Rezension: Weltdemokratie als aktuelle Gestaltungsaufgabe

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Von Globalisierung ist die Rede, wenn es um die weltweiten selbstzerstörerischen Entwicklungen geht, wenn die großen Zukunftsaufgaben – die Bändigung des Finanzmarktkapitalismus, die Überwindung von Massenarmut in den Entwicklungsländern und von sozialen Spaltungen in der Wohlstandszone, die Ersetzung fossiler und nuklearer Ressourcen durch erneuerbare Energiequellen – angemahnt werden. Politisch-institutionelle Antworten (polity) auf die Weltprobleme bleiben in der Regel jedoch unscharf. Eine Rezension des Buches von Christoph Zöpel „Politik mit 9 Milliarden Menschen in einer Weltgesellschaft“ von Klaus-Jürgen Scherer

So verharrt der nationalstaatliche Mainstream in der langen, den globalen Problemen nicht mehr angemessenen, Tradition politischen Denkens und Handelns in territorial abgegrenzten Gesellschaften. Zum anderen richten sich Hoffnungen im globalisierungskritischen Diskurs, so man sich nicht in Weltuntergangsszenarien ergeht, auf eine wie auch immer geartete neue Zivilgesellschaft. Internationale NGOs, Internet- Netzwerke, Weltsozialforum, Greenpeace und Attac werden als Zeichen eines globalen Aufbruchs von unten gedeutet. So auch manch gut gemeinter Global Governance- Ansatz. Dem steht eine politikwissenschaftliche Bewegungsforschung gegenüber, die lehrt, dass kritische Öffentlichkeit, Protest-Netzwerke, Basisinitiativen, Bürgerengagement und soziale Bewegungen kein Ersatz für institutionalisierte Politik sind, sondern diese bestenfalls ergänzen und in einer konstruktiven Dialektik mit dem politisch-rechtlichen Institutionengefüge stehen.

Diesem doppelten Defizit setzt Christoph Zöpel seinen faktenreichen Band mit dem etwas sperrigen Titel Politik mit 9 Milliarden Menschen in Einer Weltgesellschaft entgegen. Er zeigt den angesichts der Globalisierung notwendigen und möglichen Weg hin zum globalen Regieren. Nicht nur ausgehend von Erfahrungen aus internationaler Politik im Auswärtigen Amt und in der Sozialistischen Internationale, sondern auch sozialtheoretisch, wirtschaftswissenschaftlich und juristisch wohlbegründet.

Beschrieben wird, wie das bisherige System internationaler Politik, die Staatenwelt mit dem Gewaltmonopol nach innen und einem Recht zur Kriegführung nach außen, durch ein politisches System der Weltgesellschaft mit globaler Regionalisierung und Gewaltenteilung ersetzt werden kann.

Wahrlich eine weit reichende Perspektive, der die entstandene, u.a. von Niklas Luhmann und Manuel Castells so beschriebene, Weltgesellschaft zu Grunde liegt. Auch im Hamburger SPD-Grundsatzprogramm (2007) wird eine solche konkrete Utopie von »Weltinnenpolitik« angedeutet, die Zöpel nun systematisch begründet und reformpolitisch ausdekliniert.
Bis 2050 sollte es möglich sein, ein auf handlungsfähigen regionalen Großräumen basierendes weltpolitisches System aufzubauen, das neben Exekutive und Gerichten auch eine parlamentarische Dimension enthält.

Dass mittlerweile die Angelegenheiten aller Menschen irgendwie zusammenhängen, so die Ausgangsthese Luhmanns: »dass Evolution Weltgesellschaft konstituiert hat«, dürfte heute kaum noch Widerspruch hervorrufen. Die geschichtlichen Gründe liegen seit Hiroshima bzw. der ersten sowjetischen Atombombe in der Fähigkeit der Menschheit sich zu vernichten, im Anstieg der Weltbevölkerung seit 1945 von 2,5 auf 6,6 Mrd. und bis 2050 auf über 9 Mrd., sowie vor allem in der weltweiten Vernetzung durch die Informationstechnologien. Zudem kennen wir bereits erfolgreiche Beispiele globaler Politik: Etwa in der Gesundheitspolitik die Ausrottung von Infektionen mit dem Hauptergebnis der Verlängerung der durchschnittlichen Lebenserwartung weltweit von 46 auf 67 Jahre seit 1950, oder die Umweltpolitik mit dem FCKW-Verbot und der Implementierung des Konzepts der Nachhaltigkeit.

Eckpunkte eines weltpolitischen Reformkonzeptes

Die wesentliche Frage ist eben nicht, ob es die Weltgesellschaft gibt, sondern ob sie politikfähig ist. Die Beantwortung dieser Frage hängt wie die nach der territorialgesellschaftlichen Politikfähigkeit von Begriffs- und Geschichtsperzeptionen ab. Zöpel sucht deshalb nach universalen Begriffen und universaler Geschichte. Allen Menschen gemeinsam sind Sprachfähigkeit, Technikfähigkeit, Kulturfähigkeit und Rechtsfähigkeit. Kulturelle Identitäten sind multipel, universale Identität liegt in den Menschenrechten eines jeden einzelnen Menschen. Demgegenüber werden Begriffe verworfen, die einem demokratischen politischen System der Weltgesellschaft entgegenstehen, wie »Nation« oder »der überlegene Westen«.

Wie kann nun ein demokratisches politisches System der Weltgesellschaft gestaltet sein?

Es beruht auf universalen Menschenrechten, also den Zielen menschlicher Sicherheit und auf globalpolitischen Leistungen, also den Zielen gesellschaftlicher Nachhaltigkeit. Sein Strukturprinzip ist die Gewaltenteilung, primär föderal, aber auch nach Montesquieu. Föderale Gewaltenteilung lässt ein globales Mehr-Ebenen-System mit starken Weltregionen entstehen. Heute bestehen in der Struktur der UN Ungleichheiten zugunsten mächtiger Staaten, bei Missachtung gleicher politischer Rechte eines jeden Einzelnen. Formal gibt es 192 gleiche Staaten, aber auch die Entscheidungsprivilegien der Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates. Stattdessen seien auf die Einwohner bezogen ausgewogene Regionen erforderlich.

Zum Maßstab werden bestehende Regionen, etwa China mit 1,3 Mrd. oder Indien mit 1,1 Mrd. Einwohnern. Perspektive sind neun oder zehn derartiger Regionen, mit im Durchschnitt 660 Mio. Einwohnern: eben China, Indien, dann die USA mit Zentralamerika, Südamerika, Subsahara-Afrika, der Mittlere Osten, Russland mit den GUS-Staaten, Europa und ein oder zwei asiatische Regionen. Sie sollten den UN-Sicherheitsrat bilden.

Diese Weltregionen teilen Staatlichkeit mit den ihnen zugehörigen kleineren Staaten, der dritten Ebene. Funktionsfähige Staatlichkeit setzt Einwohnergröße voraus, plausibel sei 1% der Weltbevölkerung. So gibt es die großen 18 Staaten mit 69 % der Weltbevölkerung, versteht man die EU als einen staatlichen Akteur sogar 75 %. Kleinere Staaten dienen häufig den Privilegien ihrer Eliten oder werden zum Spielball größerer Staaten.

Auf der globalen Ebene ist die Montesquieusche Gewaltenteilung bereits ausgeprägt. Es gibt eine ausdifferenzierte Exekutive, als Gemeinschaftsinstitution der UN-Sekretariate und der Staaten im Sicherheitsrat, als Internationale Gerichtsbarkeit. Es fehlt aber ein globales Parlament, was notwendig sei trotz des westlichen Erschreckens, dass bei menschenrechtsorientierter Repräsentativität von 660 Sitzen 130 auf Chinesen, 110 auf Inder, 49 auf Europäer, 30 auf US-Amerikaner entfallen würden. Hauptdefizit der globalen Ebene sind zudem die Finanzen, deshalb sollten 5% der Soldaten und 5% der Militärhaushalte aller Staaten den UN für ihre globalen Aufgaben zur Verfügung gestellt werden.

Über die Begründung und die Institutionen der Weltpolitik hinaus werden fünf zentrale Programme globaler Entwicklungspolitik vorgeschlagen: Die Globalisierung der Raumgebundenheit mache ein Welt-Raumordungsprogramm notwendig. Die Individualisierung und gleichzeitige Universalisierung kultureller Identität führe zu einer globalen Politik der informationellen Selbstbestimmung, zu einem weltweiten Netzintegrationsprogramm.

Die Ablösung kultureller Integration durch soziale Integration auf der Grundlage von Bildung müsse zu einem Weltbildungsprogramm führen. Die Entwicklung von der territorial gebundenen politischen und bürgerlichen Gesellschaft zur globalen Zivilgesellschaft verlange eine Politik des globalen Gewaltmonopols, ein Programm innerer Weltsicherheit. Die Entwicklung von der Agrar- über die Industrie- zur Wissensgesellschaft führe zu einem integrierten Weltforschungs- und -rohstoffprogramm. Diese fünf Programme, wie die Weltentwicklungspolitik insgesamt, bedürften dabei eines Weltfinanzausgleichs, der über die zwischenstaatliche Entwicklungsfinanzierung weit hinausgehen müsse.

Ein solches weltpolitisches Reformkonzept, ein Wurf, der Orientierung geben will, den Weg in die Zukunft weist, hat nur dann eine Chance, wenn unser Denken durch die globalen Zusammenhänge geprägt wird und wir handlungsorientiert, also politisch und programmatisch, kommunizieren. Immerhin, in dramatischen globalen Krisen wurde schnell gelernt: Wir besitzen jetzt ein internationales Tsunami-Frühwarnsystem und beim Weltfinanzcrash setzen plötzlich alle auf abgestimmte staatliche Regulierung, als ob es nie eine neoliberale Ideologie gegeben hätte.

Bei Zöpel heißt der Gegner »Dogmatismus, Bürokratismus und sozialer Autismus«, demgegenüber lassen »politische Wertorientierung und kritische Denkorientierung demokratisches Handeln entstehen«. Wie immer unsere Zukunftschancen stehen mögen – ohne Letzteres wird die Gestaltung der Globalisierung nicht gehen.

Der Rezensent Klaus-Jürgen Scherer, ist Geschäftsführer des Kulturforums der Sozialdemokratie und Redakteur der Zeitschrift „Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte“.

Die Redaktion der Neuen Gesellschaft hat uns dieses Manuskript zur Verfügung gestellt.

Christoph Zöpel: Politik mit 9 Milliarden Menschen in Einer Weltgesellschaft.
Eine Orientierung in Worten und Zahlen.
Vorwärtsbuch, Berlin 2008, 635 S., € 29,95.

Einige Anmerkungen zu Christoph Zöpels Buch von Wolfgang Lieb:

Christoph Zöpel entwickelt in seinem über 600 Seiten starken Werk „Politik mit 9 Millionen Menschen in einer Weltgesellschaft“ eine Utopie einer Menschheitsentwicklungsgeschichte in weltbürgerlicher Absicht. Er erklärt dabei die Utopie zur Wirklichkeit, zur Verwirklichung fehle lediglich das Wissen bei den Menschen und vor allem bei den politischen Akteuren.

Weltgesellschaft und globale Politik seien bereits Realität, es bedürft nur noch in globalpolitischer Perspektive Kommunizierende und Handelnde, die mehr über weltgesellschaftliche Zusammenhänge wüssten.

Die Möglichkeiten vom „guten Leben“, von „Freiheit in Sicherheit“, von „Nachhaltigkeit“, ja auch von Demokratie und einem föderalen Weltsystem seien angelegt und – vor allem – seien sie alternativlos.

Als theoretische Grundlage für die Beschreibung und für die Möglichkeit der Weltgesellschaft bedient sich Zöpel der von Niklas Luhmann in die Soziologie eingeführten „Systemtheorie“. Diese Theorie hat den Vorteil, dass sie Widersprüchliches oder gesellschaftliche Interessengegegensätze durch immer höhere Abstrahierung der Begriffe auflöst bzw. – in der Sprache dieser Theorie – „funktional differenziert“, so dass sich Unterschiede oder gar Konflikte verflüchtigen bzw. universalisieren.

Auf dieser begrifflichen Abstraktionsebene mag man zu „anschlussfähiger Kommunikation“ gelangen, die Aussagekraft bleibt jedoch in einer kaum noch greifbaren Vagheit, ja noch mehr sie landet oft im Trivialen. Um es an einem Beispiel zu erläutern: Auf Seite 230 heißt es etwa:

„Wenn man unter Gesellschaft das Zusammenleben der Menschen versteht, kann man mit Recht von der Existenz einer Weltgesellschaft sprechen.“

Mittels „funktionaler Differenzierung“ gelangt man über Regionalgesellschaften, über territoriale Grenzen, über kulturelle und ethnische Unterschiede, über die Nationalstaaten problemlos hinweg. Damit das ganze Konstrukt sich nicht in einem nicht mehr greifbaren „universalen Universalismus“ (S. 247) verflüchtigt, zieht Zöpel fünf aus seiner Sicht „universalhistorische gesellschaftliche Entwicklungen“ heran, nämlich:

  • Den sektoralen Wandel von der Agrar- über die Industrie- zur Wissensgesellschaft.
  • Die Globalisierung der Raumgebundenheit.
  • Die Individualisierung und gleichzeitig die Universalisierung kultureller Identität.
  • Die Ablösung kultureller Integration durch soziale Integration auf der Grundlage von Bildung.
  • Die Emanzipation aus der territorial gebunden politischen und bürgerlichen Gesellschaft in die globale (Zivil-)Gesellschaft. (S. 245)

Einmal davon abgesehen, dass man solche „universalhistorische Entwicklungen“ heftig bestreiten kann – nehmen wir nur einmal den Begriff der „Wissensgesellschaft“ -, versucht Zöpel diese Entwicklungsstränge bis ins Detail auf verschiedensten Feldern nachzuzeichnen, ohne allerdings von der Beschreibungsebene auf real bestehende Konstellationen und Machtinteressen Bezug zu nehmen.

Auf der Beschreibungsebene ist das Buch einerseits teilweise blitzgescheit und durchaus kritisch, andererseits reiht es – durchaus in aufklärerischer Absicht – unendliche viele Tatsachen, enzyklopädisches Wissen und politologische oder soziologische Definitionen aneinander, bei denen man leicht die Übersicht verliert.

Das Buch gibt beispielsweise kaum Antworten darauf, wie die zunehmende Armut, wie Hunger und Not schon bei derzeit erst über 6 Milliarden Menschen auf dem Globus bis 2050 bei dann 9 Milliarden bekämpft werden könnten. Auch Verteilungskonflikte um Ressourcen, etwa um Energie, verflüchtigen sich in der universalen Idee der Weltgesellschaft. Die Systemtheorie erlaubt es Interessen und materielle Macht zur Interessendurchsetzung einfach wegzudefinieren.

Als versierter Außenpolitiker, Vorsitzender des Komitees für Wirtschaft, Soziale Kohäsion und Umwelt der Sozialistischen Internationale (SI) und Experte für internationale Vertragspolitik baut Zöpel auf das sich entwickelnde System internationaler Verträge und Abkommen. Seine Hoffnungen setzt er auf die Vereinten Nationen, die er zu einem demokratisch legitimierten Weltapparat fortentwickelt sehen möchte. Wo bleibt aber die Kritik daran, wie z.B. im von Kofi Annan angestoßenen „Global Compact“ der UN sich die Interessen der multinationalen Konzerne niedergeschlagen oder – genauer gesagt – durchgesetzt haben, so dass diese Selbstverpflichtung der Unternehmen zur stumpfen Waffe geriet.

Gegen knallharte reale, meist ökonomische Interessen (die sogar mit kriegerischen Mitteln durchgesetzt werden) stellt Zöpel die (im Kantschen Sinne) idealistische Hoffnung, dass sich Wissen und Vernunft in der Welt durchsetzen werden: „Hitler wurde von Kant überlebt, seine sehr praktische konkrete Utopie ´Zum ewigen Frieden` (1795) ist durch Hitlers Verbrechen nicht widerlegt. Gerade der Holocaust ist eine Verpflichtung, für die Idee grenzenloser Humanität unermüdlich zu streiten. Grenzenlose Humanität, das wäre im 21. Jahrhundert die Eine Weltdemokratie – Leitgedanke des utopischen Epilogs am Ende dieses Buches.“

Wo die Kräfte oder wo die Dynamik allerdings herkommen sollten, die die Herrschaftsinteressen und die Verteilungskämpfe überwinden könnten, bleibt offen. Gegen solche Einwände immunisiert sich der Autor, indem er denjenigen, die solche technokratischen oder positivistischen Einwände erheben, vorhält, dass sie damit solche Interessengegensätze nur „rechtfertigten“ (S. 610).

Ich finde, mit dieser dialektischen Widerlegung werden die vorhandenen Probleme allenfalls intellektuell aber nicht praktisch überwunden. Aber letzteres wäre vielleicht ein weiteres Buch wert.

Das Buch „Politik mit 9 Milliarden Menschen in einer Weltgesellschaft“ ist, eine geradezu enzyklopädische Schrift und gerade deshalb eine Herausforderung für seine Leser. Es ist häufig nicht einfach in dem angehäuften Wissen die Gedankenstränge zu verfolgen. Statt der Aneinanderreihung von politologischen Definitionen hätten Straffungen und vor allem eine klare Gliederung als Leseanleitung und vor allem rekapitulierende Zusammenfassungen der Kapitel das Verständnis erleichtert.

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