Armut als Politisches Problem

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Ein Referat von Johanno Strasser auf der Fachtagung „Armut bedroht unsere Gesellschaft“ der AWO-Landesarbeitsgemeinschaft Nordrhein-Westfalen am 18. Februar 2009 in Düsseldorf.

Johano Strasser
Armut als politisches Problem

1.

Armut als politisches Problem zu verstehen, ist keineswegs selbstverständlich. Im Mittelalter war die Ansicht verbreitet, Armut sei ein willkommener Anlass für den Christenmenschen, seine Mitmenschlichkeit durch das Geben von Almosen zu dokumentieren. Natürlich hätte Gott, so das Argument scharfsinniger Theologen, die Welt auch so einrichten können, dass alle Menschen reich wären oder zumindest in Wohlstand lebten. Er habe es nicht getan, um den Reichen die Möglichkeit zu geben, sich von ihren Sünden durch Gaben an die Bedürftigen freizukaufen. Die Argumentation konnte auch in eine Rechtfertigung des Reichtums umgemünzt werden, wie es der Erzbischof Siegfried von Mainz in einem Brief an den im Jahr 1073 zum Papst gekürten Hildebrand tat, als der sich gegen die einträgliche Praxis des kirchlichen Ämterverkaufs wandte:
…ein fröhlicher Geber muss, um Gott viel geben zu können, auch selbst viel besitzen.
Wäre Herr Ackermann von der Deutschen Bank so fromm wie der gute Siegfried, der Ausspruch wäre auch ihm zuzutrauen.

Dagegen sprach Franz von Assisi im 13. Jahrhundert vom „Skandal der Armut“. Ist Franz von Assisi der Vater des modernen Sozialstaates? Das wäre wohl zu viel gesagt. Aber es gab sozial Gesinnte, die später mit ihren Reformprojekten an ihn anschlossen.
1848 veröffentlicht der katholische Ordensgeistliche Antonio Rosmini-Serbati im Geiste des Franz von Assisi, La Costituzione Civile Secondo la Giustizia Sociale = das erste Konzept der sozialen Gerechtigkeit. Es kommt allerdings 1849 auf den Index verbotener Bücher, weil der Kurie so viel soziales Engagement nun doch zu umstürzlerisch vorkam. Der Autor unterwirft sich als gehorsamer Sohn der Kirche der päpstlichen Autorität und schweigt hinfort zu diesem Thema.

Die Mehrheit der Katholiken – und wohl auch die Mehrheit der Protestanten – blieben lange der traditionellen Sicht von der Gottgewolltheit von Reichtum und Armut verhaftet. Im Mittelalter wurde die Frage nach der gerechten Gesellschaft traditionell dadurch beantwortet, dass man jeder Gruppe ihren Platz zuwies: suum quique. Die Armen waren unten, Objekte der Mildtätigkeit, die Reichen oben, von Gott begünstigt und eben darum zu guten Taten verpflichtet. Dass die Abhängigkeit vom Wohlwollen der Reichen die Menschenwürde der Armen tangierte, wollte man zumeist nicht wahrhaben.

Immerhin galt Mildtätigkeit in den christlichen Kirchen traditionell als Tugend und Armut keinesfalls als Schande, vor allem dann nicht, wenn sie, wie in einigen christlichen Ordensgemeinschaften, selbstgewählt war. Allen irdischen Gütern freiwillig zu entsagen, um allein Jesus nachzufolgen, galt vielen als ein bewundernswertes Lebenskonzept.
Daran änderte sich gründlich erst etwas im 17. Jahrhundert. Die Puritaner, die mit der göttlichen Gnadenwahl so ihre Probleme hatten, kamen auf die Idee, dass die Auserwähltheit sich daran zeige, ob man im Leben ökonomischen Erfolg habe oder nicht. Das führte bei vielen zu einer Ächtung der Armen, wie sie heute in der puritanisch geprägten angelsächsischen Welt immer noch anzutreffen ist.
Als, ebenfalls ab dem 17. Jahrhundert, das Nützlichkeitskonzept die Staatstheorie des Merkantilismus zu beherrschen begann, war für die Armen kein Platz mehr in der Gesellschaft. Sie wurden kaserniert, und weil Armut in der Regel als persönliches Versagen oder als äußeres Zeichen göttlicher Verdammung interpretiert wurde, wurde den Armen in Arbeitshäusern mit brutalen Methoden die Faulheit ausgetrieben.

Ende des 17. Jahrhunderts schätzt der Pionier der Statistik Gregory King, dass die Armen 47 % der englischen Gesellschaft ausmachen. Vauban, der zumeist nur als Festungsbaumeister bekannt ist, aber auch ein sozial engagierter Schriftsteller war, schätzt zur gleichen Zeit die Anzahl der Armen und Bettler in Frankreich auf 40 %. Was hieß damals arm? Arm waren damals Menschen, die nicht genug hatten, sich und ihre Familie zu kleiden und zu ernähren. Oft wurden sie als „unnütz für die Gesellschaft“ und als potentielle Gefahr in Armen- oder Arbeitshäuser gesperrt, die eher Gefängnissen als Hilfseinrichtungen glichen. Dem aufkommenden Bürgertum erleichterte es das Gewissen, wenn die ausgehungerten und in Lumpen gekleideten Opfer des sich entwickelnden Kapitalismus in der Öffentlichkeit nicht mehr zu sehen waren.

Zur Zeit der industriellen Revolution und bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts hinein wurden Massenarmut und Massenelend in Europa allmählich zu einem Problem, das politisch nicht mehr negiert werden konnte. Mit der Entstehung der Arbeiterbewegung, die rasch an Bedeutung gewann, kam die Armut als soziale Frage auf die Tagesordnung der Politik.

2.

Wie ist die Lage heute? Armut wird heute im Unterschied zu absoluter Armut gemeinhin in Relation zum gesellschaftlichen Umfeld definiert: Aus dieser Sicht ist arm, wer weniger als 60 % des Durchschnittseinkommens in seinem Land zur Verfügung hat. Also sind Arme in Deutschland am Einkommen gemessen nicht dasselbe wie in Polen, in der Slowakei oder in Portugal. In der EU insgesamt sind Arme immer noch besser dran als in Afrika, Asien und Lateinamerika. Armut ist eben kein ganz und gar objektives, sondern auch ein subjektives Problem. Armut bedrückt durch den Vergleich mit dem, was normal ist, was anderen zur Verfügung steht; Armut kann beschwerlicher oder weniger beschwerlich sein, je nachdem, welche Vorstellung von einem guten Leben in der jeweiligen Gesellschaft vorherrscht. In unserer ökonomistischen Welt, in der die Meinung vorherrscht, dass das Glück im Konsum zu suchen sei, dass die Vermehrung der Konsumoptionen der eigentliche Weg zu einem glücklichen Leben ist, ist Armut doppelt erniedrigend. Und wenn man in der Werbung täglich und stündlich vorgeführt bekommt, worin angeblich ein erfülltes Leben besteht, wenn man Woche für Woche in der Regenbogenpresse nachlesen kann, wie die Reichen ihr Leben im Luxus genießen, kann sogar das Leben in einigermaßen gesicherten ökonomischen Verhältnissen als elementare Lebensverfehlung erfahren werden.

Es ist nicht verwunderlich, dass drei Viertel der Deutschen die Gesellschaft, in der sie leben, für ungerecht halten. Seit 1990 sind in Deutschland Lohnquote und Sozialleistungsquote kontinuierlich gesunken, während die Kapitaleinkommen drastisch gestiegen sind. Deutschland ist das Land in Europa, das dem US-amerikanischen Modell am nächsten kommt: während in den USA 25 % der Beschäftigten im Niedriglohnsektor arbeiten, sind es in Deutschland mittlerweile 23 %. Kein anderes Land in Europa hat vergleichbare Zahlen. Und was das relative Rentenniveau angeht, rangiert Deutschland inzwischen auf Platz 26 in Europa; nach uns kommt nur noch die Slowakei.

In den letzten Jahren ist die Armut in Deutschland immens gestiegen, auch die Kinderarmut. Es ist ein Skandal, dass erst ein Gerichtsbeschluss die Politiker dazu zwingt, einzugestehen, dass die Hartz-IV-Sätze für Kinder völlig unzureichend sind. Aber auch die Altersarmut nimmt zu, und Arbeitslosigkeit und die wachsende Zahl unterbezahlter Jobs sorgen dafür, dass dieses Problem uns schon bald über den Kopf wachsen wird, wenn wir nicht umsteuern. Die working poor, also Menschen, die trotz Vollzeitarbeit, von ihrer Arbeit nicht leben können, gehen auch in Deutschland in die Millionen, während einige wenige viele Millionen Euro im Jahr verdienen und Milliardenvermögen anhäufen. Und wer vom Elternhaus keinen Bildungsvorsprung mitbekommt, wem als Kind und Jugendlicher kein eigenes Zimmer zur Verfügung steht, wer sich die teuren Nachhilfestunden nicht leisten kann, bleibt immer öfter in den unteren Etagen unseres hochselektiven Bildungssystems hängen. Wir sind mit Österreich das einzige Land in Europa, das sich immer noch eine Halbtagsschule leistet. Heute studieren an deutschen Universitäten weniger Kinder aus Arbeiterhaushalten als in den 70er Jahren.

Und um uns herum in Europa? Die Einwohner der fünf ärmsten Länder der EU verfügen über 32 % der Kaufkraft der Einwohner der fünf reichsten Länder der EU. Und, was noch schlimmer ist, der Abstand zwischen den reichen und den armen Ländern in der EU nimmt zu. In der EU insgesamt leben 72 Mio. Menschen an der Armutsgrenze; das sind immerhin 16 % der EU-Bevölkerung. Die Armen hungern in aller Regel nicht, obwohl das mittlerweile auch vorkommt, verhungern muss im reichen Europa keiner – auch dank der Arbeit sozialer Verbände wie der AWO, der Caritas, der Diakonie etc. Aber Armut heißt zumeist Exklusion, Reduzierung der sozialen Kontakte, der kulturellen und politischen Teilhabe am Leben der Gesellschaft, und zumeist geht Armut mit einem prekären Selbstwertgefühl einher. Wer arm ist, kann sein Schicksal oft nicht mehr selbst in die Hand nehmen, wie es jemand mit einem ausreichenden Einkommen vermag. Er wird Objekt der gesellschaftlichen Dynamik, und oft gibt er alle Hoffnung auf, wird fatalistisch oder depressiv. Wer ausgeschlossen wird, schließt sich durch sein Verhalten oft selbst noch weiter aus.

Die Stigmatisierung der Ausgeschlossenen wirkt. Ihr gebrochenes Selbstbewusstsein, das oft auch dazu führt, dass sie sich gar nicht mehr zutrauen, ihre Lage noch einmal verbessern zu können, macht die Rede von den faulen Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern ohne Initiative scheinbar plausibel. In unserer leistungsbesessenen Gesellschaft gelten nur so genannte Leistungsträger etwas, auch wenn es oft mit ihrer Leistung, genau besehen, nicht weit her ist. In den letzten Jahren ist ein Teil der Armen in unserer Gesellschaft wieder sichtbar geworden. In jeder größeren Stadt gibt es eine Suppenküche, wo arme Menschen Schlange stehen, um wenigstens einmal am Tag ein warmes Essen zu bekommen. Wer hungrig ist, wer jeden Cent zweimal umdrehen muss, ehe er ihn ausgibt, wirkt oft auf andere nicht gerade sympathisch. Wer nicht großzügig sein kann, stößt viele ab; Arme wirken, auch wenn sie es gar nicht sind, oft ungewaschen und unordentlich. Das kann gelegentlich sogar einen mitfühlenden Sozialdemokraten zu fragwürdigen Äußerungen verleiten. Ein Armer ist selten sympathisch, Armut alles andere als „ein stiller Glanz von innen“, wie es in einem Gedicht von Rilke heißt.

Wenn aber Arme sich zur Wehr setzen und ihre Rechte einfordern, ist schnell von „Anspruchsdenken“ und „Anspruchsinflation“ die Rede. Auch selbstbewusste Arme sind selten sympathisch.

3.

Ökonomischer Fortschritt, Wachstum, Weltgeltung, das sind die Götzen, denen wir im neoliberalen Zeitgeist Millionen von Menschen zum Opfer bringen, die angeblich nicht gebraucht werden. Was ist die Lösung? Noch mehr Wachstum? Damit alle Arbeit, auskömmliche Arbeit finden? Schnellerer Verschleiß des Produzierten, damit wieder Platz wird für neue Produkte? Mehr Konsum? Müssen wir Dinge und Leistungen kaufen, die wir nicht brauchen, damit wir die Arbeitslosigkeit und damit die wichtigste Quelle der Armut besiegen? Oder sollten wir vielleicht doch noch einmal etwas gründlicher darüber nachdenken, ob eine gerechtere Verteilung des Erwirtschafteten, eine gerechtere Verteilung der Erwerbsarbeit und damit auch der freien Zeit nicht die bessere Lösung wäre? Auf die Dauer kann es doch nicht als Sachzwang akzeptiert werden, dass die einen mehr arbeiten, als ihnen gut tut, und sich – wie eine Untersuchung der DAK aufgedeckt hat – in wachsender Zahl mit Aufputschmitteln über den stressigen Arbeitsalltag retten, während die anderen von der Erwerbsarbeit ausgesperrt werden.

Besonders schlimm ist die Lage, wenn sich Arbeitslosigkeit und Armut vererben. Wir kennen Sozialhilfeempfänger der zweiten und dritten Generation. Hier vererbt sich mit der prekären ökonomischen Lage oft auch der Mangel an Selbstbewusstsein und Initiative. Oft sind dieselben Menschen, die in der 2. bzw. der 3. Generation arbeitslos und arm sind, auch schon seit mehreren Generationen Nichtwähler. Sie machen von ihren Rechten als Staatsbürger keinen Gebrauch, weil sie sich nicht mehr als Bürger dieses Staates fühlen. Auf die Idee, sich mit anderen zusammenzutun, sich zu organisieren, um für ihre Interessen einzutreten, kommen sie meist nicht. Das führt dazu, dass die Armen bei uns oft keine Stimme haben, dass sie für die Politiker nicht zu den Gruppen gehören, auf deren Interessen sie Rücksicht nehmen müssten. Zumeist haben diese Menschen ohnehin längst das Vertrauen auf die Demokratie verloren. Solange die Armen keine wirksame Lobby haben, wird sich daran nichts ändern.

Für die meisten Menschen hängt die Zustimmung zur Demokratie von Voraussetzungen ab: zum Beispiel, dass im politischen Betrieb unter dem Strich halbwegs gerechte Verhältnisse herauskommen. Wo das Gefühl sich ausbreitet, dass es in unserer Gesellschaft nicht gerecht zugeht, sinkt auch die Zustimmung zur Demokratie signifikant. Die Hälfte der Deutschen, im Osten mehr als im Westen, verhalten sich heute skeptisch bis ablehnend zur Demokratie. Aus Parteien-, Politiker- und Politikverdrossenheit wird immer öfter eine diffuse Ablehnung des Systems der Demokratie. Die Frage ist: Wie lange kann unser politisches System es sich noch leisten, die Lebensinteressen so vieler Menschen zu vernachlässigen, ohne seinen Bestand zu gefährden?

Armut macht krank. Schlechte Ernährung, Verzicht auf die teuren und von der Kasse oft nicht bezahlten Vorsorgeuntersuchungen, sinkender Lebensmut, Überforderung bei der Organisation des Alltags, Einsamkeit, das tagtägliche Gefühl der Erniedrigung, all das trägt dazu bei, arme Menschen krank zu machen. Wenn sie aber erkranken, sind sie erst recht, wenn auch meist in unzureichendem Umfang, Objekte der Betreuung statt selbständig ihr Leben gestaltende Subjekte.

4.

Wachsende Armut führt zum Zerfall der Gesellschaft. Wer die Gesellschaft zusammenhalten will, muss die Kluft zwischen Arm und Reich verkleinern, für mehr Gerechtigkeit sorgen. Wo aber die Gesellschaft auseinander bricht, wo immer mehr Menschen das Gefühl haben, ohne Aussicht auf Besserung ihrer Lage ins Bodenlosen zu versinken, nehmen auch anomische Phänomene zu: erratische Gewalt (auch in den Familien!), Kriminalität, Drogensucht, Verwahrlosung öffentlich Räume…

Armut ist nicht nur ein individuelles Problem, sondern in erster Linie ein kollektives, gesellschaftliches, ein politisches Problem. Die wachsende Armut in Deutschland ist nicht das unvermeidliche Ergebnis dramatischer Verwerfungen auf den globalen Märkten, sie ist vor allem das Ergebnis einer grundfalschen Politik, die die Arbeitseinkommen und die Ruhestandsbezüge der großen Mehrheit
zwei Jahrzehnte lang kontinuierlich kürzte, weil sie glaubte, nur auf diese Weise könnten mehr Arbeitsplätze geschaffen werden. Die ständig steigenden Lohnnebenkosten, hieß es, vertrieben die Arbeit aus dem Land. Dabei sind die Lohnnebenkosten in Deutschland seit dreißig Jahren nicht gestiegen.

Zum Armutsproblem gehört auch die öffentliche Armut. Öffentliche Armut, d.h. die mangelnde Ausstattung der öffentlichen Institutionen mit Mitteln zur Erfüllung ihrer Aufgaben, verstärkt in aller Regel die individuelle Armut. Die neoliberalen Staatsfeinde haben Steuerzahlen zu einem vermeidbarem Übel erklärt, wollen alles durch den Markt und möglichst nichts durch den Staat geregelt sehen. Für die Reichen ist der von dem Neoliberalen Philip Bobbitt propagierte Marktstaat vielleicht von Vorteil, für Normalverdiener und Arme bedeutet er eine Verschärfung ihrer Benachteiligung. Der Satz Nur Reiche können sich einen armen Staat leisten ist ohne Abstriche zu bejahen. Ohne einen funktionierenden und finanziell abgesicherten öffentlichen Sektor, der allen zugängliche öffentliche Güter, z.B. Sicherheit, Bildung, Gesundheit, Kultur, bereitstellt, kann es eine demokratische und zivilisierte Gesellschaft, in der jeder eine faire Chance hat, sein Leben in Würde und Selbständigkeit zu führen, nicht geben.

5.

Armutsbekämpfung geschieht in der Perspektive der prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen. Im Gegensatz zu der gängigen Vorstellung von einem unvermeidbaren Konflikt zwischen Gleichheit und Freiheit bin ich entschieden der Ansicht, dass es Freiheit ohne Gleichheit nicht geben kann, schon lange nicht auf Dauer. Alle Unterdrückungsverhältnisse fußen auf Ungleichheit: der Rasse, des Standes, des Geschlechts, der sozialen Lage etc. Gleichheit im hier gemeinten politischen Sinn heißt nicht Gleichmacherei. Gleichheit heißt, dass alle Menschen in einer demokratischen Gesellschaft sich als Ebenbürtige begegnen können müssen. Gleichheitspolitik muss die Voraussetzungen dafür schaffen, dass alle Menschen in Freiheit am kulturellen, sozialen, politischen Leben der Gesellschaft teilnehmen können.

Es ist wichtig, die Politik der Angleichung der Lebenschancen und der Bekämpfung der Armut in die Perspektive der Freiheit zu stellen. Es geht nicht primär um Verteilungsrelationen, sondern um die Verteilung von Fähigkeiten (Amartya Sen), Fähigkeiten der Teilhabe, für die es allerdings Voraussetzungen gibt, die erfüllt sein müssen. Eine demokratische Politik der Armutsbekämpfung schließt notwendig an das Freiheitsverständnis an, das die Arbeiterbewegung seit je geleitet hat. In dieser Perspektive sollte sie auch jede paternalistisch Erniedrigung jener Menschen vermeiden, die auf Hilfe angewiesen sind. Aus gnädig gewährter Hilfe einen Rechtsanspruch auf Hilfe zur Selbsthilfe zu machen, ist ein emanzipatorisches Gleichheitsprogramm. Einer auf Emanzipation abzielenden Gerechtigkeitspolitik geht es in erster Linie darum, aus Ausgeschlossenen, aus duckmäuserischen oder listig-verschlagenen Almosenempfängern selbstbewusste Bürger im Sinne des Citoyen zu machen.

Werfen wir, um unsere grundsätzliche Position zu klären, einen Blick auf die Entwicklung des Freiheitsbegriffs: Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein war von Freiheit so gut wie immer nur im Plural die Rede. Freiheiten waren im Grunde Privilegien: des Adels, der Zünfte, der reichsfreien Städte, die gegen die Zentralgewalt absolutistischer Staaten verteidigt werden mussten. Erst im 18. Jahrhundert wird Freiheit zum Singular: als Sammelbegriff von Rechten, die im Prinzip für alle Menschen gelten. Hier liegt das große historische Verdienst der Aufklärung und des politischen Liberalismus. Die Arbeiterbewegung knüpft in dieser Hinsicht durchaus an den politischen Liberalismus an, fragt aber darüber hinaus nach den Realbedingungen universeller Freiheit.

Die Pointe der Arbeiterbewegung gegenüber dem politischen Liberalismus besteht darin, dass sie den Blick auf die sozialen und kulturellen Voraussetzungen lenkt, die erfüllt sein müssen, damit alle Menschen von ihren Freiheitsrechten tatsächlich konkreten Gebrauch machen können. Wo Menschen all ihre Zeit und Kraft aufwenden müssen, um ihre bloße Lebensfristung sicherzustellen wie in den Slums von Kalkutta, Rio oder Abidjan, bleibt die Proklamation der Meinungsfreiheit weitgehend folgenlos. Wo Menschen de facto keinen Zugang zu Bildung und Informationen haben und nicht über wirklich freie Zeit verfügen, können sie in aller Regel auch Partizipationsrechte nicht wahrnehmen. Bis heute besteht die Besonderheit des sozialdemokratischen Freiheitsverständnisses darin, dass es nicht nur, wie in der liberalen Tradition, universell gedacht ist, sondern auch die Verpflichtung enthält, die gesellschaftlichen Bedingungen zu schaffen und zu erhalten, unter denen möglichst alle Menschen von ihren Freiheitsrechten konkreten Gebrauch machen können.

Die Grundwerte des demokratischen Sozialismus, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität bilden für uns auch deshalb einen unaufhebbaren Zusammenhang, weil nur so das Ziel der gleichen Freiheit für alle erreichbar ist. Der Gleichheitsgedanke in dieser freiheitlichen Tradition hatte nie etwas mit öder Gleichmacherei zu tun. Ziel war nicht ein Gemeinwesen gleicher Individuen, sondern ein Gemeinwesen, in dem alle Menschen das gleiche Recht und die reale Möglichkeit haben sollten, ihre je unverwechselbare Individualität zu entfalten.

6.

Armutsbekämpfung ist Gesellschaftspolitik in dem ganz konkreten Sinn, dass sie die Voraussetzungen dafür schafft und erhält, dass ein Zusammenleben in einem zivilen und demokratischen Gemeinwesen auf Dauer überhaupt möglich ist. Weil die Armutsursachen und die Armutsformen heute vielfältig sind, gehört dazu ein ganzes Bündel unterschiedlicher Strategien und Instrumente. Entscheidend ist aber, dass angesichts der Vielfalt der Einzelprobleme die wichtigsten generellen Voraussetzungen für gesellschaftliche Integration und die Wiederherstellung von halbwegs plausibler Gerechtigkeit nicht übersehen werden. Zweifellos gehören hierzu allgemeine und verpflichtende Mindestlöhne, damit der Skandal endlich beendet wird, dass Menschen von ihrer Arbeit nicht leben können. Zentral ist eine aktive Beschäftigungspolitik, die sich vor allem darauf konzentriert, zukunftssichere, d.h. auch ökologisch verantwortbare, Arbeitsplätze in den Bereichen schaffen, in denen auf Dauer menschliche Arbeit nicht durch Maschinen ersetzt werden kann. In diesem Zusammenhang ist die Rehabilitierung des in den letzten Jahren von den Marktradikalen erfolgreich diffamierten und demontierten öffentlichen Sektors von größter Wichtigkeit. Im Marktstaat, wie ihn die Neoliberalen empfehlen, wird alles zur Ware: Kultur, Bildung, Absicherung gegen Krankheit und Arbeitslosigkeit, Altersvorsorge, Schutz vor Verbrechen und Gewalt. Wenn aber alles zur Ware wird, läuft dies darauf hinaus, dass die Spaltung der Gesellschaft vertieft wird, weil einige sich Kultur, Bildung, Gesundheitsleistungen und Sicherheit kaufen können und andere nicht. Darum muss jede verantwortliche Politik entschlossen gegen die Privatisierungswut der Neoliberalen antreten, die Rehabilitierung des öffentlichen Sektors betreiben und am Primat der Politik festhalten.

Faire Lebenschancen für alle, das muss auch heißen, die Lebensinteressen künftiger Generationen in unseren heutigen Entscheidungen zu berücksichtigen. Wir dürfen nicht darin fortfahren, unsere Probleme auf Kosten unserer Kinder und Enkel lösen zu wollen. Nachhaltigkeit ist nicht nur eine wichtige Richtschnur ökologischen Handelns, sondern auch eine notwendige Dimension jeder Gerechtigkeitspolitik.
Die wesentlichen Ursachen für Armut und Benachteiligung zu bekämpfen, ist allemal nachhaltiger als bloße Symptombehandlung. Auch darum ist es so wichtig, dass unser Bildungssystem allen jungen Menschen die Chance zum Erwerb der notwendigen Berufs- und Lebensqualifikationen bietet, dass wir niemand verloren geben und die allzu frühe Selektion endlich durch die Einführung einer demokratischen Gemeinschaftsschule abschaffen.

Aber nicht nur in zeitlicher, sondern auch in räumlicher Hinsicht ist die Perspektive der Gerechtigkeitspolitik zu erweitern. In unserer globalisierten Welt sind die Armen, die Arbeitslosen, die Elenden und Unterdrückten in einstmals fernen Ländern auch unser Problem. Darum braucht eine wirksame soziale Politik eine europäische und darüber hinaus eine globale Dimension. Europa wird nur eine Zukunft haben, wenn es mehr ist als ein Markt, wenn es zu einem sozialen Europa umgestaltet wird. Und dieses Europa muss mit seinem ökonomischen und politischen Gewicht in und mit den Vereinten Nationen dafür sorgen, dass Armutsbekämpfung endlich als eine Menschheitsaufgabe begriffen wird, bei der die Verantwortung vor allem bei den reichen Ländern liegt.

Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit waren die objektiven, die wissenschaftlich-technischen Voraussetzungen für die Befreiung der Arbeit, für die Angleichung der Lebenschancen, für die Überwindung von Hunger und Elend, für die nachhaltige Organisation des Stoffwechsels von Mensch und Natur so groß wie heute. Zugleich aber wächst die Gefahr, dass ein außer Rand und Band geratener globaler Finanzmarkt, eine abermals gesteigerte Ausbeutung von Mensch und Natur, dass Hungerkatastrophen und mörderische Kriege um schwindende Ressourcen die Welt in den Abgrund führen. Die alte von Hegel auf Marx überkommene geschichtsmetaphysische Überzeugung, dass der Gang der Geschichte selbst, seiner inneren Logik folgend, auf die große Befreiung programmiert sei, kann Hoffnung nicht mehr nähren. Umso wichtiger ist es, dass wir selbst, die Bürger dieses Landes, die Bürger dieser Welt, die Dinge in die Hand nehmen.

Die Chancen, dass wir einige Schritte vorankommen auf dem Weg zu einer Neuordnung der Welt im Interesse aller Menschen, sind seit dem Ende der Bush-Ära und dem Regierungsantritt von Barack Obama gewachsen. Die Neoliberalen, die mit ihrer Verhimmelung des Marktes und der Abwertung und Verhinderung demokratischer Regulierung die größte Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ausgelöst haben, haben ihre fatale Verführungskraft weitgehend eingebüßt. Sorgen wir bei uns, vor der eigenen Haustür, dafür, dass Leute wie Westerwelle und Merz, die stets jede staatliche Intervention zum Schutz Benachteiligter als marktwidrig verteufelten, dass die, die noch vor kurzem auf dem Leipziger Parteitag der Union die Freiheit der Märkte bejubelten und die Folgen für Millionen Menschen überall auf der Welt als Kollateralschäden abtaten, jetzt nicht auch noch zu Krisengewinnlern werden.

Johanno Strasser ist Politologe, Publizist und Schriftsteller und seit 2002 Präsident des P.E.N.-Zentrums Deutschland, eine Vereinigung von deutsch schreibenden oder in Deutschland lebenden Schriftstellern.

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