Alle reden von Digitalisierung. Führen sie etwas im Schilde?

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Beachten Sie bitte ein sonderbares Phänomen und eine besondere Parallele: im Vorfeld der Agenda 2010, der Riester-Rente, der Steuersenkungen für die Spitzenverdiener und Unternehmen redeten sie alle von Globalisierung und abwechselnd vom demographischen Wandel als angeblich völlig neuen Phänomenen.

Die Beschädigung der Arbeitslosenversicherung und der Gesetzlichen Rente wurde auf diese Weise vorbereitet. Was ich damals beobachtet und in „Die Reformlüge“ als Denkfehler und Mythen beschrieben habe, erscheint wie ein Déjà vu, wenn seit einiger Zeit aus dem Mund von Spitzenpolitikern immer wieder zu hören ist, die Digitalisierung sei die größte Herausforderung unserer Zeit. Albrecht Müller.

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Merkel sieht Deutschland vor der großen Herausforderung der Digitalisierung, zum Beispiel hier.

Martin Schulz erklärte gestern, er wolle SPD-Chef bleiben, „denn die Herausforderungen der Globalisierung und der Digitalisierung seien nur europäisch zu bestehen, und Europa sei sein Thema.“ Siehe hier.

Christian Lindner fordert einen Weltmeisterplan für die Digitalisierung LINDNER-Gastbeitrag: Ein Weltmeisterplan für die Digitalisierung.

Malu Dreyer, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, sieht in der Digitalisierung die größte Herausforderung. Wegen des erweiterten Kontextes hier die entsprechende Passage aus ihrem Interview mit dem Südwestfunk vom 7.10.2017:

‚Die SPD muss nach Ansicht der rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin Malu Dreyer ihre Programmatik grundsätzlich überarbeiten. Dreyer sagte im SWR Interview der Woche, es gehe darum, “die Fragen der Zeit und der Zukunft“ zu beantworten. Das habe die SPD auch in diesem Wahlkampf “nur bruchstückhaft gemacht“. Als größte Herausforderung sieht Dreyer die Digitalisierung. Die SPD müsse überlegen, “was bedeutet eigentlich soziale Marktwirtschaft in einer Zeit (…), wo Unternehmen wie Amazon oder Google gigantische Summen an Geld verdienen, ohne dass sie sich anscheinend so verstehen wie Arbeitgeber, ohne dass sie Steuern bezahlen in unserem Land, aber damit eine riesige Marktmacht haben und gegen alle Prinzipien unserer sozialen Markwirtschaft verstoßen.“‘

Ist die Digitalisierung ein neues, geradezu umwerfendes Phänomen?

Zweifellos hat die Digitalisierung und die damit verbundene umfassende Nutzung von Computern und Robotern eine große Bedeutung. Automatisierung und Rationalisierung in den Betrieben und Verwaltungen wird damit forciert. In vielen Verwaltungen und Betrieben werden einfachere Tätigkeiten überflüssig, jedenfalls schrumpft ihre Zahl. Typisches Beispiel ist die Verwaltung einer Versicherungsgesellschaft. Die Registratur von Papieren und Schriftwechsel fällt weitgehend weg; die Vorgänge werden am Bildschirm bearbeitet; postalisch eingehende Schreiben werden gescannt; es gibt keine oder kaum mehr Boten, die die Vorgänge von einem Büro ins andere bringen. Auch andere einfachere Arbeiten sind weggefallen. Diese Veränderungen sind für manche der dort arbeitenden Menschen eine wirkliche Herausforderung und oft eine Zumutung. Wenn die Alarmsignale der Politikerinnen und Politiker diesen von Digitalisierung betroffenen Menschen gelten würden, dann wären die Alarmrufe akzeptabel.

In den Hinweisen des Tages von heute findet sich der Hinweis auf eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung. Zumindest nach dieser Untersuchung sind Roboter bislang keine Jobkiller.

Auch im privaten Bereich sind Rationalisierungen üblich und normal. Das erwähnte Buch „Die Reformlüge“ habe ich 2004 noch zur Hälfte in ein Diktiergerät diktiert und dann von einer Mitarbeiterin schreiben lassen. Alle weiteren Bücher wie auch dieser Text und die Beantwortung von E-Mails, die an die NachDenkSeiten-Redaktion geschickt werden, entstanden und entstehen mithilfe von Spracherkennung. Das ist ohne den Fortschritt im Bereich von IT nicht denkbar.

Aber an diesen Beispielen wird auch schon sichtbar, dass das Phänomen nicht neu ist und dass die Veränderungen schrittweise vollzogen worden sind und auch in Zukunft so vollzogen werden.

Damit Sie verstehen, warum die oben zitierten Äußerungen hellhörig machen, zitiere ich einschlägige Äußerungen aus den Anfangsjahren des Jahrhunderts, also aus der Zeit der propagandistischen Vorbereitung der Agenda 2010. Vier Äußerungen aus einem Rattenschwanz von ähnlichen Einlassungen von Politikern/innen nahezu aller etablierten Parteien:

„Leben im Zeichen der Globalisierung ist nicht Leben ohne Globalisierung“ – Diese tolle Feststellung stammt von Angela Merkel.

Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder sprach in seiner Rede zur Einbringung der Agenda 2010 in den Deutschen Bundestag am 14.3.2003 von „Stürmen der Globalisierung“.

Und dann am 11.2.2004 von „radikal veränderten ökonomischen Bedingungen in Deutschland, in Europa und in der Welt.“

„Es geht darum, den Sozialstaat auf die radikal veränderten Bedingungen einzustellen“ meinte Katrin Göring-Eckardt am 14.3.2003 in der Debatte um die Agenda 2010.

Warum jetzt wieder ähnliche Einlassungen, mit einem anderen Begriff und zu einem anderen Phänomen: der Digitalisierung?

Erste Erklärung: Die zitierten Politiker/innen und andere mit ähnlichen Einlassungen glauben wirklich, es handele sich bei der Digitalisierung um ein neues umwerfendes Phänomen.

Zweite Erklärung: Sie wissen es nicht besser und plappern einfach modisches Gerede nach.

Dritte Erklärung: Sie wollen uns auf eine Art Agenda 2020 vorbereiten, also auf Änderungen im Arbeitsrecht und Sozialrecht zulasten der betroffenen Arbeitnehmer.

Die Einlassung von Frau Göring-Eckardt von 2003 – siehe oben – sollte einem im Gedächtnis haften bleiben, wenn in der neuen Bundesregierung ähnliches geplant werden sollte. Es gehe darum, den Sozialstaat auf die radikal veränderten Bedingungen einzustellen. Wenn sich dieser grüne Geist in „Jamaika“ mit dem Geist des Christian Lindner paart, dann könnten die Rufe von der Digitalisierung wirkliche Warnrufe sein.