„Das ist das Pfund, mit dem Du wuchern musst: Die Herstellung der sozialen Gerechtigkeit. Aber was ist das und wie geht das?“

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Das sind Kernsätze eines Briefes, eines sehr guten Briefes, den ein Leser der NachDenkSeiten aus Niedersachsen an Martin Schulz mit Kopie an einige andere Führungspersonen der SPD geschrieben hat. Der Text des Sozialdemokraten Hans-Georg Tillmann ist treffend und skizziert die Wirklichkeit unserer Gesellschaft jenseits der Propaganda, wonach es uns allen gut gehe. Ich habe ihn deshalb darum gebeten, den Text veröffentlichen zu dürfen. Hier ist er. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Lieber Martin,

wir haben im Saarland rechtzeitig noch einen Schuss vor den Bug gekriegt, um aus der Martin-Schulz-Euphorie aufzuwachen und an die Arbeit zu gehen.

Die Aufgabe, die Du und die Partei zu bewältigen haben lautet: Eine Neue Sozialdemokratie herzustellen und gleichzeitig Deine Läuterung vom Saulus zum Paulus durchzuführen.

Vergiss bitte niemals, die Euphorie, die Du bei den Bürgern ausgelöst hast, als Du die Hoffnung auf soziale Gerechtigkeit erweckt hast.

Das ist das Pfund, mit dem Du wuchern musst: Die Herstellung der sozialen Gerechtigkeit.

Aber was ist das und wie geht das?

Wenn Du die Herstellung sozialer Gerechtigkeit tatsächlich angehen willst, wirst Du als erstes feststellen, dass Du dafür in der SPD ziemlich wenige brauchbare Mitstreiter hast.

Wir sind leider in den letzten Jahrzehnten zu einer neoliberalen Partei mutiert, die häufig die Schwächsten und die Normalbürger belastet und die Reichen begünstigt hat.

Es ist daher kein Wunder, dass eine große Zahl der Bürger die SPD wahrnimmt als einen Verein der Karrieristen und “Wirtschaftsversteher”.

Du könntest das stoppen, aber es sind gewaltige Änderungen notwendig und es liegt ein riesiger Berg an Arbeit vor Dir und Dir und den Bürgern wird ständig die neoliberale Propaganda in den Ohren dröhnen: “Es geht uns gut!”.

Such Dir in aller Ruhe in der Partei die Genossen zusammen, die schon in der Vergangenheit Konzepte entwickelt haben, die die soziale Gerechtigkeit wiederherstellen, z.B. in der Rentenpolitik.

Ich sage Dir an dieser Stelle ausdrücklich, dass Andrea Nahles nicht dazu gehört. Ihr Rentenkonzept, das sie gemeinsam mit den Arbeitgebern und der Versicherungswirtschaft entwickelt hat, gehört in die Abfalltonne.

Eher wirst Du da schon gute Gedanken bei Klaus Barthel, dem AfA-Vorsitzenden finden, der in der Partei bisher allerdings wenig Einfluss hatte.

Mach Dir eines klar Martin: Du bist noch weit davon entfernt, eine Neue Sozialdemokratie zu verkörpern und bist noch weit davon entfernt, Dich von einem Saulus in einen Paulus zu verwandeln.

Darum mach Dich weiter auf die Reise.

Lass Dir ruhig noch 1 – 2 Monate Zeit.

Geh zu den Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden und mach ihnen klar, dass sie mit ihrer Lohn- und Sozialdumpingpolitik die Hoffnungslosigkeit der Bürger und das Aufkommen der politischen Rattenfänger befördert haben.

Mach Ihnen klar, dass es auch in ihrem Interesse liegt, dass gute Löhne und gute Sozialleistungen erforderlich sind, um die Volkswirtschaft wachsen zu lassen und den sozialen Frieden zu sichern und das gesellschaftliche Chaos zu verhindern.

Mach ihnen klar, dass die SPD die linke Kraft ist, die das so steuern kann, dass die Wirtschaft nicht abgewürgt wird.

Und dann geh auch zu Wissenschaftlern wie z.B. Prof. Butterwegge und lass Dir aus wissenschaftlicher Sicht über die soziale Ungerechtigkeit berichten.

Oder geh zu einem Wirtschaftsinstitut wie dem DIW in Berlin und lass Dir dort von der Steuerungerechtigkeit berichten, oder lies den Vorschlag des DIW zur Erbschaftssteuerreform, die selbst bei Schonung der Unternehmen (Steuerstundung statt Steuerschenkung) zu 5 Milliarden € Mehreinnahmen führen würde und rede mit dem Leiter Prof. Fratzscher über die soziale Ungerechtigkeit in diesem Land, aber hüte Dich vor dessen Aussagen zur Public Private Partnership, halte Dich da besser an das Minderheitenvotum des Gewerkschaftsvertreters und hüte Dich verdammt noch mal vor dem IW in Köln, das eine reine Propagandaabteilung der Deutschen Wirtschaft ist und genieße das neoliberale IFO Institut in München mit äußerster Vorsicht, das auch schon mal zur Verdeutlichung der zu steigernden Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands Vorgaben von Goldmann Sachs nutzt (Prof. Sinn in einem Vortrag in der Urania Berlin vor 4 bis 5  Jahren).

Und dann geh zu den Tafeln, die mittlerweile 1,5 Millionen Menschen in Deutschland versorgen.

Es ist gut, dass es die Tafeln gibt, aber es ist gleichzeitig ein gesellschaftspolitischer Skandal, dass sie in einem der reichsten Länder der Welt überhaupt notwendig sind.

Geh auch in die Suppenküchen und sprich mit den dortigen Bürgern und den Organisationen, die Tafeln und Küchen veranstalten.

Du wirst dort eine Realität kennenlernen, die in der neoliberalen Presse nicht existiert. 

Geh zu den Gewerkschaften außerhalb der IGBCE, die für Strom aus Kohle, CETA und den Monsanto-Deal sowie überdurchschnittliche hohe Facharbeiterlöhne steht, und sieh Dich dort unterhalb der Vorstandsebene um, bei der Basis eben und lass Dir dort von der Arbeitswirklichkeit erzählen, die in der neoliberalen Presse ebenfalls nur am Rande auftaucht: Von der “Arbeitsverdichtung”, die häufig krank machende Ausmaße erreicht, von den Überstunden, die nicht bezahlt werden, von den Mindestlöhnen, die bei Minijobbern in 50% der Fälle nicht gezahlt werden, von den Arbeitern, die 2 – 3 Jobs hintereinander machen müssen, um über die Runden zu kommen, von den Rentnern, die zunehmend bis zum Tod arbeiten müssen, um menschenwürdig zu leben und die sich totlachen über die Rente mit 63, geh zu den älteren Arbeitnehmern, die noch gute Arbeitsverträge haben, aber befürchten müssen, bald rausgeworfen zu werden, weil die Jüngeren für die Hälfte arbeiten, geh zu den Jüngeren, die mit schlechten, befristeten Arbeitsverträgen gerade mal über die Runden kommen, aber keine Familie gründen können, geschweige Kinder finanzieren können, was wiederum das demographische Problem verschärft, geh zu den ca. 1 Million “Clickworkern”, die ohne jede soziale Absicherung Kurzjobs im Internet erledigen, manchmal nur minutenlange und deren Beste sagen, dass sie nicht für weniger als 1 € pro Stunde arbeiten (Verdi und IG Metall haben entsprechende Arbeitsgruppen), geh zu den Leuten ohne Schulabschluss, geh zu den Langzeitarbeitslosen, geh zu den Mietern, die nicht wissen, ob sie ihre Wohnung demnächst noch bezahlen können und gleichzeitig wissen, dass sie keine Chance haben, eine billigere, bezahlbare Wohnung zu finden, geh zu den Menschen, die nicht mehr zum Arzt gehen, weil sie sich die Zuzahlungen nicht mehr leisten können, oder den gesetzlich Versicherten, die mit Zahnlücken leben, da sie keine 80% bei Zahnersatz zuzahlen können, geh zu den Scheinselbständigen, die von ihren Hungereinkommen gerade über die Runden kommen, oft ohne Krankenversicherung, die sie sich nicht leisten können, geschweige denn eine Altersabsicherung, geh zu den Zeitarbeitern, die erhebliche Lohneinbußen hinnehmen mussten, als sie nach Arbeitslosigkeit den erstbesten Job annehmen mussten, um nicht vollkommen die soziale Leiter hinunter zu fallen, geh zu den Taxifahrern, die mit Uber zunehmend konkurrieren müssen, geh mal zu Uber-Fahrern und frag sie nach ihrer Arbeitszeit und ihrem Einkommen, geh zu den Geschäftsführern des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes oder des Sozialverbands Deutschland, usw, usw, usw ……

Diese Liste, mein lieber Martin, ließe sich noch sehr lang erweitern.

Aber alles das ist eine Realität, die in der neoliberalen Berichterstattung und in der Denke der SPD nicht mehr vorkommt.

Wenn ich dann von Dir heute in der Zeitung (HAZ) lese, dass Du angeblich Steuererleichterungen für die niedrigsten Einkommen ablehnst, packt mich die Wut und ich denke, dass ist noch genau so ein neoliberaler Schwätzer, wie die Mehrzahl der Politiker und kann immer besser die Bürger verstehen, die sich angewidert von der Politik abwenden und entweder gar nicht mehr wählen gehen oder den Rattenfängern hinterherlaufen.

Verdammt noch mal Martin !

Ich weiß nicht, wer Dir an dieser Stelle wieder einen solchen Unsinn ins Gehirn gepflanzt hat. 

Aber wer nach Abzug aller Ausgaben von Miete über Energie, Versicherungen etc. noch 100,– € in der Tasche hat, um damit einen ganzen Monat zu leben, weiß es sehr zu schätzen, wenn ihm der Staat 100,– € Steuern beließe.

Wenn Dir nach diesen Ausführungen der Kopf raucht, vergiss bitte eins nicht: Du musst Dir immer klarmachen, was die großen Kräfte sind, die global die Dinge in Gang setzen und beeinflussen.

Das ist das große Kapital mit 300 Billionen $ Anlagegeldern, die über die Wallstreet, Investmentgesellschaften wie Blackrock oder Spekulanten wie George Soros nach einer Maxime funktionieren: Maximaler Profit, in kürzester Zeit, egal wie, unter Vermeidung von Steuerzahlungen.

Die große Propaganda dieses Kapitals lautet. “Herstellung von Wettbewerbsfähigkeit”, was nichts anderes bedeutet, als eine nie endende Spirale nach unten aus Lohn- und Sozialdumping und Steuerdumping für Reiche und Konzerne.

Diese Entwicklung lässt sich nur schwer national aufhalten, und muss daher durch eine neue, internationale und globale Sozialdemokratie begleitet werden.

Also bring gefälligst die internationale Ausrichtung der SPD wieder in Gang, auch dieser Bereich ist gegenwärtig in der SPD unterentwickelt.

Für Dich, lieber Martin, würde es zunächst vollkommen ausreichen, wenn Du den unteren und mittleren Einkommen eine spürbare Steuerentlastung zukommen lassen würdest und ihnen ein Konzept präsentieren würdest, wie auch eine Altenpflegerin mit einem Bruttoeinkommen von 1.500,– € nach 45 Berufsjahren eine lebensstandardsichernde, gesetzliche Rente erhält und nicht 650,– €, wie gegenwärtig dank sozialdemokratischer “Rentenreformen”.

Aber vergiss nicht, an der großen Geschichte von der Neuen Sozialdemokratie weiter zu arbeiten und sie in absehbarer Zeit darzustellen.

Geh durch das Land und sprich mit den richtigen Leuten

Lass Dir noch Zeit.

Du bist noch lange kein Paulus.

Gustav Heinemann hat mal gesagt, dass man den Wert einer Gesellschaft daran erkennt, wie sie mit ihren Schwächsten umgeht.

Ein großer Sozialdemokrat!

Ähnliches hat mal ein anderer bekannter Politiker gesagt:

“Die Menschlichkeit einer Gesellschaft zeigt sich nicht zuletzt daran, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht.” (Helmut Kohl, Bonn am 15.5.1998)

Scheinbar wissen alle, worauf es ankommt.

Wir müssen es nur noch tun.

Mit solidarischen Grüßen
Hans-Georg Tillmann
Rechtsanwalt