Die Demografie und die blühenden Landschaften

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Kurz vor Ende der Legislaturperiode legten Ministerien, Stiftungen und Verbände noch einmal Gutachten, Kurzgutachten und Expertisen auf den Tisch, in denen Hunderte von Projekten, zahllose Modellversuche und kaum überschaubare ausbildungs- und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen überprüft worden sind.
Zur positiven Leistungsbilanz der Großen Koalition in Berlin trägt nicht eine dieser Expertisen bei. Anmerkungen zu neuen Gutachten und Expertisen von Jutta Roitsch.

Kurz vor Toresschluss dieser Legislaturperiode in Berlin legten Ministerien, Stiftungen und Verbände noch einmal Gutachten, Kurzgutachten und Expertisen auf den Tisch, in denen Hunderte von Projekten, zahllose Modellversuche und kaum überschaubare ausbildungs- und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen überprüft worden sind: auf ihre Wirksamkeit für die einzelnen Regionen und die zukünftige Entwicklung, aber auch den einzelnen Jugendlichen, so er auf der Suche nach Ausbildung und Arbeit war. Die Friedrich Ebert-Stiftung präsentierte im Rahmen ihres Projekts „Zukunft 2020“ das Kurzgutachten „Jugendliche ohne Berufsabschluss. Handlungsempfehlungen für die berufliche Bildung“, das Joachim Gerd Ulrich und Elisabeth M. Krekel vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) in Bonn geschrieben haben. Für das Bundesverkehrsministerium evaluierte das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung das auslaufende Projekt „Region schafft Zukunft“ und legte zum „Demografischen Wandel“ einen „Politikvorschlag unter Berücksichtigung der Neuen Länder“ vor. Das Offenbacher Forschungsinstitut INBAS überprüfte schließlich für den Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband die neuen arbeitsmarktpolitischen Instrumente für arbeits- und ausbildungslose Jugendliche.

Zur positiven Leistungsbilanz der Großen Koalition in Berlin trägt nicht eine dieser Expertisen bei. Weder führte der „aufgeblähte Instrumentenkasten“ (so abfällig das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft) zu einem Abbau der Jugendarbeitslosigkeit, noch schaffte es Arbeitsminister Olaf Scholz mit seinem Ausbildungsbonus-Gesetz, so genannte jugendliche Altbewerber aus den Warteschleifen und sonstigen Maßnahmen in eine duale Ausbildung zu subventionieren. Sehr versteckt und eher beiläufig enthüllen die Bonner Forscher des BIBB in der Studie für die Ebert-Stiftung, was im offiziellen Berufsbildungsbericht der Bundesregierung 2009 nicht zu finden ist. Bis zum April dieses Jahres gingen 14 053 Anträge auf die Prämien bei der Bundesagentur ein. Vollmundig hatte Scholz in 2009 und 2010 rund 100 000 zusätzliche Ausbildungsplätze für die Jugendlichen angekündigt, die sich seit Jahren vergeblich um eine Lehrstelle bewerben und zwei bis drei Jahre lang im so genannten Übergangssystem auf eine Chance warten.

Auch das zweite Großvorhaben im Nationalen Ausbildungspakt, die „Einstiegsqualifizierung“, mit der benachteiligten Jugendlichen der Zugang zu einer betrieblichen Ausbildung eröffnet und gleichzeitig Unternehmen ermuntert werden sollten, sich dieser Gruppe mit finanzieller Unterstützung der Arbeitsverwaltung zuzuwenden, ist eher eine Großbaustelle mit Mängeln zuhauf, wie die INBAS-Expertise eingehend belegt: Zwar bietet die Wirtschaft vollmundig 40 000 Plätze, gefördert wurden jedoch nur knapp 9 400 junge Menschen (November 2008). Vom Bundesrechnungshof musste sich die Arbeitsverwaltung darüber hinaus noch vorhalten lassen, Missbrauch und Mitnahmeeffekten nicht vorgebeugt, bei den Kontrollen versagt zu haben. Ministerium und Agentur stellten sich taub.

Die Projekte und Programme zum demografischen Wandel in Deutschland untersuchte schließlich das Berlin-Institut, das sich seit Jahren als werbewirksamer, allerdings in der wissenschaftlichen Zunft umstrittener Thinktank anbietet. Dennoch erteilte Minister Wolfgang Tiefensee mit 39 000 Euro den Auftrag, präsentierte die Ergebnisse höchstselbst, um sie postwendend verschwinden zu lassen. Dieser Umgang löste größere Schlagzeilen aus als der Politikvorschlag der Autoren Andreas Weber und Reiner Klingholz. Nur mit einem offiziellen Kommentar des Auftraggebers durfte schließlich das Gutachten ins Netz gestellt werden, nicht auf der Internet-Seite des Instituts sondern des Ministeriums. An dreizehn Zeilen entzündete sich der Streit, doch diese dreizehn Zeilen über die „verlorenen Räume“, in denen die Bürger trotz des hohen Mitteleinsatzes den unaufhaltsamen Niedergang erleben, sind brisant – zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer und kurz vor den Bundestagswahlen. Das Institut ist für seine plakativen Aussagen bekannt. Jetzt formulierten die Autoren: „Es gibt Regionen, denen sowohl die motivierten Akteure fehlen, als auch die ausgebildeten, zur Innovation fähigen Bürger, Regionen, in denen nichts investiert wird und auch keine Investitionen zu erwarten sind und die darum kaum Chancen zur Entwicklung haben.“ So hart ist der Abschied von den gleichen beziehungsweise gleichwertigen Lebensverhältnissen und den blühenden Landschaften allüberall in Deutschland noch selten formuliert worden. Schon gar nicht in einem Gutachten für einen Minister, der auch für den „Aufbau Ost“ zuständig ist. Und doch enthält dieser Politikvorschlag Denkanstößen, die nicht ganz so leichtfertig formuliert worden sind wie frühere Instituts-Studien zum demografischen Wandel. In einem nachvollziehbaren Raster ordnen die Autoren die vielen Modelle und Projekte in Ost wie West ein und beurteilen sie als Lernprozesse: Nun wisse man, was sinnvoll ist und was gestrichen werden könne.

Von einem solchen Lernfortschritt sind die zuständigen Berliner Ministerien vom Verkehrs- bis zum Arbeits- und (Berufs-)Bildungsministerium noch weit entfernt. Das gilt auch für die Empfehlungen der Berufsbildungsforscher Ulrich und Krekel, die das traditionelle deutsche Ausbildungssystem gegen alle kritischen Studien (vom Nationalen Bildungsbericht eins und zwei bis zu der ebenfalls bei der Ebert-Stiftung erschienenen Studie von Martin Baethge, Heike Solga und Markus Wieck „Berufsbildung im Umbruch, Signale eines überfälligen Aufbruchs“) verteidigen. Gegen Umbruch und Aufbruch wehren sich die Autoren mit blauäugiger oder ignoranter Schlichtheit: „Spätestens nach Überwindung der aktuellen Wirtschaftskrise wird (…) die demografische Entwicklung zu einer Umkehrung der Marktverhältnisse führen“. Helles Licht leuchte von fern den benachteiligten Jugendlichen, die seit Jahr und Tag aus dem traditionellen System herausfallen, mehr schlecht als recht in dem Übergangssystem versorgt und mit immer neuen Instrumenten der Arbeitsverwaltung aus alten Programmen heraus in neue Programme hineingeschleust werden: Die Betriebe würden um sie konkurrieren, da sie „zunehmend zu einer unverzichtbaren Reserve werden“. Jetzt also noch ein, zwei Jahre lang ein bisschen Krise, die allerdings auf der kommunalen Ebene besser zu managen sei, aber dann „sind (…) die Voraussetzungen für einen raschen Abbau des Ungleichgewichts von Ausbildungsplatzangebot und –nachfrage sehr gut.“

Über allen diesen Erkenntnissen steht der Merksatz, der als eine deutliche Warnung an zu viel kreativem Management der Kommunen zu verstehen ist: „Es geht nicht nur um die Interessen und Bildungswünsche der Jugendlichen, sondern um die Wahrung institutioneller Interessen und ordnungspolitischer Positionen“. Das heißt, an der Macht und Zuständigkeit der Kammern, der Arbeitgeber und der Gewerkschaften für die berufliche Bildung sei nicht zu rütteln: Also, Hände weg von Reformen im Übergangssystem und im dualen System.

Einer Überprüfung halten diese kernigen Sätze kaum stand. Wie die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung mit ihren beiden gegensätzlichen Gutachten umgeht, wird zu beobachten sein.
Die demografische Wirklichkeit sieht anders aus: Mit dem Beginn dieses Jahrhunderts wurden Jahr für Jahr rund 700 000 Kinder (meist weniger) geboren. 2020, das ist die Zahl aus dem FES-Projekt, kommen diese Jahrgänge aus den Schulen, hoffentlich endlich alle mit viel Wissen und Können sowie einem ordentlichen Schulabschluss nach der zehnten Klasse: um sie konkurrieren dann Betriebe, gymnasiale Oberstufen, Berufsakademien, Kollegs, Fachschulen, Fachhochschulen, Universitäten. Wenn mindestens die Hälfte eines Jahrgangs mit dem Abitur in akademische Ausbildungsgänge einmünden soll (man beachte all die Wahlsprüche über den Abiturienten- und Akademikermangel sowie die geforderte Akademisierung der Erziehungs- und Gesundheitsberufe), dann bleiben für die nichtakademischen Ausbildungsberufe vom Mechatroniker bis zum Koch etwa 350 000 Jugendliche pro Jahrgang.

Die Frage, die allerdings alle Gutachten ausklammern, lautet: welche gesellschaftliche Anerkennung hat angesichts dieser demografischen Entwicklung und der politisch gewollten Akademisierung von Zukunftsberufen im Informations-, Bildungs- und Gesundheitsbereich das traditionelle deutsche Lehrlingssystem noch? Welche Chancen auf Nachwuchs haben Handwerk und Handel? Verlieren Dörfer, Kleinstädte, Stadtteile endgültig Familienbetriebe und Kleinunternehmen vom Bäcker bis zum Malermeister?

Zumindest einer der beiden Autoren der jüngsten FES-Studie weiß die Antwort. Allerdings ist sie nicht in dem Kurzgutachten zu finden, sondern in dem Forschungsjournal des Bonner Instituts. In der Nummer 3 aus 2009 schreibt Joachim Gerd Ulrich mit zwei anderen Kollegen/innen über eine Befragung von 2400 Jugendlichen (2005) und das „Image als Berufswahlkriterium“: es geht um die Demografie und die künftige Konkurrenz der Betriebe um ausbildungsorientierte Jugendliche. Diese Konkurrenz, so unterstreichen Ulrich & Co, „droht ein ungleicher Kampf zu werden“.

Anzeichen, Vorzeichen gibt es längst. Bei den Jugendlichen, selbst den seit Jahren Benachteiligten, den Hauptschülern mit und ohne Abschluss, den Schulabgängern mit schlechteren Noten haben sich Bilder verfestigt und ein klares Berufsranking. Zu den unbeliebten Berufen zählen Handwerksberufe wie Bäcker, Fleischer/Metzger, Koch, Verkäuferin im Lebensmittelhandwerk, aber auch die Restaurantfachfrau, der Systemgastronom und der Gebäudereiniger. Zu den beliebten Berufen, wenn auch mit vergleichsweise geringen Angebotszahlen (zwischen 1 100 und 32 000 bundesweit), zählen die Autoren: Tierpfleger/in, Mediengestalter, Informationselektroniker oder den Sport- und Fitnesskaumann/-frau.

Berufe sind nach wie vor „Visitenkarten für die soziale Anerkennung“ (Ulrich) und die Jugendlichen, vor allem die jungen Männer, reagieren empfindlich auf die Wahrnehmung durch Andere, die Freunde, die Lehrer, die Eltern. Nach dieser Wahrnehmung hat es im letzten Jahrzehnt einen fundamentalen Wandel des gesellschaftlichen Bewusstseins gegeben, an dem die Medien – insbesondere die Seifenopern im Vorabendprogramm – nicht unbeteiligt sind. Diese Serien, so stellte unter anderen der Nürnberger Arbeitsmarktforscher Werner Dostal bereits vor fünf Jahren fest, bieten eine „verzerrte Sicht der Berufsrealität“. Tiefer gehende Untersuchungen des Soziologen Sighard Neckel belegten die gesellschaftliche Abwertung der Berufe, die körperlich anstrengend, schmutzig und schlecht bezahlt sind, zusätzlich noch wenig Aufstiegsmöglichkeiten bieten. Anerkannte „Leistungsträger“ sind hier nicht zu finden und so ordnen Jugendliche bei der BIBB-Befragung dem Beruf des Bäckers folgende Eigenschaften zu: dumm, ungebildet, arm, anspruchslos, gering geachtet.

Auf diesen Wandel des Bewusstseins haben das Handwerk und seine Interessenverbände bis heute nicht reagiert. Zu den vielen unbesetzten Stellen, die es (vor allem in den neuen Bundesländern) bereits gibt, heißt es seit Jahren gebetsmühlenartig, die Jugendlichen seien eben nicht ausbildungswillig und ausbildungsfähig. Reagiert haben die Berufsbildungsforscher, in dem sie unbeliebten Berufen neue, schicke Namen verpassten. So wurde aus dem Schauwerbegestalter der „Gestalter/in für visuelles Marketing“ oder aus dem Radio- und Fernsehtechniker der „Informationselektroniker/in“. Nur: die Jugendlichen merken schnell, wenn es sich um Mogelpackungen handelt wie der Ansehensverlust des Systemgastronomen belegt.

Und so schließt sich der Bogen: „Die demografische Wirklichkeit ist zwar als Tatbestand akzeptiert, nicht aber als Realität, an der alles sozioökonomische Handeln gemessen werden muss“, stellen Weber und Klingholz fest. Die Politik habe zwar viel getan (wie die zahllosen Programme und Projekte beweisen), dennoch „wendet sich sehr selten etwas zum Besseren. Die Situation gleicht einer schleichenden Lähmung“.

Bei ihren Lösungen setzen sie auf aktive Einzelne, auf „Raumpioniere“, auf Initiativen, die von kleinen Gruppen ausgehen, und auf Beispiele von Österreich (lokale Energieversorgung) bis Skandinavien (mobile Lehrer, Schulzentren, Fernunterricht) und aus der DDR (Gemeindeschwester Agnes). Im Kern gehen die Lösungsvorschläge von einer Frage aus: Welches Angebot muss der Staat den Kindern und Jugendlichen machen (Bildung und Ausbildung), welches Familien und älteren Menschen (Mobilität, Gesundheit, Infrastruktur), so dass von einer verantwortlichen gesellschaftlichen Daseinsvorsorge gesprochen werden kann?

In ihren Antworten bieten die Autoren zwei Wege: den der „Sicherung der Zivilisation“ (auch in den „verlorenen Räumen“) und den der „radikalen Modernisierung“. Entfaltet werden neue Formen des Zusammenlebens, aus denen sich auch neue berufliche Qualifikationen und damit gesellschaftliche Anerkennung ergeben könnten; entfaltet wird ein Bildungssystem, das Wissen transportiert und nicht Kinder in Bussen. Bei aller Kritik an dem Rummel, den das Berliner Institut (mit tatkräftiger politischer Hilfe) zu inszenieren versteht, bietet sich hier ein spannender Auftrag zum Handeln an.

Nur: Wer aus der jetzt noch und demnächst in Berlin herrschenden politischen Klasse übernimmt ihn?