Mehrheitswahlrecht oder die „künstliche Verringerung der Parteienzahl durch Veränderungen im Wahlsystem“

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Die Entwicklung zu einem Fünf-Parteiensystem in den Parlamenten einhergehend mit einem „Vertrauensschwund“ der Wähler gegenüber den Volksparteien CDU/CSU und SPD habe zu Spekulationen „über die Ablösung der bisherigen Zweiparteien-Koalitionen durch Dreiparteien-Koalitionen geführt“. Durch das Aufkommen eines Fünfparteiensystems mit der Linken „haben (wir) also mit einer fundamentalen Veränderung unseres Regierungssystems zu rechnen“, so die Prognose des Altbundespräsidenten und jetzigen Aushängeschilds des konservativen „Konvents für Deutschland“ Roman Herzog. „Die beiden großen Lager, die sich im Laufe der Zeit herausbildeten, konnten damit rechnen, dass sie in der Wahl die absolute Mehrheit der Wähler hinter sich vereinigen konnten.“ Die Ausfächerung des Parteiensystems werde diesen Effekt so gut wie sicher beseitigen. Es werde immer schwerer werden stabile absolute Mehrheiten zu bilden und zusammenzuhalten: „Im Klartext: Die Gefahr von Minderheitsregierungen wird wachsen.“ Herzog plädiert deshalb für einen Übergang zu einem Mehrheitswahlrecht und für eine Änderung des Abstimmungsverfahrens im Bundesrat.
In der Sache geht es um die rechtliche Absicherung des herrschenden politischen Kurses gegen den Mehrheitswillen der Wählerinnen und Wähler. Wolfgang Lieb

Pläne für die Einführung eines Mehrheitswahlrechts sind nicht neu. Vor allem konservative Juristen wie etwa Ernst Benda oder der CDU nahe stehende Politologen wie der in den sechziger Jahren in Köln lehrende Ferdinand A. Hermens und der Freiburger Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis waren glühende Verfechter dieser Idee. Die erste Große Koalition im Bund (1966 -1969) stand schon kurz vor einer solchen Wahlrechtsreform. Vor allem die CDU wollte damals die lästige „Umfallerpartei“ FDP loswerden. Dies mit dem durchaus stichhaltigen Argument, dass dieser „Mehrheitsbeschaffer“ mit kaum über 10 Prozent der Wählerstimmen bei Koalitionsbildungen einen unverhältnismäßig großen politischen Einfluss auf den größeren Regierungspartner nehmen konnte. Als die FDP daraufhin geschickter Weise den Sozialdemokraten Avancen für eine sozial-liberale Koalition machte, nahm die SPD von einer Wahlrechtsänderung Abstand.

So wie damals werden auch heute wieder die kleinen Parteien den großen lästig, indem sie es der CDU und schon gar der SPD schwerer machen, bei Wahlen absolute Parlamentsmehrheiten zu schaffen. Insofern dürfte der Vorstoß von Herzog bei den „Volksparteien“ auf ausgesprochene oder unausgesprochene Zustimmung stoßen, erleben sie doch in den letzten Jahren, wie der Altbundespräsident realistisch beschreibt, einen „Vertrauensschwund“ bei den Wählern.

Die schon vorhandene hohe Hürde für kleine Parteien, die 5-Prozent-Sperrklausel, reicht offenbar nicht mehr aus, die aufstrebende Linke aus den Parlamenten zu halten. Das haben die Wahlen in den Westländern Hessen, Niedersachsen und Hamburg gezeigt, und darauf weisen auch alle Umfragen für das Saarland und für die Bundestagswahl 2009 hin. Und je häufiger diese fünfte Partei die 5-Prozent-Hürde überspringt, desto mehr Zustimmung dürfte sie erfahren, weil die Wähler sicherer werden können, dass sie durch die Wahl dieser Partei ihre Stimme nicht mehr „verschenken“. Deshalb wird nach einer neuen Barriere gesucht. Und da bietet sich eben eine Wahlrechtsänderung an.

Das Wahlrecht ist eine der tragenden Säulen der Demokratie. Die Wahl ist neben den in Deutschland nur sehr schwach ausgeprägten Möglichkeiten einer Volksabstimmung oder eines Bürgerentscheids die einzige direkte Form, in der das als souverän geltende Volk seinem politischen Willen Ausdruck verleihen kann. Das Wahlrecht berührt insofern den Kern der Demokratie.

Artikel 20 Abs. 2 Grundgesetz:

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

Art. 38 GG legt zwar die Wahlprinzipien (allgemeine, unmittelbare, freie, gleiche und geheime Wahl) fest, das Wahlsystem (Verhältnis- oder Mehrheitswahl) ist jedoch nur gesetzlich geregelt und kann so durch einfache parlamentarische Mehrheiten geändert werden.

Seit der Gründung der Bundesrepublik ist bei nahezu allen Wahlgesetzen das Verhältnis- und das Mehrheitswahlsystem durch die sog. personalisierte Verhältniswahl miteinander verknüpft. D.h. den Wahlkreis gewinnt der Kandidat, der mit einfacher Mehrheit die meisten Stimmen auf sich vereinen kann. Zugleich aber wählen die Bürger mit ihrer Zweitstimme – der so genannten Kanzlerstimme – die Landesliste einer bestimmten Partei. Ausschließlich aus den bundesweit abgegebenen Zweitstimmen ergibt sich dann die Stärke der Parteien im Bundestag.

Beim Mehrheitswahlrecht gilt hingegen das Entscheidungsprinzip, d.h. „the winner takes it all“, der Kandidat mit der Mehrheit siegt. Egal wie groß seine Mehrheit ist. Dies kann im Extremfall dazu führen, dass in einem Parlament eine Partei eine 100-prozentige Mehrheit stellen könnte, obwohl sie vielleicht nur 20 oder 30 Prozent der der Wählerstimmen bekommen hat. Auf je mehr Parteien sich die Stimmen verteilen, umso geringer braucht die Mehrheit zu sein, die ein einzelner Kandidat bekommen muss, um relativ die meisten Stimmen auf sich zu vereinigen.

Bei der letzten Wahl 2005 in Großbritannien haben z.B. 22% der Wahlberechtigten “New Labour” gewählt, was als relativer Anteil von 35,2% in das Wahlergebnis einging, und dennoch bekam Tony Blair im Unterhaus eine komfortable Mehrheit von 356 der 646 d.h. 55 Prozent der Sitze.
Auch im abgemilderten französischen Mehrheitswahlrecht (mit einer Stichwahl im zweiten Wahlgang, falls die absolute Mehrheit im ersten nicht erreicht wurde) sind deutliche Disproportionalitäten zwischen Stimmenanteil und dem Anteil der Parlamentssitze möglich. So erhielt Sarkozys Regierungspartei UMP bei dem Urnengang im letzten Jahr 39,54 Prozent der Stimmen, sein Regierungsbündnis verfehlte aber nur ganz knapp eine Zweidrittelmehrheit.

Beim Verhältniswahlrecht gilt das Repräsentationsprinzip, d.h. die Stimmenanteile der einzelnen Parteien schlagen sich proportional in der Zahl der Parlamentssitze nieder. D.h. der politische Willen der Wähler, ausgedrückt im Stimmenanteil für die zur Wahl stehenden Parteien, bildet sich in der Zahl der Parlamentssitze erheblich genauer ab als beim Mehrheitswahlrecht.
Der Anteil der Mandate entspricht etwa dem Anteil der Stimmen, d.h. das Wahlverhalten der Wähler kommt weitgehend exakt im Parlament zum Ausdruck.

Das bisherige Verhältniswahlrecht war für Herzog solange tauglich, als sich bei den Bundestagswahlen zwei Lager (schwarz-gelb und rot-grün) gegenüber standen, die damit rechnen konnten, „dass sie in der Wahl die absolute Mehrheit der Wähler hinter sich vereinigen konnten“. Als Volksparteien hätten CDU und SPD die „widersprüchlichen Interessen der Bürger in ihren Programmen…ausgleichen“ müssen, dadurch rückten „die Programme … enger zusammen“ und „Regierungswechsel (wurden) auf diese Weise nie zu totalen Kurswechseln“.
Herzog nennt dies selbst „fast idyllische Verhältnisse“.

„Diesen Effekt“ wird „die Ausfächerung des Parteiensystems…so gut wie sicher beseitigen“, meint Herzog besorgt. Es werde immer schwieriger, „stabile absolute Mehrheiten zu bilden und zusammenzuhalten. Im Klartext: die Gefahr von Minderheitsregierungen wird wachsen.“

Wir hätten „mit einer fundamentalen Veränderung unseres Regierungssystems zu rechnen“, und dem müssten eben das Grundgesetz und das Bundeswahlgesetz Rechnung tragen. Da der „naheliegende Gedanke an ein Notverordnungsrecht“ (!) sich angesichts des ständigen Missbrauchs in der Zeit der Weimarer Republik und des NS-Regimes disqualifiziert habe und auch ein „Präsidialsystem à la USA“ nicht in Frage käme, müsse man eine „breite und ernsthafte Debatte“ über die Änderung des Wahlrechts und über das Abstimmungsverfahren im Bundesrat führen.

Die Väter und Mütter des Grundgesetzes hätten schließlich stabile Regierungen und die dazu notwendigen, stabilen Mehrheitsverhältnisse im Parlament gewollt.

Haben Sie damit aber auch kein Mehrparteien-Parlament gewollt?

Fangen wir mit dieser Legende der historischen Interpretation des Grundgesetzes durch Herzog an:
Von absoluten Mehrheiten konnte der Parlamentarische Rat nun wirklich nicht ausgehen:
Bei den Wahlen 1949 erhielten die CDU 31,0, die SPD 29,2, die FDP 11,9 Prozent, die anderen Parteien 27,9 Prozent. Im ersten Bundestag waren insgesamt 10 Parteien in Fraktionsstärke vertreten (neben den genannten die Deutsche Partei, die Bayernpartei, das Zentrum, die Wiederaufbauvereinigung, die Deutsche Reichspartei, der Südschleswigsche Wählerverband, die Kommunistische Partei Deutschlands).
Auch die erste Bundesregierung unter Konrad Adenauer wurde von drei (vier) Parteien gewählt: CDU, CSU, FDP und DP.

Im übrigen gab es auch die von Herzog als „Gefahr“ betrachteten Minderheitenregierungen, sogar schon auf Bundesebene, wenn auch nur für kurze Zeit, so 1966 unter Ludwig Ehrhard und 1982 unter Helmut Schmidt. Auf Länderebene gab es zahlreiche Minderheitenregierungen, so mehrfach in Berlin, in Brandenburg, in Schleswig-Holstein und 8 Jahre in Sachsen-Anhalt.

Auch in anderen europäischen Ländern wie z.B. in Dänemark mit seinem Vielparteiensystem sind Minderheitenregierungen eher die Regel als die Ausnahme, ohne dass man behaupten könnte, dass dort „keine längerfristigen Projekte auf Kiel“ (Herzog) gelegt worden wären und dass es der Bevölkerung dort schlechter ginge als bei uns. Das Parlament hat dort eine starke Macht; man spricht deshalb auch von der skandinavischen „Verhandlungsdemokratie“.

In vielen europäischen Ländern gibt es Vielparteiensysteme: etwa in Belgien, in den Niederlanden, in Dänemark, gar nicht erst zu reden von Italien.
Dort hat das Parlament stets eine größere Macht gegenüber der Exekutive als in Systemen mit weniger Parteien wie in England oder Frankreich.

Es herrsche bei uns ein „mystischer Glaube an die Gefährlichkeit der Exekutive und die Weisheit der Legislative“, meint Herzog. Wenn es denn einen solchen Glauben gäbe, dann entspräche er nur dem Grundgesetz, das eben von einer parlamentarischen und nicht von einer exekutivischen Demokratie ausgeht. Für eine weitere Stärkung der Exekutive besteht wenig Anlass, vielmehr gibt es ein ziemlich einhelliges Urteil, dass die Exekutive in den letzten Jahrzehnten gegenüber dem Parlament an Übergewicht, ja sogar an Dominanz gewonnen hat.

Die Etablierung der Linken als fünfte Partei (und dunkel orakelt Herzog noch von einer sechsten Partei) zusammen mit einer „Schrumpfung der Volksparteien“ verändere diese „fast idyllischen Verhältnisse“ und führe zu einer „fundamentalen Veränderung unseres Regierungssystems“.
Und das nur weil die eingefahrenen Rituale durcheinander geraten.

Statt sich aber zu fragen, wie und warum es zu diesem „Vertrauensverlust“ von CDU und vor allem der SPD gekommen ist, der einhergeht mit immer geringer werdenden Wahlbeteiligungen, statt über die Ursachen für das Aufkommen der Linken nachzudenken, packt der erzkonservative Jurist den Instrumentenkasten aus, mit dem man kleine Parteien vom Parlament fernhalten kann bzw. deren politischen Einfluss schon im Wahlverfahren möglichst kleinhalten kann. Und dazu bietet sich das Mehrheitswahlrecht als taugliches Instrument an.

Die britische Variante, wonach zur Wahl des einzelnen Abgeordneten die einfache Mehrheit im Wahlkreis ausreicht, sieht er nicht als erfolgversprechend an, weil der Wähler die „´administrative` und endgültige Verdrängung der kleineren Parteien“ die großen Parteien empfindlich fühlen lassen würde. Ihm schwebt wohl eher die französische Variante vor, wonach der Abgeordnete eine absolute Mehrheit in seinem Wahlkreis und damit häufig eine Stichwahl braucht.

Herzog geht es um das „Regierungssystem“, sein wichtigstes Ziel ist es, „stabile absolute Mehrheiten“ bilden zu können. Seine größte Sorge ist die „Gefahr von Minderheitsregierungen“.
Ein Minderheitskanzler dürfte „ein sehr schweres Leben haben“, er würde im Ausland besonders in Brüssel als „lahme Ente“ gelten.

Warum es bei fünf Parteien nicht mehr zu stabilen Mehrheiten kommt, sondern vielmehr die Gefahr von Minderheitsregierungen wächst, dieser Frage weicht Herzog konsequent aus.

Der Grund kann ja nur darin liegen, dass sich die Parteien (wie in Hessen) Koalitionsbildungen untereinander verweigern bzw. weil die ´geschrumpften` „zwei Lager“ die neu hinzugekommene Partei aus den Koalitions- oder Kooperationsmöglichkeiten ausgrenzen.

Es handelt sich also keineswegs um eine „fundamentale Veränderung unseres Regierungssystems“, sondern um eine fundamentale Veränderung im politischen Verhältnis zwischen den in den Parlamenten vertretenen Parteien.
Es hat sich nichts anderes verändert, als dass die frühere „Umfallerpartei“ FDP sich im sog. „bürgerlichen Lager“ ohne eigene Mehrheit eingegraben hat und die fünfte Partei vom „linken“ Lager politisch ausgegrenzt wird. Das hat alles nichts mit dem Regierungssystem und schon gar nichts mit dem Grundgesetz zu tun.

Es hat viel mehr mit den von Herzog so gelobten ´zusammengerückten` Programmen der beiden Lager zu tun. Dieses Zusammenrücken hat doch erst den politischen Raum für die fünfte Partei eröffnet. Und gerade diesen von Herzog konstatierten „Konturverlust“ der großen Parteien stellt die neue fünfte Partei offenbar in Frage.

Es dürfe „nie zu totalen Kurswechseln“ (Herzog) kommen, und deswegen ertönt – wie der Altbundespräsident selber zugibt – „der Ruf nach dem Mehrheitswahlrecht“.

Aber wie bei den vorausgegangenen Agenda-Reformen gibt es auch für eine Wahlrechtsreform ein Vermittlungsproblem:

Herzog hat völlig recht in seiner Einschätzung, dass die kleinen Parteien, also die FDP, die Grünen und die Linke ihrer faktischen Eliminierung wohl kaum zustimmen würden und eine Wahlgesetzänderung von Union und SPD allein „durchgeboxt“ werden müsste.
Zustimmen kann man Herzog auch, dass dies für die Wähler „so aussehen (würde), als ob die beiden Großen sich durch einen legislativen Trick nur unliebsamer Kritiker und Konkurrenten entledigen wollten.“

Und ganz und gar trifft Herzogs Urteil zu: „Dem Vertrauen in unser Verfassungssystem würde das, vorsichtig formuliert, nicht gut tun.“

Es zeugt schon von intellektueller Chuzpe, dass Herzog in Frage stellt, ob die Einführung des Mehrheitswahlrechts „gegenwärtig der wirkliche Königsweg wäre“, um dann wenige Absätze später mehr oder weniger unverblümt für die abgemilderte, französische Variante dieses Wahlentscheidungsprinzips zu plädieren.

Hinter seinem Vorstoß für einen „Übergang zu einem Mehrheitswahlrecht“ steht wohl die Enttäuschung des Altbundespräsidenten, dass seine „Ruck-Rede“ vom 26. April 1997 nicht die erhoffte Wirkung gehabt hat. Damals wollte er ja die die Deutschen zu einem Aufbruch ins 21. Jahrhundert aufrufen: „Wir müssen Abschied nehmen von liebgewordenen Besitzständen. Alle sind angesprochen, alle müssen Opfer bringen, alle müssen mitmachen“.

Diese Berliner Rede war sozusagen die Ouvertüre zur neoliberalen Agenda-Politik. Die Regierenden und die beiden politischen „Lager“ sind zwar dem Aufruf willig gefolgt, doch das Volk wehrt sich gegen die ihm abverlangten Opfer. Das Resultat ist der „Vertrauensverlust“ von CDU und SPD und das „Zusammenschrumpfen“ der Volksparteien, die sinkende Wahlbeteiligung und als kleines Warnsignal das Aufkommen der Linken.

Die wichtigsten Elemente dieses „Aufbruchs“ – von den Hartz-Reformen über die Ruinierung der Gesetzlichen Rente bis zur Rente mit 67 – werden, wie sich aus allen Umfragen ergibt, von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt. Damit sich diese Mehrheiten nicht dereinst in parlamentarischen Mehrheiten abbilden können, muss eine erstarkende parlamentarische Opposition gegen diesen Kurs durch eine „faktische Eliminierung“ solcher Parteien aus dem Parlament verhindert werden.

Darin zeigt sich das gleiche undemokratische Denken, das auch unsere sog. Wirtschaftsexperten beherrscht: sie wollen ihr wirtschaftspolitisches Dogma politisch durchgesetzt sehen, auch gegen die Mehrheit der Bevölkerung. So hat das beispielsweise der Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft bei der Durchsetzung der Rente mit 67 schonungslos offen formuliert: „Für die Investoren ist entscheidend, dass es der Regierung gelungen ist, ein Projekt gegen die Mehrheit der Bevölkerung durchzusetzen“.

Dieses Denken, wonach die Regierung in der Lage sein müsse, gegen den sich dauerhaft manifestierenden Mehrheitswillen der Bevölkerung „durchzuhalten“, hat sich in den Köpfen unserer Machteliten bis zu Herzogs Nachfolger im Amt des Bundespräsidenten, Horst Köhler, durchgesetzt: „Wir haben ein Problem mit dem Aushaltenkönnen, bis Reformen wirken. Da kommt es auf politisches Stehvermögen und gute Kommunikation an. Mir ist bewusst, dass dies leichter gesagt als getan ist. Doch das Interesse des Landes steht über partei- oder machtpolitischen Interessen.“.

Für dieses „Stehvermögen“ der Regierenden ist die Abbildung des Mehrheitswillens im Parlament eine Bedrohung. Und für den Altbundespräsidenten ist geradezu eine Horrorvorstellung, dass sich dann ein Kanzler „für jedes Gesetz, das er für nötig hält (!), die erforderliche Mehrheit im Parlament zusammenbetteln muss, weil seine eigene Fraktion ja über keine ausreichende Mehrheit verfügt.“

Deshalb muss über das Wahlrecht gesetzlich eingegriffen werden, damit der „Vertrauensschwund“ bei CDU und SPD sich bei den Wahlen nicht mehr niederschlagen kann und das Wahlsystem wieder für stabile Mehrheiten der ´schrumpfenden` Volksparteien sorgt.
Demokratie wird so zum Spielball zur Durchsetzung einer herrschenden Ideologie. In Wahrheit fürchten Herzog und sein Konvent für Deutschland etwas ganz anderes: Dass SPD und Linkspartei gemeinsam eine etwas sozialere Politik durchsetzen und so die blockierte Demokratie durch mehr Wettbewerb wieder in Bewegung bringen könnten.
Es ist schon komisch, wie Herzog und sein Konvent, die sich sonst als die großen Verfechter des Wettbewerbs verstehen, vor dem politischen Wettbewerb Angst haben.

Quelle: Süddeutsche Zeitung vom 6. März 2008 S. 6. Das gesamte Interview ist leider über das Netz nicht zu lesen, sondern leider nur der Aufmacher auf S. 1

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