Arbeitszeitverlängerung – Eine Gespensterdebatte über eine Gespensterdebatte

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Kaum waren die betriebsbezogenen Vereinbarungen zwischen Siemens und der IG-Metall über die Verlängerung der Arbeitszeiten in den Betrieben Kamp-Lintfort und Bocholt unter Dach und Fach kam es in der öffentlichen Debatte zum üblich gewordenen Ritual: Wer bietet mehr? Flächendeckend 40, 42, 45 oder gar 50 Stunden, die Streichung einer Woche Urlaub oder von Feiertagen ohne Lohnausgleich werden nicht nur von den üblichen Verdächtigen BDI, BDA, Ifo, DIW usw. in die Debatte gebracht. Nein, inzwischen haben wir auch noch unseren neuen Bundespräsidenten, der als oberster Stichwortgeber die Arbeitszeitverlängerung als ernsthaften Beitrag zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit „der“ Wirtschaft erklärt und damit eine Gespensterdebatte über eine Gespensterdebatte anheizt.

Über das Für und Wider einer Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich für das wirtschaftliche Wachstum oder für die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit ist etwa in der Frankfurter Rundschau erfreulicher Weise ausgiebig diskutiert worden. Zur ökonomischen Sachfrage an dieser Stelle nur wenige Anmerkungen: Die Arbeitszeiten in Deutschland, können in einem Land das seit Jahren Exportweltmeister ist und das auch in diesem Jahr wieder zweistellige Zuwachsraten beim Export hat, offenbar kein (gravierender) Wettbewerbsnachteil sein.
Bayern hat 13 und Schleswig-Holstein hat nur 9 gesetzliche Feiertage und obwohl das schon seit ewigen Zeiten so ist, fällt der Nachweis schwer, dass Bayern in punkto Wachstum oder Beschäftigung einen Wettbewerbsnachteil hätte.
Wir hatten in den zurückliegenden Jahren allein schon durch die Flucht der Unternehmen aus Tarifverträgen eine Verlängerung der Wochenarbeitszeit (meist ohne Lohnausgleich)auf 40 Stunden (vgl. Eintrag vom 31.12.03). Weder wurde dadurch das Wachstum gesteigert noch ist die Arbeitslosigkeit zurückgegangen.
In Frankreich hat man eine gesetzliche Arbeitszeit von 35 Stunden pro Woche. Frankreich hat ein wesentlich stärkeres Wirtschaftswachstum als Deutschland und selbst die wirtschaftsorientierte OECD schätzt den Anteil der Arbeitszeitverkürzung am Rückgang der Arbeitslosigkeit auf 20%, manche Forschungsinstitute gar auf 30%.
Wer bei der Wettbewerbsfähigkeit vor allem auf die Konkurrenz der Billiglohnländer im benachbarten und im fernen Osten schielt, will offenbar den „Rückwärtsgang“ einlegen und in einen Unterbietungswettlauf eintreten, der dann tatsächlich in kurzer Zeit bei der 45- oder 50-Stunden-Woche ankommt. Er meint dann Wettbewerb um Lohnkürzungen und nicht Wettbewerb um das bisherige Erfolgsrezept entwickelter Wirtschaften, nämlich um die Erhöhung der Arbeitsproduktivität durch Innovation. Die Arbeitsproduktivität ist übrigens in England – dem Vorbild der Befürworter für die Verlängerung von Arbeitszeiten – deutlich niedriger als in anderen Ländern mit kürzeren Arbeitszeiten. (Siehe dazu Steffen Lehndorff, Institut Arbeit und Technik, www.fr-aktuell.de vom 6.7.04).

Ist also die Debatte um die Arbeitszeitverlängerung schon eine „Gespensterdebatte“, so ist die öffentliche Debatte, die dieses Thema auslöst noch viel gespenstischer. Das findet sogar Angela Merkel „ziemlich schrecklich“.
Die Frage ist, wie kann es funktionieren, dass aus einem einzelnen Anlass plötzlich eine Medienflutwelle wird, die die ganze Republik überschwemmt und in der fast uni sono die Erhöhung der Arbeitszeit als Erfolgsrezept ausgegeben wird?

Offenbar haben wir eine Stufe der pawlowschen Konditionierung unserer Politik und unserer Medien erreicht, in der jedes Thema, das das neoliberale Dogma der Verbesserung der Angebotsbedingungen – hier also der Lohnsenkung – nur berührt, zum Rettungsanker unserer ach so miserablen Lage hochstilisiert wird.

Da werden dann von unseren Medien vom Provinzpolitiker Peter Harry Carstensen (Haben Sie schon vorher mal einen bedeutenden Diskussionsbeitrag von ihm gehört?) über die Herren Rogowski (BDI), Sinn (Ifo), Zimmermann (DIW) bis hin zum Bundespräsidenten alle einvernommen und jeder darf ungestraft und unhinterfragt die These verkünden, dass Arbeitszeitverlängerung Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit fördern. Unser Bundespräsident darf im ZDF-Sommerinterview vom 11.06.04 mit seiner Amtsautorität sogar unwidersprochen die Behauptung vom „Urlaubsweltmeister Deutschland“ wiederholen, obwohl er als „Weltökonom“ doch wissen sollte, dass die Schweden oder die Niederländer mehr durchschnittliche tarifliche Urlaubstage haben.
Man darf also alles behaupten, was angeblich „der“ Wirtschaft dient, Hauptsache es passt ins „herrschende“ Weltbild. Und alle Medien steigen auf das Thema ein und bieten sich als Resonanzboden an.
Wie kann das so reflexartig funktionieren? Es gibt – bis auf wenige Ausnahmen – keine sachlich (wissenschaftlich) begründetet und kontroverse Debatte mehr über wirtschaftspolitische Themen. Die Sachverständigen und die Ökonomen in unserem Land sind offenbar nur noch im einzelwirtschaftlichen Denken gefangen (und da bedeutet natürlich Lohnsenkung (zunächst einmal) höhere Gewinnmargen) oder ideologisch auf die (international längst überholte) Angebotstheorie beschränkt. Die verantwortlichen Politiker plappern den Sachverständigen nach oder sie schaffen der eindimensionalen Diskussion durch windelweiche Erklärungen zusätzliche Nahrung. Stoiber: „Wir müssen bereit sein, ein Stück mehr zu arbeiten, dann sind wir auch wieder wettbewerbsfähiger“. Clement nennt die Betriebsvereinbarung über die Arbeitszeitverlängerung ein „absolut(!) richtige Entscheidung und der Bundeskanzler plädiert für flexiblere Arbeitszeiten. Und, und, und…

Keiner, aber auch keiner erinnert daran, dass betriebliche Arbeitszeiten vor allem eine Angelegenheit der Tarifparteien ist. Vor einiger Zeit wäre noch ein Aufschrei durch unser Land gegangen, wenn von der Politik so offen und einseitig in die Tarifautonomie eingegriffen worden wäre.
Aber inzwischen gelten die Gewerkschafter ohnehin nur als ideologisierte Betonköpfe, die man auf Biegen und Brechen entmachten muss.
Die Debatte über die Arbeitszeitverlängerung ist ein Musterbeispiel für die sog. „Debatte ohne Tabus“ und sie zeigt wozu die Schwäche und die Schwächung der Gewerkschaften und der Arbeitnehmerseite führt. Da wird dann ein Tabu nach dem anderen gebrochen und das einst so hohe marktwirtschaftliche Gut der Tarifautonomie wird auf dem Altar der „grundlegenden Strukturreformen“ geopfert – zum Schaden der Marktwirtschaft.

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