Paul Krugman: Feiern als wäre es 1929

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Falls Ben Bernanke es hinbekommt, das Finanzsystem vor dem Kollaps zu bewahren, so wird er, zurecht, für seinen heroischen Einsatz gerühmt werden.
Aber was wir uns fragen sollten ist: Wie sind wir dahin gekommen?
Warum bedarf das Finanzsystem der Rettung?
Warum müssen mild gestimmte Ökonomen Superhelden werden?
Eine Übersetzung von Steffen Manthey.

Die Antwort lautet in ihrer einfachsten Form, dass wir den Preis einer willentlichen Amnesie zahlen. Wir ziehen es vor zu vergessen, was in den 1930ern geschah – und indem wir uns weigern, aus der Geschichte zu lernen, wiederholen wir sie.

Entgegen weit verbreitetem Glauben war der Crash des Aktienmarktes 1929 n i c h t der entscheidende Moment der Weltwirtschaftskrise. Was eine gewöhnliche Rezession in eine zivilisationsbedrohende Wirtschaftskrise verwandelte, war eine Welle von Bankenfluchten 1930 und 1931.

Die Bankenkrise der 1930er zeigte, dass deregulierte, unüberwachte Finanzmärkte allzu leicht katastrophale Ausfälle hinnehmen müssen. Als die Jahrzehnte vergingen, wurde die Lektion, wie auch immer, vergessen – und nun müssen wir sie neuerlich lernen, auf die harte Tour. Um das Problem zu verstehen, muss man wissen, was Banken tun.

Banken sind da, um die konfligierenden Ansprüche von Sparern und Kreditnehmern miteinander zu versöhnen. Sparer wollen Freiheit: Kurzfristige Verfügung über ihr Geld. Kreditnehmer verlangen Verbindlichkeit: Sie wollen keine schlagartigen Rückzahlungsforderungen. Normalerweise befriedigen Banken beide Wünsche: Kontoinhaber haben Zugriff auf ihr Kapital wann immer sie wollen, jedoch wird das meiste einer Bank anvertraute Geld für langfristige Anleihen verwendet. Der Grund, weswegen es trotzdem funktioniert, ist, dass Abhebungen für gewöhnlich durch neue Anzahlungen ausgeglichen werden, so dass eine Bank nur über eine bescheidene Bargeldreserve verfügen muss, um seine Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen.

Aber manchmal, oft auf nicht mehr als einem Gerücht basierend, kriegen Banken es mit Geldfluchten zu tun, in denen viele Leute versuchen, ihr Geld zum gleichen Zeitpunkt abzuheben. Und eine Bank, die eine Flucht von Kontoinhabern gewärtigt – der das Bare fehlt, um ihre Ansprüche zu erfüllen – kann Pleite gehen selbst wenn das Gerücht falsch war.

Schlimmer noch, Bankfluchten können ansteckend sein. Verlieren Inhaber bei einer Bank ihr Geld, werden Kontoinhaber anderer Kreditinstitute auch gerne nervös, eine Kettenreaktion wird ausgelöst. Es können weitere ökonomische Effekte eintreten: Wenn die überlebenden Banken nun versuchen, Bargeld an sich zu ziehen, indem sie Anleihen einfordern, kann ein Teufelskreis entstehen, in dem Bankenfluchten eine Kreditkrise auslösen, was zu mehr Firmenpleiten führt, was zu weiteren Finanzkrisen der Banken führt usw.

Das ist es, in Kürze, was 1930 bis 1931 geschah und die Weltwirtschaftskrise zu der Katastrophe machte, die sie war. Also versuchte der Kongress zu gewährleisten, dass so etwas nie wieder geschieht, indem er ein System von Regulierungen und Garantien einrichtete, das ein Sicherheitsnetz für das Finanzsystem darstellte.

Und so lebten wir alle glücklich für einige Zeit – jedoch nicht für immer.

Die Wall Street hat Regulierungen abgeschliffen, die Risiken einschränkten, aber auch potentielle Gewinne minderten. Nach und nach wand sie sich frei. Teilweise, indem sie Politiker überredete, die Regeln zu mildern, aber hauptsächlich, indem sie ein „Schatten-Bank-System“ entwickelte, welches auf komplexen Finanzarrangements vertraute, um Regulierungen zu umgehen, die geschaffen worden waren, um zu gewährleisten, dass Bankgeschäfte sicher sind. Zum Beispiel hatten Sparer, im alten System, versicherte Anleihen in eng regulierten Sparkassen, und Banken verwendeten dieses Geld für Kreditanleihen für den Häuserkauf. Mit der Zeit jedoch wurde dieses System schrittweise durch ein solches ersetzt, in dem Sparer ihr Geld in Fonds anlegten, die forderungsgedeckte Geschäftspapiere [asset-backed commercial papers] von speziellen Anlagekonstruktionen kauften, die wiederum Wertpapiere aufgekauft haben, die durch einen Pool von Vermögensgegenständen besichert sind [collateralized debt obligations], der aus der Verbriefung von Hypotheken geschaffen wurde – ohne dass ein Kontrolleur in Sicht ist. Als die Jahre dahingingen, übernahm das Schatten-Bank-System mehr und mehr des Bankgeschäftes, weil die unregulierten Spieler in diesem System bessere Geschäfte als konventionelle Banken zu versprechen schienen. Indessen wurden diejenigen, die sich um die Tatsache des Fehlens eines Sicherheitsnetzes in dieser Schönen Neuen Welt der Finanzen sorgten, als hoffnungslos altmodisch abgetan.
Tatsächlich aber feiern wir als wäre es 1929 – und jetzt ist es 1930.

Die gegenwärtige Finanzkrise ist im Grunde eine Neuausgabe der Welle von Bankfluchten, die vor drei Generationen über das Land fegte. Die Leute sind nicht dabei, das Bare von der Bank zu holen, um es unter ihre Matratzen zu stopfen – allerdings verrichten sie die moderne Entsprechung, insofern sie es aus dem Schatten-Bank-System abziehen und in Schatzwechseln des Staates [Treasury Bills; ein kurzfristiges Geldmarktpapier mit einer kurzen Laufzeit von durchschnittlich 90 Tagen; Anm. d. Übers.] anlegen. Das Resultat, damals wie heute, ist ein Teufelskreis der Finanzknappheit [financial contraction; mit der möglichen Folge einer Deflation; Anm.d. Übers.].

Mr. Bernanke und seine Kollegen bei der Fed tun alles, um diesen Teufelskreis zu unterbrechen. Wir können nur hoffen, dass sie Erfolg haben. Andernfalls werden die nächsten Jahre sehr ungemütlich – nicht eine weitere Weltwirtschaftskrise, hoffentlich, aber sicher die schlimmste Wirtschaftskrise, die wir seit Jahrzehnten gesehen haben, wird eintreten. Selbst wenn Mr. Bernanke sie behebt, auf welche Weise auch immer, ist dies nicht der Weg, eine Wirtschaft zu führen. Es ist Zeit, die Lektionen der 1930er wieder wahrzunehmen und das Finanzsystem wieder unter Kontrolle zu bekommen.

Quelle: New York Times vom 21.3.08

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