Brasilien – Streiks und Massenproteste gegen Abbau sozialer Rechte fordern Temer-Regime zur Kraftprobe heraus

Frederico Füllgraf
Ein Artikel von Frederico Füllgraf

Die Situation in Brasilien spitzt sich immer weiter zu. In der letzten Woche erhoben die Brasilianer sich in Massenprotesten gegen die unbeliebte „Putsch-Regierung“ Michel Temers und deren neoliberale Reformen. Zum bisherigen Höhepunkt waren mehr als eine Million Menschen auf der Straße – mehr als 300.000 alleine in São Paulo. Für die NachDenkSeiten blickt Frederico Füllgraf auf eine bewegte Woche zurück.


Zum Auftakt der Woche sorgte der nichtgewählte, seit dem 1. September 2016 amtierende de facto-Präsident Michel Temer für landesweites Gelächter. Dem rechten Wochenmagazin Veja beichtete er den Grund seines plötzlichen Auszugs aus der erst eine Woche zuvor bezogenen, offiziellen Präsidenten-Residenz, die die von der Macht geputschte Staatspräsidentin Dilma Rousseff über sechs Jahre lang bewohnt hatte. Er und seine Frau hätten kein Auge zumachen können, das Ambiente strahle “negative Energien” aus, etwas Seltsames liege da in der Luft – “Ob es wohl Gespenster sind?”, hätten sie sich gefragt und seien in die Residenz des Vizepräsidenten zurückgezogen.

In den sozialen Netzwerken lästerten nicht wenige Brasilianer darüber, dass sich Temer wohl vor einem ganz anderen “Gespenst” fürchte. Denn schon am Tag darauf erstattete Generalstaatsanwalt Rodrigo Janot beim Obersten Gerichtshof (STF) Strafanzeige gegen 83 Politiker – darunter fünf Minister Temers – wegen schwerwiegenden Korruptionshinweisen. Die 83 Politiker sollen den harten Kern einer hausinternen Liste mit mehr als 200 Namen des Bauunternehmens Odebrecht bilden, das in den vergangenen Jahren als Auftragnehmer in 12 Ländern Lateinamerikas rund 800 Millionen Euro an Bestechungsgeldern gezahlt hat.

Der in mehreren anderen Verfahren zitierte Präsident steht zwar nicht auf der Liste und doch ist er mit ihr verwoben. Seine rechte Hand, der angeklagte Chef des Präsidialamtes, Eliseu Padilha, hat nachweislich in Temers Auftrag umgerechnet 6,5 Millionen Euro illegaler Wahlspenden von der Firma Odebrecht für Temers Wahlkampagne zum Vize Dilma Rousseffs kassiert.

Auch Ex-Präsident Luis Inácio Lula da Silva wird in der seit 2016 bekannten Liste nicht genannt. Doch der eng mit dem FBI und der Justiz der USA kooperierende General-Staatsanwalt hat ihn mit seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff einfach mal dazugedichtet. Kritische Journalisten, wie Jefferson Miola vom Nachrichten-Portal GGN, unterstellen Janot erneutes Falschspiel. Weil diesmal die komplette Führungsriege des parlamentarischen Putschs gegen Rousseff vor Gericht steht, sah sich der am Putsch aktiv beteiligte Generalstaatsanwalt offenbar dazu genötigt, die Liste zu “demokratisieren”. Sein Ziel sei die stur fortgesetzte Kriminalisierung der Führung der Arbeiter-Partei, so Miola (“O truque de Janot para implodir a candidatura de Lula / Der Trick Janots zur Vereitelung der Präsidentschaftskandidatur Lulas” – GGN, 16.03.2017).

Am gleichen Tag hatte jedoch Lula da Silva vor einem Bundesgericht in Brasília seinen bisher spektakulärsten Auftritt als Angeklagter in einer Nebenhandlung des sogenannten Petrobras-Skandals. Der neue, an den Haaren herbeigezogene Vorwurf gegen den ehemaligen Staatschef, der 2010 mit einer 87-prozentigen Popularitätsrate sein achtjähriges Amt beendete, lautet, er habe seinen Einfluss bei der staatlichen Entwicklungsbank BNDES für die Kreditvergabe an brasilianische Großbauunternehmen geltend gemacht. Mehr als 65 Zeugen seien verhört worden und kein einziger stimmte den mangelnden Beweisen der Anklage zu, beschwerte sich Lula. Mit Faustschlägen auf die Anklagebank forderte er “Schluss mit diesen Unterstellungen! Wenn Sie keine Beweise haben, dann lassen Sie mich gefälligst in Ruhe!”.

Mit seltenem Klartext und Vehemenz versetzte der Ehrenvorsitzende der Arbeiterpartei (PT) mit seinem Vorwurf gegen die Medienverfolgung und parteiliche Justiz den Richter Vallisney de Souza Oliveira und eine Schar von Staatsanwälten in betretenes Schweigen. Fernseh-Journalist Kennedy Alencar, eine gesuchte, kritische Stimme im Chor der brasilianischen Monopolmedien, bescheinigte Lula einen “eindeutigen juristischen und politischen Sieg”.


Mehr als eine Millionen Menschen demonstrieren am 15. März 2017

Widerstand gegen neoliberale Rentenreform und Angriff auf Arbeitsrechte

Angetrieben von diesem politischen Umfeld, das von moralischer Fäulnis und fortgesetztem Anschlag auf den Rechtsstaat, doch andererseits vom Wiedererwachen der demokratischen Opposition geprägt ist, gingen am 15.März mehr als eine Million Brasilianer in 25 Bundesländern auf die Straßen, davon allein 300.000 Menschen in São Paulo.

In der 15-Millionen-Metropole wurden U-Bahnen und private Beförderungsmittel, ferner der Lehrbetrieb am gesamten, öffentlichen Schulsystem und Teile der staatlichen Universitäten lahmgelegt. Die Gewerkschafts-Konföderation der Arbeiter im öffentlichen Bildungsbereich (CNTE) rief die 520.000 Lehrer im Lande zum Generalstreik auf. Die Lehrer kämpfen gegen verspätete Gehaltszahlungen, behinderte Beförderungsrechte und Einschnitte in ihren Rentenanspruch.

Die Arbeitsniederlegungen und Proteste richteten sich ebenfalls gegen die “Reform” des Arbeitsrechts (CLT), mit der Beschneidung von jahrzehntealten Ansprüchen auf Sicherheit und Streikrecht und gegen die allgemeine “Flexibilisierung” des Arbeitsmarktes mit der Einführung von Teilzeitarbeit und sozialer Unsicherheit.

Die Kundgebungen waren auch als Auftakt einer landesweiten Kampagne zum Schutz Luis Inácio Lula da Silvas geplant, der am 3. Mai zum ersten Mal als Angeklagter vis-à-vis vor dem berühmt-berüchtigten Richter Sergio Moro sitzen wird und von ihm zum Verlust seiner politischen Rechte verurteilt werden könnte. Das wollen die Zentralverbände der sozialen Bewegungen “Volksfront Brasilien”, “Brasilien ohne Angst” und die Bewegung der Landlosen (MST) verhindern. Sollten Moro und seine verbündeten, rechtsradikalen Staatsanwälte und Polizisten auf Eskalierung setzen, ist für den 3. Mai ein harter Schlagabtausch mit der ehemaligen Regierungsmacht und heutigen linken Opposition vorprogrammiert.


Michel Termer, Hände weg von unseren Rechten!

Die neoliberale “Rentenreform”

Die korrupte und parteiliche Justiz will den de-facto-Präsidenten Michel Temer aus seinem Schlamassel retten, die im Schatten agierenden Akteure erwarten die Erfüllung weitreichender Ziele.

Ende 2016 reichte seine Regierung dem Parlament ihren Plan zur Novellierung des öffentlichen Rentensystems (INSS) zur Abstimmung ein.

Angeblich verschlingen die Renten 20 Prozent des jährlichen Haushalts. In dem Novellierungsantrag, der einer Verfassungsänderung bedarf, warnte der amtierende Finanzminister und ehemalige Direktor von Bank Boston, Henrique Meirelles, jedoch vor einem stetig ausufernden Finanzloch, das allein 2017 rund 50 Milliarden Euro kosten soll. Er empfiehlt daher eine radikale Beschneidung des öffentlichen Rentensystems, mit der Einsparung von umgerechnet 188 Milliarden Euro in den kommenden 10 Jahren.

Gegenwärtig führen rund 60 Millionen der 210 Millionen Brasilianer Beiträge an das öffentliche Rentensystem ab, jedoch mit Frühpensionierung, vor allem der ohnehin besser verdienenden öffentlichen Angestellten; häufig im Alter von 55 Jahren. Die neue Gesetzesvorlage verlangt daher eine Anhebung des Rentenalters auf 65 Jahre für Männer und Frauen, ungeachtet ungleicher Rollenverteilung. Jedoch, damit neu beitretende Arbeiter und Angestellte ihre Rente beanspruchen können, sollen sie nun 49 Jahre lang Beiträge geleistet haben. Mit anderen Worten: sie müssen ab dem Alter von 16 Jahren bereits einzahlen. Ein Unding, das der Mehrheit der Brasilianer den Zugang zur Universität verwehren und zur Proletarisierung zwingen soll.

Novellierungen des Rentensystems gab es unter nahezu jeder brasilianischen Regierung, so z.B. gleich zu Beginn des ersten Präsidentenmandats Lula da Silvas, im Jahr 2003. Auch seine angebliche Reform ließ das Kernstück, nicht nur der explosiven Kosten, sondern auch unverschämter und ängstlich geduldeter Privilegien, unberührt. Wenn gegenwärtig ein Arbeiter oder Angestellter in einem Privatunternehmen in Rente geht, hat er Anspruch auf maximal 1.300 Euro. Demgegenüber erhalten Angestellte im öffentlichen Dienst, wie Richter und Staatsanwälte, mit umgerechnet 10.000 Euro fast das Zehnfache und gehen mit 55 Jahren “in Rente”. Ein anrüchiges Ausmaß erreichen auch die überhöhten Pensionen der Militärs, 600.000 in ihrer Anzahl. Im Todesfall wird ihre Pension automatisch auf ihre Kinder übertragen. Das kann beim besten Willen kein Staat langfristig finanzieren. Doch von Lula da Silva bis zur Putschregierung Michel Temer traute sich kein Präsident, an den Privilegien zu rütteln.

In seiner Argumentation gegen “die Überforderung des Staates durch überhöhte Sozialabgaben” verschweigt Meirelles allerdings den zweitwichtigsten Grund für die Leckage der Staatsfinanzen: die Arbeitgeber-Schulden an das öffentliche Rentensystem, die sich 2017 auf umgerechnet schwindelerregende 122 Milliarden Euro summieren. Zu den Hauptschuldnern zählt zum Beispiel Bradesco, die zweitgrößte Privatbank im Lande, aber auch die staatliche Sparkasse Caixa Econômica.

Der seit 1976 in Brasilien lebende britische Wirtschaftswissenschaftler und Journalist Brian Nicholson durchleuchtete das anstößige System und wurde mit seinem Buch – “A Previdência Injusta: Como o fim dos privilégios pode mudar o Brasil – Das ungerechte Rentensystem: Wie das Ende der Privilegien Brasilien verändern kann”) – zum vielzitierten, kritischen Fachmann auf dem Gebiet.

Nicholson kommt direkt zur Sache: zuallererst müsse mit den Privilegien des Justizapparates, der Militärs und der Politiker mit ihren “Sultan-Gehältern und -Pensionen” aufgeräumt werden. Die welthöchste Zinsrate in Brasilien solle sofort drastisch gesenkt werden. Nicht etwa die Sozialabgaben, sondern die Zinsrate ist es, die mit der öffentlichen Verschuldung den Hauptanteil der staatlichen Ausgaben verschlingt. Würde die Regierung außerdem die Steuerhinterzieher – die dem Staat mindestens 400 Milliarden Euro schulden – hart an die Kandare nehmen, wären Brasiliens Staatsfinanzen mittelfristig saniert und ein Mindestmaß sozialer Gerechtigkeit wiederhergestellt.

Doch Temers “Rentenreform” zielt genau in die entgegengesetzte Richtung: die bisherigen Zahlungen an Rentner mit Niedrigeinkommen und an Behinderte – das Herzstück des öffentlichen Rentensystems – sollen empfindlich beschnitten werden, um eine
“Konkurrenz” mit den bessergestellten Pensionären zu verhindern. Mit anderen Worten: die privilegierten Pensionen sollen als Geschäft für die Privatbanken attraktiv gemacht und eventuell schrittweise privatisiert werden.

Der Plan ist derart aggressiv, dass er selbst vom durch und durch korrupten Parlament abgelehnt werden könnte.

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