Atlas Network, Teil 2: Das neoliberale Spinnennetz in Europa

Frederico Füllgraf
Ein Artikel von Frederico Füllgraf

Als Mitte der 1970er Jahre in nahezu allen westdeutschen Universitätsstädten die Studenten auf der Straße gegen die Verbrechen der chilenischen Militärjunta unter Augusto Pinochet demonstrierten, beobachtete ein wenige Jahre zuvor emeritierter Senior-Professor des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg das Geschehen im fernen Andenland mit verstohlenem Interesse, ja, mit einer gewissen Genugtuung. Im Gegensatz zur Empörung von Millionen Menschen rund um den Globus über Pinochets Folter- und Mord-Regime freute sich Friedrich August von Hayek über die Nachrichten, die ihn an seinem neuen Lehrstuhl in Salzburg über die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der chilenischen Diktatur erreichten. Von Frederico Füllgraf.

Hier finden Sie Teil 1 der Reihe: Atlas Network, die Internationale des neoliberalen hate speech und des Putsch-Kapitalismus

Als Erstes berichteten vertraute Gleichgesinnte von der drastischen Kürzung der Haushaltsausgaben, die für einen „Umbau“ des Staatsapparates und die strikte Kontrolle der Haushaltsführung notwendig gewesen seien. Dem folgten Meldungen über eine angebliche „Modernisierung“ Chiles mit einer „Steuerreform“ – sprich, der Steuersenkung für Investoren – der Privatisierung sogenannter „strategischer”, staatlicher Unternehmen – vor allem in den Sektoren Bergbau, Energie, Telekommunikation und Infrastruktur – einer drastischen Senkung der Einfuhrzölle, gepaart mit dem Werben für den „freien Zufluss von Investitionen und Devisen“, und schließlich einer „Reform“ des sozialen Sicherheitssystems, mit der Privatisierung der Rentenversicherung.

Als imaginäres Szenario darf vermutet werden, dass Hayek sich in seinem Professorenstuhl behaglich zurücklehnte und mit verhohlenem Glücksgefühl seufzte: „Endlich!“.

Hayeks Lob für Pinochet

Dieses erste Experimentierfeld des real existierenden Neoliberalismus musste er sich aus der Nähe ansehen! Im November 1977, landete Hayek zum ersten Mal in Chile. General Pinochet widmete dem illustren Professor einen salbungsvollen Empfang und eine halbstündige Unterredung. Festlich wurde er von den sogenannten „Chicago Boys“, des Diktators Wirtschaftsplaner, empfangen und mit lautstarken Ehrungen ausgezeichnet. Im Rückflug nach Europa spekulierte der gebürtige Österreicher über den siegreichen Durchbruch des Liberalismus.

Im Jahr darauf schrieb er für die Londoner „Times“ und die deutschsprachige Zeitschrift „Politische Studien“ Berichte und Leserbriefe über diesen Besuch, beschwerte sich über die angeblich ungerechte Behandlung „Chiles“ durch westliche Medien und bemerkte zynisch:

“Ich habe keine einzige Person, auch im viel verleumdeten Chile, gefunden, die nicht damit einverstanden gewesen wäre, dass die persönliche Freiheit bei Pinochet viel größer ist als unter Allende.” („Nobelpreisträger Friedrich August Hayek: Antidemokrat und Pinochet-Unterstützer“ – Markus Marterbauer, Blog Arbeit-Wirtschaft.at, 24.10.2014).

Dass der sogenannte „Plan Laboral“ von 1978 – Pinochets Arbeitsgesetz mit der Einführung der Teilzeitarbeit und der Liquidierung aller arbeitsrechtlichen Schutzbestimmungen – nur mit brutaler Gewalt (Folter, Mord, Verschleppung) gegen die damit ausgeschalteten Gewerkschaften durchgesetzt werden konnte, nahm Hayek als unumgänglichen „Kollateralschaden“ wahr, stammte doch von ihm der frühere, verächtliche Satz, „…und der vorherrschende Glaube an ´soziale Gerechtigkeit´ ist gegenwärtig wahrscheinlich die schwerste Bedrohung der meisten anderen Werte einer freien Zivilisation.” (Hayek in: „Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit“. Landsberg am Lech 1981, S. 98).

Neoliberale Putschisten

Der zweite Besuch Hayeks in Chile fand im April 1981 statt, diesmal als Gast des Centro de Estudios Públicos (CEP), als vielbejubelter Redner und von den Medien hochgehaltener „Vordenker“ des sogenannten „chilenischen Modells“. Das erst 1980 gegründete CEP war ein think tank einschlägiger, chilenischer Nationalökonomen der Katholischen Universität Chiles, die seit 1955 mit dem von Milton Friedman geleiteten Department of Economics der Universität Chicago enge Partnerschaft unterhielt. Von Friedman ausgebildet, wurden Dutzende sogenannte „Chicago Boys“ mit dem Auftrag nach Chile zurückgesandt, sich akademisch und medial für die Sache des sogenannten „freien Marktes“ stark zu machen.

Um Illusionen über die Friedfertigkeit der „Chicago Boys“ vorzubeugen, sei daran erinnert, dass ein militanter Kreis der aus den USA neu Eingetroffenen auf Anregung des damaligen Eigentümers der Tageszeitung El Mercurio, Agustín Edwards, Jahre vor der Wahl Allendes sich dem von Admiral José Toribio Merino geführten Geheimbund “Cofradía Náutica del Pacífico Austral” („Nautische Bruderschaft des Südpazifiks“ – sic!) bei Valparaíso anschloss und einen wirtschaftspolitischen Maßnahmenkatalog, genannt El Ladrillo („Der Backstein“), gegen den als sozialistisch empfundenen Kurs von Allendes christdemokratischen Vorgänger Eduardo Frei ausarbeitete. Der Geheimbund entwickelte sich zum Kern der Verschwörung gegen Allende, die am 11. September 1973 in Valparaíso unter Führung Admiral Merinos begann und der sich Augusto Pinochet erst nachträglich anschloss.

Die Doktrin der „Übergangs-Diktatur“

Während dieses Aufenthaltes wurde Hayek deutlicher: “Ich persönlich würde einen liberalen Diktator gegenüber einer demokratischen Regierung, der es an Liberalismus mangelt, bevorzugen“, erklärte er am 12. April 1981 in Santiago de Chile („Extracts from an Interview with Friedrich von Hayek/ El Mercurio, Chile, 1981“ – Punto de Vista Económico, 21.12.2016).

„Die sich hier abzeichnende autoritäre Tendenz, der man nicht nur an einer Stelle im politischen Denken des Neoliberalismus begegnet, sollte auch beim ersten Versuch der Umsetzung neoliberaler Reformen genau dreißig Jahre nach der Veröffentlichung von (Anm.: Hayeks Buch) Der Weg zur Knechtschaft eine wichtige Rolle spielen: Der Schauplatz war die chilenische Militärdiktatur unter Augusto Pinochet“, schrieb Thomas Biebricher am 25. September 2014 in Die Zeit.

Der totalitäre Leitgedanke von einer „Übergangs-Diktatur“ war jedoch nicht neu. In einer längst vergessenen BBC-Sendung von Ende 1960 hatte Hayek bereits laut darüber nachgedacht, dass ein diktatorisches Regime wohl in der Lage wäre, den „Übergang zu einer stabilen, begrenzten Demokratie zu erleichtern“ („Can a Dictator Turn a Constitution into a Can-opener? – F.A. Hayek and the Alchemy of Transitional Dictatorship in Chile“ – Andrew Farrant & Edward McPhail, 15.07.2014).

Der europäische Kampfverband der Mont Pèlerin Society

Genau 40 Jahre vor seinem ersten Chile-Besuch hatte Hayek den Plan gefasst, eine transatlantische Gesellschaft gleichgesinnter Ökonomen zu gründen. Ihr Ziel sollte die Systematisierung und weltweite Verbreitung einer (neo)liberalen Doktrin der Vorherrschaft des Marktes und des minimalen Staates sein. So entstand 1947, im gleichnamigen schweizerischen Alpendorf, die Mont Pèlerin Society (MPS), deren Mitbegründer – Frank Knight, Karl Popper, Hayeks Lehrer Ludwig von Mises, George Stigler und Milton Friedman – zusammen mit Hayek am Beispiel Chiles den triumphalen Sieg des Neoliberalismus feierten – und sei es auf Kosten der Demokratie.

Dass die Mont Pèlerin Society 70 Jahre nach ihrer Gründung nicht in Chile, sondern im Herzen Europas ein metastasenartiges Spinnennetz hundertfacher think thanks mit seriöser und respektierlicher Fassade – darunter das mit ihr liierte Atlas Network – ausgebrütet hat, das Nationalregierungen und die Europäische Union mit kämpferischen Lobbys umstellt und bewacht, entzieht sich wohl der Wahrnehmung der meisten deutschen und europäischen Bürger. Die Ausbreitung des think-tank-Geflechts im Gemisch mit Universitäten und Konzernen verschlägt dem Beobachter die Sprache (Mont Pelerin Society – Lobbypedia) und gibt Anlass zur Frage, wann und mit welchen Mitteln das demokratische Europa zum Handeln gegen die doktrinäre Hydra bereit ist.

„Wenn Europas Linke überleben will, muss sie endlich aufhören, mit der neoliberalen Doktrin zu kuscheln”, hatte Wolfgang Münchau, Der-Spiegel-Kolumnist und Mitherausgeber der Financial Times bereits vor zwei Jahren gewarnt („Warum linke Parteien in Europa scheitern” – Spiegel Online, 07.09.2015).

„Der kardinale politische Fehler der Sozialdemokraten und anderer linker Parteien in Europa ist die Akzeptanz einer neoliberalen Wirtschaftsdoktrin. Sie führte zu Machtverschiebungen in der Wirtschaft zuungunsten von Gewerkschaften und zugunsten von Banken”, mahnte Münchau und skizzierte die politische Tragödie: „Sozialdemokraten haben diese Politik nicht nur schweigend toleriert, sondern in unterschiedlichen Großen Koalitionen daran mitgewirkt… Das Grundproblem aller Sozialdemokraten ist die tiefe Verankerung der neoliberalen Doktrin in der europäischen Politik und in den europäischen Verträgen – im Maastrichter Vertrag, im Stabilitätspakt und seinen späteren Varianten und zuletzt im Fiskalpakt. Diese von Konservativen verfassten Regeln reduzieren die politischen Spielräume. Und damit sind Sozialdemokraten aus Sicht der Wähler von Christdemokraten nicht mehr zu unterscheiden. Für die Linken gibt es somit nur einen Weg wieder zurück an die Macht. Und dieser Weg führt über einen Widerstand gegen diese Regeln”, urteilte Münchau.

Die gesellschaftliche Umstellung durch neoliberale Kampfverbände vollzieht sich nicht nur mit Duldung der Sozialdemokraten, sondern im weiteren Sinne vor den Augen der ahnungslosen demokratischen Öffentlichkeit.

Atlas Network, dessen Vorstandsvorsitzender Alejandro Chafuen zu den Ehrenmitgliedern von Mont Pèlerin gehört, ist im deutschen Sprachraum mit zahllosen Instituten, vor allem think tanks, vernetzt, darunter die Friedrich A. von Hayek Gesellschaft, das Friedrich A. von Hayek Institut, die Friedrich-Naumann-Stiftung der FDP, ferner mit Prometheus – Das Freiheitsinstitut, dem Walter-Eucken-Institut und der Stiftung Marktwirtschaft.

Klimaleugnung und Zerstörung des öffentlichen Gesundheitssystems

Eine zentrale Rolle im europäischen Kontext spielt das Stockholm Network, das 1997 von der Journalistin und Geschäftsführerin der Social Market Foudation, Ellen Disney, in Schweden gegründet wurde. Mit einer kleinen Gruppe gleichgesinnter think tanks in London und Stockholm wuchs der harte Kern zum Ungeheuer mit 130 Organisationen (Stand 2016) im europäischen Maßstab an. Zu den deutschen Mitgliedern zählen u.a. das Centrum für Europäische Politik (Freiburg im Breisgau), das Committee For A Constructive Tomorrow (Jena), das Council on Public Policy e.V. (Bayreuth), die Friedrich A. von Hayek Gesellschaft (Berlin), die Friedrich A. von Hayek-Stiftung (Freiburg im Breisgau), das Hamburgische WeltWirtschaftsInstitut (HWWI), die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM, Berlin), das Innovation and Valuation in Health Care (Eschborn), die Stiftung Marktwirtschaft (Berlin) und nochmal das Walter-Eucken-Institut (Freiburg im Breisgau).

In Berlin und Brüssel sollten die demokratischen Parlamentsfraktionen und die außerparlamentarischen, sozialen Bewegungen achtgeben. Auf seiner europaweiten Agenda steuert das Stockholmer Netzwerk derzeit drei Kampfprogramme: die Aushöhlung der Gesundheits- und Wohlfahrtsprogramme mit dem Ziel ihrer schrittweisen Privatisierung, ferner die aus den USA übernommene und im TTIP vorgesehene Judizialisierung (die Verlagerung der Konfliktbereinigung aus anderen gesellschaftlichen Systemen ins Rechtssystem) von geistigem Eigentum durch rechtliche Verfolgung sogenannter „Techno-Piraterie“ und ein sogenanntes Energie- und Umweltprogramm mit einer Medienoffensive zur systematischen Leugnung des Klimawandels, die Tür und Tor für den weiteren Ausbau fossiler Brennstoffe offenhalten und die weltweite Abschaffung von Umweltauflagen und -kosten für die extraktive Wirtschaft und die industrielle Weiterverarbeitung vorantreiben soll.

Der Leser fragt: Und wer sind die Spender?

Als FBI-Direktor und Deep-Throat-Figur William Mark Felt von den Reportern Woodward und Bernstein nach den Drahtziehern der Watergate-Affäre befragt wurde, antwortete er sibyllinisch, „follow the money“.

Hauptspender des think-tank-Geflechts sind Klimawandel-Leugner-Multis wie der Pharmagigant Pfizer und Exxon-Mobile, die das Stockholm Network über die US-amerikanische Heritage Foundation finanzieren. Auf dieser Achse sickern Millionen US-Dollar jährlich in die Fonds europäischer Kampf-tanks. Doch gehören Shell, British American Tobacco (BAT), eine Schar erstrangiger, deutscher Konzerne – darunter sogar die staatliche Deutsche Bundespost – zu den großzügigen und wirkungsinteressierten Geldgebern, deren tatsächlicher Finanzierungsumfang allerdings jedweder Transparenz widersteht und einen willkommenen Anlass für eine flächendeckende, rechtliche Untersuchung im europäischen Maßstab dringend erforderlich machen.