemeinsam. Aber jetzt ist es zu spät. Vielleicht war es immer schon zu spät. Oder doch nicht so einfach, anders zu leben. Denn was ist es denn schon, das so genannte Leben? Wenn man zurück denkt, reduziert sich alles auf ein paar Glücksmomente, an die man sich erinnert. Die erste Zeit der Liebe. Die Geburt der Tochter. Das war es doch schon fast. Wenn man so im täglichen Trott dahin lebt, wie wir es getan haben und viele andere es tun, denkt man wenig darüber nach. Meistens ist man abends viel zu kaputt dazu. Oder zu träge. Man will einfach nur noch seine Ruhe haben. Schaltet den Fernseher ein und sich selber ab. So ist es doch. Möglichst nicht zu viel reden. Sich keine Gedanken machen darüber, wie man lebt. Was auf einen zukommen kann. Man macht einfach das, was alle anderen auch machen. Ein Tag ist wie der andere. Solange nichts Außergewöhnliches passiert, gibt es keinen Grund, daran etwas zu ändern. Man merkt oft gar nicht, dass irgendetwas nicht stimmt. Das merkt man erst, wenn die Katastrophe da ist. So wie jetzt. Jetzt wüsste ich, was ich anders machen würde. Aber wie gesagt: jetzt ist es zu spät. Und vielleicht ist ohnehin alles nur ein Trugschluss. Vielleicht mache ich mir auch jetzt noch was vor. Damals jedenfalls hatte ich keine Kraft, unserem Leben eine andere Wendung zu geben.

Über mich reden, konnte ich nie besonders gut. Hatte es nie gelernt. Habe mich auch nie so wichtig genommen. Es war ein Fehler, wie ich heute weiß. Ich hätte euch von meinen Problemen erzählen sollen. Von meinen Sorgen. Dass es immer schwieriger wurde in der Firma. Die ständigen Kontrollen. Der Leistungsdruck. Aber ich ging über all das hinweg. Überließ mich dem Alltagstrott. Machte mir was vor. Sobald ich wieder einmal einen gelungenen Abschluss hatte, fühlte ich mich wieder gut. Hielt mich für unersetzbar. Im tiefsten Innern spürte ich zwar, dass dem nicht so war. Aber ich überspielte meine Ängste. Konnte es mir gar nicht erlauben, mich länger damit zu beschäftigen. Es hätte mich alles nur noch mehr verunsichert, glaubte ich damals. Und mit euch darüber zu reden – das wäre mir nie in den Sinn gekommen. Euch mit hereinziehen? Das wollte ich partout nicht. Lieber spielte ich meine Rolle wie gewohnt weiter. Markierte den starken Mann. Mir war zwar zunehmend unwohl dabei, aber was sollte ich machen? Ich sah keinen anderen Ausweg.

Als mir der Stuhl vor die Tür gesetzt wurde – natürlich mit den üblichen Sprüchen des Bedauerns; dass es nicht persönlich gemeint sei; dass die Marktsituation keine Alternative zulasse usw., war ich zunächst völlig sprachlos. Ja, apathisch. Damit hatte ich nicht gerechnet. Jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt. Ich hatte eine ganze Reihe zufriedenstellender Abschlüsse getätigt. Auch der Firma ging es gut, so glaubte ich jedenfalls. Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Empfand noch nicht einmal Wut. Enttäuschung vielleicht. Auch Selbstmitleid. Aber wenn ich es genau nehme, empfand ich gar nichts. Alles war irgendwie unwirklich. Als würde man träumen. Dieses Gefühl kannte ich schon als Kind. Immer, wenn mir etwas Schlimmes oder Unangenehmes passierte, stellte ich mir einfach vor, es sei nur ein Traum. Manchmal war es auch so. Aber manchmal eben auch nicht. Und das, was ich jetzt erlebte, war leider kein Traum. Es hat einige Zeit gedauert, bis ich einigermaßen realisiert hatte, was geschehen war. Ganz begriffen habe ich es bis heute nicht. Wenn man jahrzehntelang so dahin gelebt hat – tagaus, tagein – kann man sich gar nicht vorstellen, dass es einmal anders sein könnte. Jetzt weiß ich, dass das ein Irrtum war. Aber wieder einmal kommt die Einsicht zu spät.

Ihr wisst, dass ich versucht habe, mich gegen meine Entlassung zu wehren. War beim Betriebsrat. Bei der Gewerkschaft. Man versprach, sich für mich einzusetzen. Versuchte, mir Mut zu machen. Aber heraus kam dabei nichts. Eine mäßige Abfindung. Das war alles. Gegen die so genannten Marktgesetze kann keiner was ausrichten. Die Auftragslage ließ angeblich keine andere Möglichkeit zu. Und bei der Sozialauswahl, an der der Betriebsrat beteiligt war, sei ich nun mal an der Reihe gewesen. Das war alles, was man mir sagen konnte. Ich vermute zwar, dass irgendjemandem meine Nase nicht mehr passte – aber was nutzt das alles. Letztlich bist du machtlos und stehst ziemlich verloren da. Die Kollegen zucken mit den Achseln oder sagen einem irgendwelche Banalitäten. In Wirklichkeit ist jeder froh, dass es ihn nicht getroffen hat.

Das alles musste ich erst einmal verdauen. Ich hätte nie gedacht, dass mir das passieren könnte. Ich war doch kein schlechter Außendienstler. Konnte durchaus noch mithalten, auch wenn mich das ständige Reisen mehr und mehr anstrengte. Ich hatte ja auch versucht, in den Innendienst zu kommen. Aber damals sagte man mir, man brauche Leute mit meiner Erfahrung im Außendienst. Ich gebe gerne zu, dass mir das geschmeichelt hat. Aber was solche Aussagen wert sind, sieht man ja. Es ist das Geschwätz von gestern, das keinen mehr interessiert.

Dass ich mich bemüht habe, wieder Arbeit zu finden, wisst ihr. Anfangs ist man noch ganz guter Hoffnung. Man weiß schließlich, was man kann. Als von der Arbeitsagentur so gut wie nichts an Angeboten kam, blieb mir nichts anderes übrig, als selbst aktiv zu werden. Ich habe täglich die Stellenangebote in den Zeitungen durchgesehen; im Internet; habe mich rumgehört. Nichts und wieder nichts. Immer nur Absagen. Immer die gleichen Begründungen. Oft waren es Vordrucke, in die nur die jeweiligen Namen eingesetzt worden waren. Die üblichen Phrasen. Wenn überhaupt eine Antwort kam. Das hat mich am meisten verletzt, wenn man nicht einmal einer Antwort für wert befunden wurde. Das geht an die Ehre – und an die Nerven. Leute in meinem Alter gehören in dieser Gesellschaft offenbar zum alten Eisen. Allem Geschwätz der Politiker zum Trotz. Man hat den Eindruck, dass man gerade noch geduldet wird, aber mehr auch nicht. Das sagt einem natürlich keiner ins Gesicht. Aber man spürt es auf Schritt und Tritt. An der Art, wie einen die Nachbarn ansehen. Die ehemaligen Kollegen. Die Leute in der Kneipe. Die früheren Sportkameraden. Wenn es geht, machen sie einen Bogen um einen. Das alles tut einfach nur weh. Wer das nicht selbst erlebt hat, wird es nicht verstehen. Man glaubt gar nicht, wie sehr das an einem zehrt. Wie dünnhäutig man mit der Zeit wird. Man hat nur noch das Bedürfnis, sich zu verkriechen.

Ich schreibe dies alles nicht auf, um irgendjemanden anzuklagen. Ich selbst habe mich nicht anders verhalten in ähnlichen Situationen. Habe ich mich um andere gekümmert? Keineswegs. Man hält es nur nicht für möglich, das einem selbst das passiert. Jeder hält sich für unverwundbar. Trotz der vielen Arbeitslosen, die es seit Jahren gibt. Jedenfalls tut jeder so, als ginge ihn das nichts an. Vielleicht spielt auch jeder nur seine Rolle, so gut er kann. Macht vielleicht sogar noch seine Sprüche, über „die“ Arbeitslosen. Die doch selber Schuld sind an ihrer Lage. Habe nicht auch ich lange Zeit so oder ähnlich gedacht? Dass genug Arbeit für alle da ist. Dass man nur „wollen“ muss. Hatte es nicht etwas Entlastendes, so zu reden? Auch wenn man es besser hätte wissen können? War es nicht bequem, so daher zu reden? Sich keine weiteren Gedanken zu machen? Sich gar vorzustellen, dass es einen selbst erwischen könnte? Wie gesagt: Ich nehme mich da gar nicht aus. Ich war auch nicht anders als die anderen. Solange es mich nicht betraf.

Ich betone es noch einmal: Ich mache Niemandem einen Vorwurf. Vor allem auch den Mitarbeitern der Arbeitsagentur nicht, die für vieles den Kopf hinhalten müssen. Sie haben mich immer gut behandelt. Da kann ich mich nicht beklagen. Was sollen sie machen, wenn keine Stellen da sind. Mit der Zeit merkt man zwar, dass es ihnen unangenehm ist, wenn man auftaucht. Dass es ihnen lästig ist, immer die gleichen Auskünfte zu geben. Man kommt sich vor, als würde man ihnen ihre Zeit stehlen. Vielleicht fühlen sie sich selbst auch nur unwohl, weil sie nichts zu bieten haben. Das ist für alle Beteiligten unangenehm. Bei der Vielzahl der Fälle, die sie zu bearbeiten haben, können sie sich ohnehin nicht mit jedem beschäftigen. Wie sollen sie sich in die Schicksale ihrer Klienten reindenken? Dazu haben sie gar keine Zeit. Das ist wie bei den Ärzten. Und ändern würde es ja ohnehin nichts. Irgendwann haben sie mir dann mitgeteilt, dass ich bald kein Arbeitslosengeld mehr bekommen könne. Die Frist sei abgelaufen. Ich sollte doch einen Antrag auf Hartz IV stellen. Das würde mir zustehen. Darauf hätte ich einen Rechtsanspruch. Nur müsste ich dann die Wohnung aufgeben. Mir eine kleinere suchen.

Ich bin zu dem Schluss gekommen, keinen Antrag zu stellen. Ich will nicht bis zu meinem Lebensende Bittsteller sein. Mich als Sozialschmarotzer beschimpfen lassen. Das geht gegen meine Würde als Mensch. Ich will arbeiten. Selbst für mich sorgen. Wenn man keine Arbeit mehr für mich hat, zeigt mir das nur, dass ich nicht gebraucht werde. Aber dann fühle ich mich auch nicht mehr gesellschaftsfähig. Dann hat es auch keinen Sinn, weiter zu machen. Zu diesem Entschluss bin ich nach und nach gekommen. Es fiel mir nicht leicht. Den letzten Anstoß gab die Tatsache, dass man mir die Wohnung wegnahm. Das hat mich buchstäblich entwurzelt. Stellt euch vor: Unsere Wohnung, in der wir so lange gelebt haben. Die voll ist von Erinnerungen. Wo man jede Ecke kennt. So vieles selbst gemacht hat. Das habe ich nicht verkraftet. Ab da war ich nicht mehr bereit, mitzuspielen. Für mich habe ich beschlossen, das Spiel zu beenden.

Ihr wart ja schon vor einiger Zeit ausgezogen. Habt es nicht mehr mit mir ausgehalten. Ich mache euch deswegen keine Vorwürfe. Heute verstehe ich euch besser. Damals war es natürlich ein harter Schlag für mich. Erst die Tochter weg. Dann die Frau. Ich habe viel darüber nachgedacht, wie es so weit kommen konnte. Eine Antwort habe ich nicht gefunden. Es gibt immer viele Gründe. Welcher der ausschlaggebende war, weiß ich nicht. Vielleicht ist es so, dass sich alles mit der Zeit aufgelöst hat in seine Bestandteile. Dass ihr es nicht mehr mit ansehen konntet, wie alles den Bach runtergeht. Wenn man es genau nimmt, habt ja nicht ihr euch abgewandt von mir, sondern umgekehrt: ich war es, der sich zunehmend zurückzog, weil ich mir minderwertig vorkam. Der sich vor Scham kaum noch traute, irgendwo aufzutauchen. Der tagelang auf dem Bett liegen konnte und vor sich hin döste. Der bei jeder Gelegenheit aufbrauste. Sich gestört fühlte, wenn jemand ihn ansprach. Der immer asozialer wurde. Ja – das ist das richtige Wort. Asozial bin ich geworden. Nicht mehr fähig, zu reden, mich mitzuteilen, auszutauschen, „ in Gesellschaft“ zu sein. Alles ist mir lästig geworden. Ich will nur noch meine Ruhe. Endgültig. Für immer. Einfach nur Ruhe. Könnt ihr das ein wenig verstehn? Ich bitte euch darum. Es ist meine letzte Bitte.

Ich bin jetzt so schwach, dass ich mich kaum noch aufrichten kann. Obwohl mir alles weh tut, fühle ich mich irgendwie ganz frei. Kein Druck lastet mehr auf mir. Endlich. Schreiben werde ich bald nicht mehr können. Daher verabschiede ich mich jetzt von euch. Macht euch meinetwegen keine Gedanken. Ich habe mich so entschieden, wie ich mich entschieden habe. Ich mache von der einzigen Freiheit Gebrauch, die mir geblieben ist. Ich wollte so wenig Aufhebens von mir machen, wie möglich. Deshalb habe ich diesen Weg gewählt. Verzeiht mir.

P.S.:
Wer immer mich findet: Das blaue Büchlein soll an meine Tochter gehen. Sie soll wissen, dass meine Gedanken bis zuletzt bei meiner Familie waren.

Ich weiß nicht, wie lange das hier oben auf dem Hochsitz so weiter geht. Nachts wird es immer kälter. Ich schlafe schlecht. Träume zu viel. Weiß manchmal gar nicht, ob ich träume oder wache. Das Hungergefühl schmerzte am Anfang sehr. Lässt jetzt aber immer mehr nach. Habe nur noch wenig zu trinken. Sämtliche Knochen tun mir weh. Ich weiß nicht mehr, wie ich mich legen soll. Wenn ich mich aufsetze, wird mir schwindlig.

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