Prof. Dr. Boom … Journalismus von seiner bizarrsten Seite

Jens Berger
Ein Artikel von:

Wussten Sie eigentlich schon, dass Deutschland momentan einen „phänomenalen Boom“ durchläuft? Dies ist zumindest die Geschichte, die uns SPIEGEL-Online-Autor Henrik Müller auftischt. Mit einem Boom ist bekanntlich nicht zu spaßen … erst recht dann nicht, wenn er phänomenal ist. Daher ist es auch Müllers größte Sorge, dass der aktuelle Boom bereits jetzt das Risiko für eine heftige kommende Krise in sich trägt; zumindest dann, wenn die Politik nicht auf die Bremse tritt. Sie haben richtig gelesen: Müller empfiehlt der Regierung allen Ernstes, jetzt eine Politik einzuleiten, mit der vor allem die Binnenkonjunktur gebremst wird – z.B. „höhere Steuern für Normalverdiener“. Das klingt nicht nur bizarr, sondern ist es auch. Noch bizarrer wird das Ganze, wenn man sich vor Augen hält, dass Müller nicht der neue SPON-Volontär ist, sondern im Hauptberuf als Professor Wirtschaftsjournalismus an der TU Dortmund lehrt. Was mag wohl dabei herauskommen, wenn man die schlimmsten Wirtschaftsjournalisten auch noch den Nachwuchs ausbilden lässt? Von Jens Berger.

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Dem Physiker Hugh Everett zufolge gibt es unzählige Parallelwelten, in denen jede nur denkbare Form der Geschichte real existent ist. In mindestens einer dieser Welten durchlebt Deutschland demnach momentan auch einen Wirtschaftsboom; die Unternehmen können sich vor Aufträgen kaum retten und investieren, was das Zeug hält, es herrscht Vollbeschäftigung und da jede Hand benötigt wird, ist der Begriff „Niedriglohn“ auch eine Reminiszenz an düstere, längst vergessene Tage. In dieser Parallelwelt scheint Henrik Müller zu Hause zu sein. Anders sind seine abenteuerlichen Analysen kaum nachzuvollziehen. So beschreibt er in seinem jüngsten Bericht dann auch ein Land, das nur entfernt an das real existierende Deutschland erinnert.

Die Bundesrepublik erlebt derzeit einen phänomenalen Boom. Die Beschäftigung, die Staatseinnahmen, der Export, die Stimmung der Unternehmen […] – alles auf Rekordhöhe. Die Immobilienpreise steigen rasant […] Der Bausektor expandiert.
Konjunkturforscher sind sich weitgehend einig: Deutschlands Produktionskapazitäten arbeiten bereits seit einiger Zeit jenseits normaler Auslastungsgrade. […] alle sagen vorher, dass die deutschen Wirtschaft auf Sicht überhitzt bleiben wird.

Das sind erstaunliche Aussagen. Einige Punkte (z.B. die Stimmung der Unternehmen) sind fragwürdige Indikatoren noch fragwürdigerer Wirtschaftsforschungsinstitute, die kaum überprüfbar sind. Andere Indikatoren, wie der Immobilienpreis, taugen nicht, um Aussagen über das Vorhandensein eines Wirtschaftsbooms zu machen. Weitere Indikatoren sind vor allem eine Frage der Perspektive oder sagen sogar das Gegenteil vom Müllers Boomstory aus.

  1. Der Arbeitsmarkt

    Mit aktuell 3,5 Millionen Erwerbslosen sind wir weit von einer Vollbeschäftigung entfernt. Müllers „Rekordhöhe“ bezieht sich auf die Zahl der gesamten Erwerbstätigen. Das ist zwar korrekt, aussagekräftiger ist jedoch eigentlich die Zahl der Vollzeitstellen und die liegt laut Mikrozensus immer noch rund zwei Millionen unter dem ersten Wert des wiedervereinigten Deutschlands aus dem Jahre 1991. Die Zahl der Beschäftigten in „atypischen“ Arbeitsverhältnissen hat indes im gleichen Zeitraum um drei Millionen zugenommen. Man kann diese Zahlen verschieden interpretieren. Aber von einem Boom kann man hier ganz sicher nicht sprechen. Noch nicht einmal die offizielle Arbeitslosenquote gibt dies her – sie liegt mit 5,6% gerade einmal 0,4 Prozentpunkte unter dem Vorjahreswert. Das ist freilich kein schlechter Wert, der jedoch auch unter dem Gesichtspunkt betrachtet werden muss, dass Deutschland nicht nur Güter und Dienstleistungen, sondern durch seine Agenda-Politik auch massiv Arbeitslosigkeit exportiert. Die vergleichsweise ordentlichen Werte hierzulande stehen demnach direkt im Zusammenhang mit den schlechten Werten in unseren Nachbarländern.

  2. Die Wirtschaftsentwicklung

    Wenn man von einem „Wirtschaftsboom“ spricht, muss natürlich zunächst einmal die Wirtschaft boomen. Das ist eigentlich selbstverständlich. Doch genau dies ist gar nicht der Fall.

    Die aktuelle Wirtschaftsentwicklung ist auf niedrigem, aber stabilem Niveau. Wie man angesichts der Zahlen von einem Boom sprechen kann, ist jedoch ein Rätsel. Aktuell wächst die Wirtschaft preis-, saison- und kalenderbereinigt um 0,6 Prozent pro Quartal. Schaut man auf die lange Reihe des Statistischen Bundesamts und vergleicht sie mit den Zahlen seit 1970, kommt man zum Ergebnis, dass dieser Wert das exakte Mittelmaß ist. In 92 der 185 gelisteten Quartale ist die Wirtschaft gleichstark oder stärker gewachsen, in weiteren 92 Quartalen war das Wirtschaftswachstum schlechter. Die aktuellen Werte sind demnach kein Grund zur Panik, aber ganz sicher auch kein Grund, um von einem Boom zu sprechen. Ansonsten müssten wir feststellen, dass sich Deutschland seit 1949 im Dauerboom befindet, was ebenso absurd wäre.

  3. Die Investitionen

    Glaubt man Müller, stoßen momentan „überoptimistische Erwartungen die Investitionen an“, man sei gar „blind für die Risiken“. Auch diese gewagte Aussage lässt sich nicht durch statistische Daten untermauern.

    Der Blick auf die Bruttoanlageinvestitionen zeigt vielmehr eine erschreckende Normalität. Die Werte pendeln sich bei soliden zwei bis vier Prozent ein, was vor allem an den Investitionen in Immobilien hängt, die in diese Statistik eingehen und im Schnitt einen bis zwei Punkte über den anderen Investitionen liegen. Dies nun aufzuteilen, wäre ein akademisches „Vergnügen“, das keine interessanten Erkenntnisse bringen dürfte. Dass die deutsche Investitionsquote im internationalen Vergleich eher dürftig ist, ist hinlänglich bekannt. Einer der Gründe dafür ist das, was der Ökonom Richard Koo als „Bilanzrezession“ bezeichnet hat: Die Haushalte und die Regierungen „müssen“ ihre Schulden abbauen und Ausgaben kürzen. Die Wirtschaft reagiert darauf mit rückläufigen Investitionen und wartet erst einmal ab, wie sich die Nachfrage entwickelt. Vor allem Deutschland verschärft die Situation mit seiner zu geringen Lohnquote noch einmal. Womit wir schon beim nächsten Punkt wären.

  4. Der Konsum

    Der Konsum hat es Henrik Müller besonders angetan. Um die kommenden Konjunkturdellen abzufedern, will er gar die Nachfrage dämpfen und schlägt allen Ernstes vor, die Konsumausgaben dadurch zu dämpfen, dass man „die Steuern für Normalverdiener“ erhöht. Bevor man ernsthaft auf diese Forderung eingeht, sollte man erst einmal überprüfen, ob der Konsum denn tatsächlich „überhitzt“ ist.

    Wie kaum anders zu erwarten, ist dies nicht der Fall. Zwar steigen die Konsumausgaben der privaten Haushalte von Jahr zu Jahr – allerdings in einem bescheidenen Maßstab, der nur leicht über der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung liegt. Dies ist kein Grund, nun hysterisch vor einer „Überhitzung“ zu warnen, aber auch kein Grund, sich zufrieden zurückzulehnen. Hinter den „soliden“ Zahlen steht nämlich vor allem eine deutliche Preissteigerung in den Bereichen „Energie“ und „Wohnen“. Vor allem die punktuell stark steigenden Immobilienpreise haben auch zu höheren Mieten geführt. Dies ist gesamtwirtschaftlich jedoch „nur“ eine Verteilung von unten nach oben. Wenn Müller dieses partielle Wachstum durch eine stärkere Besteuerung der Normalverdiener „ausbremsen“ will, ist dies gleich in vielfacher Weise kontraproduktiv. Die Betroffenen werden natürlich nicht weniger Geld für ihre Miete ausgeben, sondern an den variablen Ausgaben sparen, was die ohnehin auf Sparflamme laufende Binnenkonjunktur abwürgen könnte.

  5. Die Produktion

    Last but not least ist Henrik Müller davon überzeugt, dass die Produktionskapazitäten aufgrund des „Booms“ ausgeschöpft sind und dringend erweitert werden müssten. Ein Blick auf die Zahlen schafft – wie so oft – Klarheit.

    Von einem Boom ist auch auf dem Produktionssektor trotz der starken Exportzahlen überhaupt nichts zu registrieren. Es gibt keine flächendeckenden Engpässe bei den Produktionskapazitäten. Daher ist auch Müllers ohnehin falsche Medizin zur Behandlung dieses nicht vorhandenen Problems unnötig. Für Müller wird die Kapazität nämlich hauptsächlich durch den Mangel an fachkundigem Personal limitiert – der berühmt-berüchtigte Fachkräftemangel. Den gibt es aber – wie wir heute ganz klar wissen – in dieser Form überhaupt nicht. Es gibt regionale Engpässe, die vor allem etwas mit zu niedrigen Löhnen zu tun haben. Und es gibt sektorale Engpässe in Berufen, in denen die Wirtschaft nicht dafür gesorgt hat, dass sie genügend Nachwuchs hat. All dies sind jedoch Probleme, die die Wirtschaft ohne große Probleme mittelfristig lösen kann – bessere Löhne, bessere Aus- und Fortbildung und schon ist der Engpass beseitigt. Müllers Rezepte sind vor allem in diesem Kontext gerade zu lächerlich.

    So fordert er beispielsweise „Lohnsubventionen“, um Langzeitarbeitslose in den Beruf zu bringen. Aber was hat dies mit dem Fachkräftemangel zu tun? Wenn ein Betrieb einen Fachingenieur sucht, der beispielsweise praktisches und theoretisches Wissen auf dem Gebiet der Reinigung von Diesel-Abgasen hat, ist er höchstwahrscheinlich kein Langzeitarbeitsloser. Auch klassische „Mangelberufe“ wie examinierte Krankenpfleger, Ärzte und MINT-Akademiker sind eher selten arbeitslos und fallen auch nicht wirklich in den Lohnbereich, der subventioniert werden könnte. Arbeitskräfte, die in der Tat ein so geringes Einkommen beziehen, dass eine „Lohnsubvention“ hier positive Beschäftigungseffekte hätte, zählen nicht zu den Mangelberufen und haben nichts mit Müllers „Produktionskapazitäten“ zu tun. Es geht hier – das muss man klar und deutlich sagen – um etwas ganz anderes: Müller will den Mindestlohn (neben dem Boom und der Inflation eines seiner Lieblingsthemen) durch „Lohnsubventionen“ aushebeln, uns also eine klassische neoliberale Reform unter falschen Vorzeichen schmackhaft machen. Wen wundert es da, wenn er mit derselben Begründung auch noch das Renteneintrittsalter nach hinten verschieben will.

Ist das noch Journalismus?

Henrik Müllers Artikel ist ein echtes Stück aus dem Skurrilitätenkabinett. Er begründet eine steile These mit faktisch falschen Aussagen, stellt dafür dann eine aberwitzige Diagnose aus und verordnet eine Therapie, die selbst dann kontraproduktiv wäre, wenn seine Diagnose korrekt wäre. Dabei liegt Müller mit seiner Einschätzung so meilenweit daneben, dass einem wirklich schwerfällt, an etwas anderes wie eine Parallelwelt zu glauben, wenn man ihm nicht entweder Unwissen oder aber Vorsatz unterstellen will.

Wäre Henrik Müller ein unbedarfter Volontär, den man trotzt erwiesener Ahnungslosigkeit auf dem breiten Feld des Wirtschaftsjournalismus an ein solches Thema gelassen hätte, könnte man die ganze Groteske ja noch verstehen. Aber Henrik Müller ist neben seinem Job als Wirtschaftskolumnist bei SPIEGEL Online auch noch Professor für Wirtschaftsjournalismus. Das klingt eher so, als sei man mitten in einem Monty-Python-Sketch. Zynisch könnte man sogar sagen, dass Müller eigentlich genau der richtige Lehrer ist, verkörpert er die Fehler der Branche doch hervorragend in seiner Person.

Ginge es nach Müllers früherem Geschwätz, hätten wir beispielsweise heute keinen Boom, sondern eine „Inflation schlimmen Ausmaßes“. Das prognostizierte er nämlich in seinem 2009 erschienenen Buch „Sprengsatz Inflation – Können wir dem Staat noch vertrauen?“. So hat man damals geschrieben und auch der SPIEGEL war stets vorne mit dabei. 2010 befürchtete Müller gar eine „Lohn-Preis-Spirale“, die in Deutschland die Inflation anheizt. Schon damals empfahl er die gleiche „Medizin“ wie heute … freilich für eine komplett andere Diagnose. Müller ähnelt hier einem hausierenden Scharlatan, der seinen Patienten für jedes Krankheitsbild die gleiche „Wundertinktur“ verkauft. Auch in diesem Punkt ist Professor Müller durchaus repräsentativ für seine Zunft.

Die Sache mit dem „Boom“ scheint übrigens ein echtes Steckenpferd von ihm zu sein. Schon Anfang 2014 machte Müller einen „Boom“ aus – damals war es allerdings noch ein „heimlicher“ Boom, da die statistischen Daten sehr zu Müllers Unbill nicht zu seinem Boom passten. Daran hat sich freilich nichts geändert. Dennoch griff Müller auch Ende 2015 das Thema noch mal auf und diagnostizierte nun bereits eine „Überhitzung“ der Konjunktur.

Die Müllersche Parallelwelt folgt offenbar zumindest einem durchgängigen Skript. Nun befinden wir uns demnach auf dem Höhepunkt des sagenhaften Booms und die Rezession steht vor der Tür. Warten wir also gespannt ab, mit welchen Crash-, Rezessions- und Depressionsgeschichten Prof. Dr. Boom uns künftig erfreuen wird. Es bleibt spannend, auch wenn die Grenzen zwischen Fiktion und Realität in dieser speziellen Form des Borderline-Journalismus nicht mehr erkennbar sind.

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