Eindrücke vom Wahlabend und Bemerkenswertes am Wahlergebnis und seiner Interpretation

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Es gab ein paar Überraschungen bei dieser Bundestagswahl 2017. Das Bemerkenswerte ist der deutliche Rechtsruck und die erkennbare Formierung der Opposition. Schulz als das Bollwerk der Demokratie! Hier also zunächst der letzte Stand der Wahlergebnisse und nacheinander ein paar Eindrücke. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Hier ist das vorläufige amtliche Endergebnis:

Hier die Stimmenanteile mit Gewinnen und Verlusten:
(Quelle: Bundeswahlleiter wörtlich)

„Bei einer Wahlbeteiligung von 76,2 Prozent (2013: 71,5 Prozent) haben die

CDU 26,8 % (2013: 34,1 %)
SPD 20,5 % (2013: 25,7 %)
AfD 12,6 % (2013: 4,7 %)
FDP 10,7 % (2013: 4,8 %)
DIE LINKE 9,2 % (2013: 8,6 %)
GRÜNE 8,9 % (2013: 8,4 %)
CSU 6,2 % (2013: 7,4 %)
Sonstige 5,0 % (2013: 6,2 %)

aller gültigen Zweitstimmen erhalten. …“

Verteilung der Sitze:

„Der Bundestag besteht gemäß § 1 Absatz 1 Bundeswahlgesetz vorbehaltlich der sich aus dem Berechnungsverfahren nach § 6 Bundeswahlgesetz ergebenden Abweichungen aus 598 Abgeordneten. Der neu gewählte Bundestag wird aus 709 Abgeordneten bestehen (2013: 631 Abgeordnete), und damit um 111 Sitze erhöht.

Im 19. Deutschen Bundestag werden nach dem vorläufigen amtlichen Wahlergebnis die folgenden Parteien mit den nachstehenden Mandatszahlen (einschließlich der erhöhten Sitzzahl) vertreten sein:

CDU 200 Sitze (2013: 255), darunter 185 Wahlkreissitze (2013: 191)
SPD 153 Sitze (2013: 193), darunter 59 Wahlkreissitze (2013: 58)
AfD 94 Sitze (2013: – ), darunter 3 Wahlkreissitze (2013: – )
FDP 80 Sitze (2013:  – ), darunter keinen Wahlkreissitz (2013: – )
DIE LINKE 69 Sitze (2013: 64), darunter 5 Wahlkreissitze (2013: 4)
GRÜNE 67 Sitze (2013: 63), darunter 1 Wahlkreissitz (2013: 1)
CSU 46 Sitze (2013: 56), darunter 46 Wahlkreissitze (2013: 45)

Eindrücke vom Wahlabend und Bemerkenswertes am Wahlergebnis:

  1. Insgesamt ein deutlicher Rechtsruck. Die neoliberal geprägten Kräfte haben nicht verloren, sondern gewonnen. Wenn man die SPD zu diesen Kräften zählt, was man nach den Erfahrungen mit der Agenda 2010 tun muss, dann bleiben auf der Seite der Kritiker dieser Entwicklung nur die 9,2 % der Linkspartei. Wenn man die SPD zur Linken rechnet, dann sind es rund 30 %.
  2. Überraschungen gab es, immer gemessen an der Vorwahlstimmung und an den veröffentlichten Umfragen:
    • Die CDU/CSU hat mehr verloren als erwartet. Insbesondere die CSU hat mit einem Minus von über 10 % deutlich abgebaut.
    • Die SPD hat es tatsächlich geschafft, sich mit 20,4 % der 20 % Grenze zu nähern. Das ist keine Überraschung.
    • Das Ergebnis der AfD mit 13 % war in den letzten Tagen erkennbar.
    • Das Ergebnis der FDP mit 10,7 % ist keine große Überraschung. Es war vorherzusehen und zeigt, welche Macht die Medien haben. Lindner und seine FDP sind hochgejubelt worden. Darauf haben wir schon vor einiger Zeit hingewiesen. Offensichtlich gibt es eine starke Identifizierung zwischen Medienmachern und den gesellschaftspolitischen und wirtschaftspolitischen Vorstellungen der FDP. Sie fördert die Gutverdiener. Das hat sich offenbar bis zu den führenden Journalisten herumgesprochen.
    • Die Linke hat mit 9,2 % leicht besser abgeschnitten als 2013. Sie leidet nach wie vor unter dem vor 27 Jahren von ihren politischen und medialen Gegnern gemachten Image: die roten Socken. Dieses Stigma wirkt immer noch und wirkt nach meiner Erfahrung weit hinein in Kreise, die man für aufgeklärt und für resistent gegen eine erkennbar geplante Propagandakampagne halten müsste.
  3. Die SPD erreicht mit 20,5 % gerade die Hälfte des Wahlergebnisses von 1998.

    Damals hatte sie mit dem Kanzlerkandidaten Schröder und dem Parteivorsitzenden Lafontaine 40,9 % erreicht und die Union überflügelt.

    Das Ergebnis von gestern liegt deutlich unter der Hälfte des bisher besten Ergebnisses von 45,8 % bei der Bundestagswahl 1972.

    Dieses katastrophale Wahlergebnis wird Folgen haben, sollte man denken. Aber offenbar funktioniert die innerparteiliche Sanktion nicht mehr. Die eigentlich selbstverständliche und von mir gestern empfohlene Konsequenz bleibt jedenfalls vorerst aus. Sie bleiben alle im Amt. Der Wahlverlierer Schulz wurde wie der Wahlverlierer Steinmeier bei der BTW 2009 gefeiert.

  4. Schulz und andere Spitzenpolitiker der SPD erklären übereinstimmend, dass die SPD die Große Koalition nicht fortsetzen werde.

    Die SPD will in die Opposition gehen. Schulz spricht davon, sie wolle ein Bollwerk für die Demokratie im Deutschen Bundestag werden. Die SPD will offensichtlich die eigentliche Oppositionskraft im deutschen Bundestag werden Wieder müssen wir damit rechnen, dass die SPD nicht erkennt, dass es jetzt darauf ankommt, die fortschrittlichen Kräfte auch im Deutschen Bundestag zu einigen. Es sieht nicht so aus, dass auch nur andeutungsweise eine bessere Zusammenarbeit mit der Linkspartei in Aussicht genommen und möglich würde. Schulz spricht sibyllinisch von der jetzt fälligen „Polarisierung der Mittelinks- und Mitterechtsparteien“. Die AfD – verständlich – und auch die Linke sollen offensichtlich aus dem demokratischen Spektrum hinauskomplimentiert werden. Das ist die Fortsetzung des Wahlkampfes und lässt nichts Gutes ahnen.

  5. In diesem Zusammenhang muss bei diesem erschreckenden Rechtsruck, den das Wahlergebnis gebracht hat, daran erinnert werden, dass es bei den letzten Wahlen immer auch die Möglichkeit gegeben hätte, Frau Merkel abzulösen und durch eine Rot-Rot-Grüne Regierungsmehrheit zu ersetzen. Die Welt könnte anders aussehen, als sie heute geworden ist.
  6. Es läuft jetzt alles auf eine Koalition zwischen CDU, CSU, FDP und Grünen hinaus. Das ist die sogenannte Jamaika-Koalition.

    Leserrinnen und Leser der NachDenkSeiten konnten in den letzten Wochen beobachten, dass wir unseren Leserinnen und Lesern nicht vermittelt haben, es sei wieder mit einer Großen Koalition zu rechnen. Wir haben sowohl den Niedergang der SPD als auch die sich jetzt abzeichnende Jamaika-Koalition als wahrscheinlich betrachtet und das auch geschrieben.

  7. Der Gesamteindruck von der Elefantenrunde von ARD und ZDF ist im Blick auf die künftige Opposition im Deutschen Bundestag recht interessant gewesen.

    Martin Schulz präsentierte sich unangenehm. Das ist angesichts des Wahldesasters vielleicht noch verzeihlich. Aber im Vergleich zum Vertreter der AfD, Meuthen, war der Auftritt bedrückend schlecht. Die Zuschauer der beiden großen öffentlich-rechtlichen Sender konnten bei dieser Präsentation des AfD- Sprechers Meuthen nicht den Eindruck gewinnen, dass Schulz mit seiner Proklamation, die eigene Partei wolle das Bollwerk für die Demokratie gegen die rechten Kräfte im Deutschen Bundestag sein, besonders Punkte machte.

    Meuthens Auftritt lässt darauf schließen, dass sich die AfD im Deutschen Bundestag zusammenreißen wird, um ihr Ergebnis von 13 % über die Runden zu retten. Ob das gelingt, ist eine andere Frage. Aber die Absicht war angesichts des moderaten Auftritts des Vertreters der AfD erkennbar.

    Jenen Menschen aus den Reihen der Lohnabhängigen, die die AfD aus Protest und in der Hoffnung auf eine sozialere Politik gewählt haben, hat Meuthen gleich mal ins Stammbuch geschrieben, welchen Charakter die von ihnen gewählte Partei hat: Als „bürgerlich konservativ freiheitlich“ kennzeichnete er die AfD. Dann mal Prost!

  8. Die Sorgen jener vielen Menschen, die wirklich Sorgen haben, und das sind viele, wurden in der Elefantenrunde nicht mit Engagement angesprochen.

    Da ging es nur um Koalitionen und wieder mal vor allem um die AfD. Die beiden Journalisten waren so mittelmäßig wie die Journalisten im Wahlkampf auch. Keine Brisanz. Es wurde nicht einmal herausgeschält, was dieses Wahlergebnis für die deutsche Außenpolitik und für die gesellschaftspolitische Orientierung der Politik in Deutschland bedeutet. Mit Merkel, Lindner und Göring-Eckardt am Kabinettstisch wird das Land gesellschaftspolitisch vermutlich weiter in Richtung Neoliberalismus verschoben – mit allen Konsequenzen für die praktische Politik, zum Beispiel für weitere Privatisierungen und den Kampf gegen die Altersarmut. (Siehe dazu auch: Es soll ja Leute geben, die von unseren Medien immer noch etwas halten. Grotesk. Einzigartig gut kann man beim Thema Rente belegen, wie sie systematisch manipulieren.)

  9. Vermutlich wird die absehbare Koalition in der wichtigen Frage unserer Abhängigkeit von den USA wie auch bei der damit verbundenen Frage des Verhältnisses zu Russland schlimmer agieren als die Große Koalition. Dort zeigte sich zumindest zuletzt bei Außenminister Gabriel ein Stück Vernunft und Friedfertigkeit gegenüber Russland, und Vernunft auch in Fragen der Sanktionen. Die Grünen Spitzenkandidaten Özdemir und Göring-Eckardt sind hingegen eingefleischte Atlantiker und Russenhasser. Das könnte sich am Kabinettstisch auswirken.
  10. Mit der Entscheidung vom gestrigen Abend, nicht mehr die Große Koalition anzustreben, ist es der SPD-Führung gelungen, den Eintritt in die Große Koalition von vor vier Jahren als Hauptfehler und großen Sündenbock darzustellen. Das ist sehr clever.

    Damit verschwinden die eigentlichen Fehler und Versäumnisse hinter dieser vordergründigen Erklärung. Die eigentlichen Fehler, daran sei erinnert, bestanden darin, dass die SPD ihr sozialdemokratisches Profil quasi in allen Bereichen aufgegeben und damit ihre Wahlchancen dezimiert hat:

    • Sie hat ihre Kompetenz in der Außenpolitik, vor allem als Motor der Verständigung zwischen West und Ost in Europa aufgegeben; damit wird das große Pfund der Entspannungspolitik verschenkt.
    • Sie hat ihr wertvolles Image als Friedenspartei schon als die treibende Kraft beim Eintritt in den Jugoslawienkrieg 1999 verschenkt und
    • sie hat die Kriege der USA und der anderen Alliierten von Libyen bis Afghanistan mitgemacht. Irak war eine Ausnahme, aber das betraf auch nur die offizielle Beteiligung und nicht die indirekte Beteiligung an diesem entsetzlichen Krieg.
    • Sie hat unter Führung von Bundeskanzler Schröder und den Finanzministern Eichel und Steinbrück mit ihrer Steuerpolitik zugunsten der oberen Einkommen und großen Unternehmen und mit der Zustimmung zu einer Mehrwertsteuererhöhung von 3 % damals schon ihr Image als Partei der Gerechtigkeit zerstört.
    • Sie hat mit der Agenda 2010 ihr sozialpolitisches Profil ins Gegenteil verkehrt.

    Jetzt eine formale und nicht politisch-inhaltliche Entscheidung, nämlich die Entscheidung für die Große Koalition, zum Sündenbock und zur Ursache ihrer Katastrophe des Absturzes auf nahezu 20 % zu machen, ist ausgesprochen clever. Das war vorbereitet. In Kreisen von Sozialdemokraten konnte man in letzter Zeit immer wieder hören, dass der Eintritt in die Große Koalition der eigentliche Fehler gewesen sei. Immer wieder wurde gejammert, dass die guten Taten der SPD in der Großen Koalition nicht sichtbar würden, dass Merkel sich all die guten Entscheidungen der SPD an den Hut gesteckt habe usw. Ich erwähne das, weil es wirklich ein wunderbares Beispiel dafür ist, wie man einen großen Teil der politischen Anhänger und auch die Öffentlichkeit in die Irre führen kann.

  11. Wirklich bemerkenswert ist die erkennbare Absicht der SPD-Führung, Andrea Nahles zur Fraktionsführerin vorzuschlagen.

    Hier sehen Sie,

    wie dann das Gesicht der SPD und des „Bollwerks für die Demokratie“ aussehen wird.

    Die SPD hat nichts gelernt, das zeigt diese Entscheidung. Es ist nicht nur der visuelle Eindruck, es ist auch das Inhaltliche, was dabei irritieren muss. Nahles steht für die Fortsetzung einer falschen Politik in einer zentralen Frage, der Altersvorsorge. Sie will mit der Förderung der Privatvorsorge, konkret mit der Förderung der privaten betrieblichen Altersvorsorge, weitermachen, statt alle Mittel auf die Stabilisierung und Verbesserung der Gesetzlichen Rente zu konzentrieren.

    Mit Frau Nahles als Fraktionsvorsitzender der „Mitte-Links-Partei“ SPD wird der Aufbau des „Bollwerks für die Demokratie“ ein „durchschlagender Erfolg“. In jeder Hinsicht.

Zum Schluss will ich mit der Wiedergabe einer Hausmitteilung des „Spiegel“ von heute sichtbar machen, welche Herkulesarbeit eigentlich vor jenen politischen Kräften liegt. “Jeder ist seines Glückes Schmied” ist offensichtlich die heute allgemeingültige Philosophie unserer Gesellschaft. Solidarität ist ein Fremdwort geworden. Welch eine große Aufgabe läge vor dem neuen Deutschen Bundestag.